"Das Leiden definieren" - Spiel-Räume und Sprach-Spiele in Ilse Aichingers "Die größere Hoffnung"

 

Ursula Renner

 

Zehn Jahre nach dem Novemberpogrom, der sogenannten "Reichskristallnacht", drei Jahre nach Kriegsende, erschien mit Ilse Aichingers erstem und einzigen Roman "Die größere Hoffnung" eine der frühesten literarischen Auseinandersetzungen mit dieser schwärzesten Epoche deutsch-österreichischer Geschichte.[1] Aichingers Roman erschien im Verlag Bermann-Fischers, der damals gerade nach Wien zurückgekehrt war, im Impressum aber noch Amsterdam angab.

Der Roman ist einer der wichtigsten Gründungstexte für jenes inzwischen umfangreiche internationale Korpus der sogenannten 'Holocaust-Literatur', die sich mit der grundsätzlichen und vieldiskutierten Frage auseinanderzusetzen hatte, welche Formen der Darstellung und des Gedächtnisses gegenüber dem nationalsozialistischen Terror überhaupt literarisch angemessen

sein könnten.[2]

Aichingers Roman erzählt die Geschichte der (in der Terminologie der Nazis) 'Halbjüdin' Ellen und einer Gruppe von Kindern, die sich im Zeichen des 'gelben Sterns' und der 'falschen Großeltern' und auf der Suche nach jemandem, der für sie bürgt, gefunden haben. Die Wiener Topographie erscheint nur skizzenhaft, nicht namentlich, und die historischen Ereignisse kommen nur perspektivisch gebrochen, durch die Alltagserfahrungen der Kinder und Verhaltensweisen einzelner Figuren ins Spiel. Jedes Detail aus dem Alltag besitzt aber paradigmatischen Charakter - und so bleibt bei aller, mit Mythemen durchsetzten Surrealität des Erzählten die historische Wirklichkeit als Referent und Spur immer präsent. Diese besondere Art des Changierens zeichnet Aichingers Roman aus und gibt ihm seine besondere Stellung in der Literatur der Nachkriegsjahre.

Bevor ich zum Text selbst komme, möchte ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen dazu machen, wie ich meinen Vortrag im Rahmen des Generalthemas verorten möchte. Es geht mir um die Frage, wie Aichingers Text einerseits die Ortlosigkeit der jüdischen Kinder und andererseits deren Strategien der Sinnstiftung literarisch-poetisch vermittelt. Dieses Anliegen wiederum muß sich die Frage gefallen lassen, inwieweit diese mit vielen autobiographischen Details durchsetzte poetische Fiktion brauchbar ist für irgendeine Art historischer Erkenntnis.

Karl Heinz Bohrer hat im Spätherbst 1998 in einer umfangreichen und grundsätzlichen Stellungnahme zum Walser-Bubis-Streit folgendes geäußert:

 

            "[...] nichts charakterisiert das Missverständnis von Historikern so gut wie die bei ihnen verbreitete Annahme, die Dichter hätten es mit der Geschichte zu tun oder sollten doch mit ihr zu tun haben. [...] Ihnen entgeht die Selbstbezogenheit der poetischen inneren Zeit, die keine historische Referenz hat. / Poetische Erinnerung hat also nichts mit der Erinnerung der Historiker zu tun."[3]

Dem gegenüber möchte ich mit dem Verfahren einer exemplarischen Textarbeit B durchaus im Sinne eines literaturwissenschaftlichen close readings - zeigen, wie historische Realität in der Poetizität und Fiktion nicht aufgehoben wird, sondern sie gerade, im Gestus der Widerständigkeit aufruft und subvertiert. Dies folgt zum einen der Ideologie des Textes von Ilse Aichinger, läßt sich aber, und das ist entscheidend, am Text vorführen.

Poetisches Sprechen ist, wie jeder andere Sprechakt auch, politisch-historisch signifikant. Es bildet zusammen mit allen anderen Stimmen einer Zeit das, was die Kulturwissenschaften heute in einem sehr weiten Begriff als kulturelles Gedächtnis bezeichnen. Selbstverständlich bedeutet das nicht, damit die historische Verpflichtung, das Faktische zu analysieren, und die fiktionale Lizenz, die die Literaten haben und die Literaturwissenschaftler analysieren, zu verwechseln oder zu vermischen. Jan Assmann hat den Unterschied, der zwischen einer Differenzbestimmung, wie sie Bohrer trifft, und einem kulturwissenschaftlich konturierten Textbegriff beinahe gleichzeitig mit Bohrer und aus demselben Anlaß in ALettre International@ auf den Punkt gebracht:

 

            Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen hat [...], wo es um Erinnerung geht und nicht um historische Forschung, gar keine Bedeutung. Darin  liegt vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen Gedächtnis und Geschichte.

