Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.02.1999, Nr. 34, S. N6
Der Choleriker liebt die Ecken
Johann Caspar Lavater und die Physiognomik: Eine bleibende Turbulenz in der Wissensordnung
"Viel schöner würde das Weib seyn, wäre schmäler der Mund", heißt es unter dem Doppelkopf, der über "weibliche und männliche Schönheit" aufklären soll. Eine hübsche Elefantendame im Profil erhält die Expertise "Mehr Stirn hat kein Thier - Übrigens das unküßbarste aller unwilden Feldthiere". Daß das Küssen, der Voyeurismus womöglich, die geheimen Triebfedern von Johann Caspar Lavaters Sammelwut waren, dafür gibt es wenig Indizien. Als er sein Bild-Archiv aus Tier- und Menschenköpfen, Mündern, Ohren und Nasen, Silhouetten und Körperhaltungen anzulegen begann, hatte ihn die eher zweifelhafte Muse der Wissenschaft geküßt. Was dabei herauskam, begrüßten Herder und Goethe zwar anfangs nachdrücklich, einem kritischen Zeitgenossen wie Lichtenberg konnte es nur Spott entlocken: auf Lavaters neue Disziplin der Physiognomik antwortete er mit einem "Fragment von Schwänzen" - Schweineschwänzen wohlgemerkt. Was die Geistesgrößen immer argwöhnischer stimmte, wurde Kult im geselligen Umgang. Das Gesicht ein Fenster der Seele, das Profil ein Abdruck der Natur, der Charakter entschlüsselt, wer hätte da nicht mittun wollen?

Besessen von der Idee einer natürlichen Körpersprache erstellte Lavater eine monumentale Bilder-Datenbank, von der sich der Großteil, über zwanzigtausend Blätter, in der Österreichischen Nationalbibliothek befindet. Noch vor ihrer ersten öffentlichen Präsentation im Mai widmete sich ihr eine Tagung des Internationalen Forschungsinstituts Kulturwissenschaften in Wien. Unter dem Titel "Physiognomische Raserei und faciale Bilderfluten" ging es um einen Brückenschlag zwischen dem achtzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert. Während die Kunsthistoriker Lavaters "Raserei" in solider Beschreibungsprosa präsentierten, brachte der Blick auf die "facialen Bilderfluten" aktuelle medien- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen ins Spiel. Thomas Macho (Berlin) sprach über das Prominentengesicht als "Markenzeichen", der Anthropologe Michael Taussig (Columbia University) fragte nach der rituellen Funktion von Maskierung und Demaskierung des Gesichts und fand Spuren davon im "öffentlichen Geheimnis" unserer Gesellschaft heute.

Lavaters "Physiognomische Fragmente" aus den Jahren 1775 bis 1779 waren mit ihren reich illustrierten vier Bänden eine der aufwendigsten Buchproduktionen des achtzehnten Jahrhunderts. Eine "Endlosschlaufe" nannte sie der Zürcher Literaturwissenschaftler Ulrich Stadtler in seinem profunden Vortrag, ein tendenziell unabschließbares zeitschriftenartiges Mammutunternehmen, dem wohl das Geld, kaum aber, das Archiv macht es anschaulich, der Stoff ausgehen konnte. Lavaters Lust zu rubrizieren und zu systematisieren folgt, so viel ließen die Beiträge von Gudrun Swoboda und Ingrid Goritschnig (Österreichische Nationalbibliothek Wien) erkennen, einem enzyklopädischen Anspruch. In gut aufklärerischer Manier sollten "Menschenkenntnis und Menschenliebe" befördert werden. Letztlich bastelt Lavater aber an dem historisch nachhaltigen Problem von Leib und Seele, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Tiefe und Oberfläche. Die Physiognomie, so hatte es programmatisch Buffons berühmte "Naturgeschichte" formuliert, gibt ein Bild der Seele. Schon Aristoteles war der Meinung, daß die Natur eines Menschen oder Tieres aus seinem Körperbau abzuleiten sei. Wenn Lavaters Physiognomik Aufschluß über das "Verhältnis des Äußern mit dem Innern" versprach, dann ging es also um ein altes Suchprogramm, das, modern gesprochen, mit einer Semiotik des Körpers den Menschen lesbar machen will. Ihr Arbeitsinstrument ist das Bild.