            Daher muß die Gedächtnisgeschichte, anders als die Geschichtsforschung, von diesem Unterschied absehen. Sie darf Erinnerungen nicht als Fiktionen belächeln, indem sie sie kritisch mit den Fakten der erforschten Vergangenheit konfrontiert. Denn diese Fiktionen sind in gedächtnisgeschichtlicher Hinsicht ihrerseits Fakten [...]. Erinnerte Vergangenheit hat einen Appellcharakter, eine 'mytho-motorische' Qualität. Sie ist Quelle von Anspruch und Orientierung, ein Fundament, aber auch eine Herausforderung für die Gegenwart und eine Schubkraft in die Zukunft.@[4]  

 

Man könnte meinen, Aichingers Roman exemplifiziert avant la lettre, was Assmann hier entwirft.

In zehn Kapiteln wird der Roman erzählt. Er beginnt im Sommer, dann kommt der Spätherbst, die Jahreszeit des Zurückweichens und Verschwindens, die Ellen, die Hauptfigur des Romans, liebt, weil der Nebel eine Ahnung des Unfaßbaren vermittelt (71). Eine Zeit, in der aber auch Menschen verschwinden. Individuell-persönlich erfahrene Zeit und historisch-­politische Zeit schließen sich dicht im metaphorischen Sprechen. Das macht das Historische nun keineswegs nebulös, sondern, die Metapher des Nebels zeigt es, sie bezeichnet gerade das Phänomen von individuell erfahrener Zeit. Keine historischen Daten und Fakten also, stattdessen Jahreszeiten und Orte, die aus verschiedenen Gründen für die Kinder Bedeutung haben oder bekommen.

Dem entspricht, daß weniger linear erzählt wird als vielmehr episodisch oder in Erzähltableaus, wie wir das beispielsweise aus der lyrischen Prosa der Jahrhundertwende kennen - von Rilkes "Malte Laurids Brigge" etwa. Jedes der Kapitel erzählt eine eigene kleine, aber stets exemplarische Geschichte aus dem nationalsozialistischen Alltag, der Angst und Leid generiert und in der es jeweils darum geht, wie Ellen mit ihren Freunden einen - im Wortsinn - 'Spielraum' des Möglichen in den Zwischenräumen der Macht sucht. Man könnte die Struktur des Textes sternförmig nennen (der Stern ist das zentrale Zeichen des Textes, ein wahrhaft poyvalenter Signifikant).

Ilse Aichingers eigene bündige Formulierung im Rückblick, daß es ihr in diesem Roman darum gegangen sei, 'das Leiden zu definieren', überrascht. Sind nicht Definitionen mit allgemeingültigem Anspruch Sache der exakten Wissenschaften? Jener Welt, die nach unpersönlichen Formulierungen strebt, nach Objektivität, nach Sachlichkeit. Und sind nicht gerade die auf Kalkül gebauten Zwänge, das auf Schließen (und Ausschließen) gründende Denken und das Herrschaftswissen Mitverursacher jenes Systems, das Aichingers Roman von der Seite der Opfer verhandelt? Dieselbe Tendenz zum Paradoxalen, die die Metaphorik des Romans kennzeichnet, gilt auch für diese Selbstaussage im Rückblick von fünfzig Jahren. Sie gibt Anlaß darüber nachzudenken, was denn wohl im Kontext dieser Kindergeschichte 'Definition' meinen könnte?

Ich glaube, es handelt sich hier um die sehr grundsätzliche Frage, wie persönliche Erfahrungen überhaupt kommuniziert und folglich dem kulturellen Gedächtnis einverleibt werden können, also um die beiden Leitfragen nach Darstellung und Schreibprogramm. Leiden oder Schmerzen sind innere Erfahrungen, die sich eben nicht so präzise und verallgemeinerbar in Sprache fassen lassen, wie die Begriffssprache der (Natur-)Wissenschaften behauptet. Denn es gibt schlechterdings nicht die Möglichkeit - das ist man wieder beim Intersubjektivitätsproblem angelangt - sich die Haut eines anderen überzustülpen und das Gefühl des anderen zu fühlen.[5] Wie also kann man persönliche innere Erfahrungen gestalten, daß sie - im Wortsinne - 'unter die Haut gehen'?

Die Gestaltpsychologie hat hierzu einige schöne Kommentare gemacht:

            "Innere Vorgänge können, wenngleich auch sie sich eine Art Vokabular schaffen, nicht so genau benannt werden, denn sie werden keiner Korrektur unterzogen. Ein Kind lernt zu sagen: 'Es tut weh', auch wenn nichts zu sehen ist, woran ein anderer den Schmerz erkennen und benennen könnte. Hier rührt die Fähigkeit, etwas ganz Persönliches in gängiger Sprache auszudrücken, von früheren Erlebnissen des Kindes her, von Stürzen, Stößen, Schrammen etwa, als dann eine besorgte Person gesagt hat: 'Es tut weh, nicht wahr?' Man kann nun aber nicht sagen: 'Hier, fühl mal meine Kopfschmerzen!' Außerdem kann man solche inneren Empfindungen, da sie ja gut verborgen sind, wenn nötig herunterspielen oder übertreiben, ohne fürchten zu müssen, daß die Täuschung entdeckt wird.

            Erfahrungen werden meist in metaphorischen Ausdrücken berichtet, und ihre wirksame Vermittlung gehört von jeher ins Reich der Poesie und Dichtung. Auch ein Kind hat sicher diese Fähigkeit, solange seine Sprache noch nicht durch die Konvention kastriert ist. Ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter einen heißen Weg entlangging, verkündete: 'Ich mag den Schatten lieber. Die Sonne ist so laut in meinem Bauch.'"[6]

Dieser letzte Satz, den der Gestaltpsychologe Frederick Perls zitiert, könnte auch in Ilse Aichingers Roman stehen. Er trifft eine zentrale Frage ihrer kunstvollen Prosa: wie ist persönliche Erfahrung, im besonderen 'des Leidens' oder des Schmerzes, darstellbar? Die Antwort - mit Perls: In einer Sprache, die nicht "durch die Konvention kastriert" ist. Aichingers Text zielt auf jene Präzision des Definitorischen, die das von Perls zitierte metaphorische Sprechen des Kindes auszeichnet und die eine historische, psychologische oder erkenntnistheoretische Begrifflichkeit nicht einholen kann. 

An ein paar wenigen Beispielen möchte ich im folgenden vorführen, wie dies im Text funktioniert, und man kann Aichingers Gratwanderung dabei erkennen, die vielleicht auch erklärt, warum ihr Roman im Grunde kein Modell geworden, sondern ein Einzelgänger geblieben ist, wie beinahe alles, was Ilse Aichinger geschrieben hat. Und warum der Begriff der 'Identität' für sie nicht greift, und der der 'Fremdheit', wie wir sehen werden, auch nicht, weil mit ihr nach Aichinger jeder Mensch geschlagen ist und also sich mit ihm keine brauchbaren Unterscheidungen konstruieren lassen.[7]

Der Roman beginnt mit Suchanordnungen. Ellen sucht ein Visum zu bekommen, die Kinder suchen ein Kind zu retten, um ihre falschen, sprich jüdischen Großeltern zu kompensieren - Ellen gehört nicht ganz dazu, weil sie nur zwei (statt vier) falsche Großeltern hat -, gesucht werden Möglichkeiten, Helfer, Rat. Immer ist es der falsche Ort, die falsche Zeit, zu spät, nicht mehr möglich, vorüber, dazwischen. Immer wird eine Hoffnung zunichte. Während die äußeren Möglichkeiten abnehmen, wächst Ellen ein innerer Frei-Raum zu, der eine Kraft des Visionären generiert. "Die große Hoffnung" des ersten Kapitels mündet, das wäre der Gesamtbogen des Romans, in eine "größere Hoffnung" am Schluß, die nicht mehr von dieser Welt ist. So ist das Ende paradox: Die "Größere Hoffnung" ist nur um den Preis des Todes zu haben. Ellen wird am Ende von einer Granate zerrissen. Für den Untergang steht im Text das Symbol des Abendsterns (der nach Sonnenuntergang am Westhimmel erscheint), während der Morgenstern (vor Sonnenaufgang am Osthimmel) im Untergang gerade das Moment einer Agrößeren Hoffnung@ repräsentiert. Kosmologisch-astronomisch bezeichnen sie den einen Planeten, Venus, der durch seine besondere Helligkeit auffällt. Der Text ignoriert den astronomischen Diskurs und arbeitet mit Differenzen, die die Alltagssprache aus der Anschauung gewonnen hat. Für den Text gewonnen werden so zwei Signifikanten, die auf die inklusive Opposition von Untergang und größerer Hoffnung weisen. Im Bildzeichen des Sterns, das wie ein Sprachgitter über dem Text liegt, wird so etwas vom Verfahren der Semiose transparent, d.h. kann die poetische Sprache ihren Spiel-Raum sichtbar machen und behaupten.