Unermüdlich trug der Schweizer Sammler deshalb seinen gigantischen Setzkasten aus Gesichtstypen zusammen. Einer physiognomischen Grammatik auf der Spur, verkürzte er schließlich einzelne Details so sehr, daß sie abstrakte Symbole wurden. Man könnte meinen, die geniale Erfindung der beweglichen Lettern im Buchdruck wäre mit Lavater beim Bild angelangt - Montagetechnik im Frühstadium. So flexibel seine Technik, so starr war jedoch Lavaters Charakterologie. Zudem stellte sich ein Medienproblem. Seine physiognomischen Materialien - Schattenrisse, Stiche, Zeichnungen nach Gemälden -, die er in Auftrag gab, ausschnitt oder montierte, waren doch nur "Copeyen von Copeyen von Copeyen". Das Unauffindbare eines Originals blieb für Lavater das Urbild Christus, das wiederum nur als Kopie, im Schweißtuch der Veronika, auf uns gekommen ist, aber durch alle Geschöpfe hindurchscheint.

Heterogen und einfallsreich sind die Techniken der Physiognomik, fragwürdig die Resultate, und schon gar nicht politisch korrekt. Lavater wählte aus, vermaß, isolierte und verglich; schließlich beurteilte er, was er herausgefunden hatte. Gelegentlich hat man den Eindruck, daß seine mathematischen, strukturalen und hermeneutischen Verfahren nur entdecken, was er schon weiß: "Was in dem Gesichte eines Cholerikers eckig ist, ist cholerisch". Solche Wahrnehmungen lassen sich lernen, aber man muß für dieses Metier auch begabt sein. Es ist, wie bei den Körperstudien der Maler, also auch ein genuin künstlerisches.

Ein derart widersprüchliches Archivierungsprogramm gibt tiefen Einblick in die Turbulenzen der Wissensordnungen im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, worüber die Tagung sich ausschwieg. In Cesare Lombrosos Kriminologie, in den Klassikern des Rassismus, im erkennungsdienstlichen Fahndungsphoto und in den Datenbanken des zwanzigsten Jahrhunderts setzen sich, ins Monströse oder Universalistische gewendet, solche Speicher- und Lesekonzepte fort. Ihre Aktualität behalten sie wohl auch im Comic strip. Ob und inwieweit Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas sich als Parallelaktion zum Vergleich anbietet, bedürfte einer sorgfältigeren Analyse, als sie Gerhard Wolf (Trier) auf der Tagung vortrug.

Die Tele-Gesellschaft des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts hat die Physiognomie instrumentalisiert. So haben die Nachlaßverwalter und der Gedenkfonds von Lady Diana, allerdings bisher vergeblich, den Versuch gemacht, Dianas Gesicht als Markenzeichen rechtlich zu schützen. Öffentliche Gesichter sind "Intimitätsmaschinen", die Fernanwesenheit simulieren: "Sie dürfen nicht berührt, gerochen, geküßt werden. Sie werden gesehen, aber sie sehen ihrerseits die sehenden nicht. Gesichter sind blin.d" Daß die Face-to-face-Kommunikation demgegenüber eine unentstellte Begegnung sei, verwies Macho ins Reich der Illusion. Die Kulturgeschichte erzählt von Bilderverboten, von tödlichen Götterblicken, von Spiegelabwehr, von erst endzeitlich erlaubter Begegnung "von Angesicht zu Angesicht". Während der Mythos das Tabu umkreist, erscheint in den archaischen Kulten das Gesicht als Totenmaske semiotisiert. Die "black box" des Innern, die Lavater so zu schaffen machte, erlaubt eine Doppellektüre des Gesichts - als Maske, die ein Geheimnis verbirgt, und als (Seelen-)Fenster, das Einblick verheißt.

Die Physiognomie bleibt, hier waren sich Kunsthistoriker, Medienwissenschaftler und Kulturanthropologen einig, ein anhaltend wirksames Faszinosum. Lavater hat sich mit seinem Archiv an einer Semiotik des Körpers abgearbeitet und das Gesicht mit Obsession und Skepsis betrachtet. Unwidersprochen blieb an seinem System nur eines - Elefanten küßt man nicht.

URSULA RENNER
 
Bildunterschrift: Der bedeutende Teil: Johann Caspar Lavater konnte im Notfall auch aus Nasen lesen. "Verständig und feingut" notierte er zu Bild 1, "Verständig und roh" zu Bild 2. Komplexer die achte Nase: "Etwas unnatürlich unten, doch nicht ganz dumm".

Foto ÖNB Wien
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