Die Darstellungsmodi, die den Erzählgestus des Romans bestimmen, sind vielfältig. Da sind zum einen Situationen, die als dramatische Szenarien gestaltet sind - etwa Ellens Vorsprechen im Konsulat, um ein Visum zu erhalten. Da sind Szenen, die surreal aufgebrochen sind, indem die bedrängende Alltagssituation von einer Semantik des Märchens überblendet ist, wie umgekehrt, den Spielen, Träumen und Geschichten der Kinder die Semantik der politischen Realität eingeschrieben ist. Das Aufbrechen realistischer Darstellung geschieht des weiteren durch sprachliche Verfahren wie Allegorisierung und Personifikation (oder etwa die rhetorische Figur der Prosopopoiie, bei der Dinge oder Naturphänomene sprechen, wie beispielsweise der mit den Kindern solidarische Hai). Poetisierung geschieht aber auch durch historische oder fiktionale Figuren (wie im Kapitel vom "heiligen Land", wo der liebe Augustin,[8] Columbus und König David mit auf die Flucht gehen wollen). Sie geschieht durch Sentenzen im Ton von Weissagungen, Sprüchen und Prophezeihungen, aber auch durch scheinbar absurde Umkehrungen von sozialen Kommunikationsmustern, wie im achten, dem AFlügeltraum@-Kapitel, wo die Verfolgte Verfolgerin wird und der Verhörer von der Verhörten belehrt wird.

Träume haben einen Status, der der Wirklichkeit nicht nachgeordnet ist, sondern ihr in nichts nachsteht, womöglich überlegen ist. Auf jeden Fall erscheint die Hegemonie, die allgemein für die äußere Realität behauptet wird, durch die Hellsichtigkeit der Träume höchst zweifelhaft. Und auch die Phantasien und Spiele der Kinder bearbeiten, verwandeln und 'übersetzen' die Wirklichkeit, was heißt, sie reduzieren ihre Komplexität und konturieren sie dadurch gerade schärfer.

Die Poetisierung der Welt bedeutet nicht im geringsten Harmonisierung oder Nivellierung, sondern ist ganz im Gegenteil Wider-Setzung. Sie vollzieht sich sowohl auf der Ebene der erzählten Geschichte, als auch auf der Ebene der Sprache - durch das Verhalten der Figuren, durch ihre Sprechakte sowie das sich einmischende Sprechen der Erzählerinstanz und insbesondere durch das schon zitierte Hantieren mit tropischen Figuren, Wortspielen, Vergleichen. Sie bewirken eine Animation der Welt, und ihr Medium ist die Phantasie, das Erzählen und das Spiel.

So fragt eines der Kinder beim Spielen auf dem Friedhof - dem einzigen Ort, an dem sie das 'öffentlich' noch dürfen - beschäftigt mit der Überlegung, wie die Toten dazu bewegt werden könnten, für die Kinder zu bürgen, damit sie "den großen Nachweis", d.h. ein Visum bekommen:

            "Wie holen wir die Toten ein? Wie stellen wir die zur Rede? Wo weisen sie uns nach?

            Ist es nicht dort, wo die Nähe fern und die Ferne nah, ist es nicht dort, wo alles blau    wird? Die Straße immer weiter, die Felder entlang zwischen Furcht und Frucht?" (40)

Die Animation geschieht dadurch, daß die Kinder ganz selbstverständlich die Toten als Adressaten in ihre Überlegungen einbeziehen. Der Sprechakt des Fragens bezeichnet Suche und Ratlosigkeit, das chiastische Paradox (ANähe fern...Ferne nah@) die Hoffnungen der Kinder und zugleich das Utopische ihrer Wünsche, wobei die Dringlichkeit des Wunsches rhetorisch die Wiederholungsfigur der figura etymologica  (nah - Nähe; fern - Ferne) markiert. Und schließlich ist die Beschreibung des Weges zu diesem "dort" als eine Alliteration gebaut, (Felder/Furcht/Frucht) und als ein Wortspiel: die Umstellung nur eines Buchstabens (Metathese) macht aus der Furcht der Kinder die Frucht, das, was sie dort, im imaginären Heiligen Land erwarten B Orangen nämlich. So wäre der Weg, den sie einschlagen müssen dorthin, als ein Wechselbad aus Angst und hoffnungsvollen Kindererwartungen im Medium von fünf knappen Fragen B Signifikanten der Unsicherheit, der Angst und des glühenden Wunsches -  sprachlich repräsentiert. Daß den Sätzen das Verb abhanden gekommen ist, könnte gelesen werden als Hinweis, daß es nur eine Möglichkeit ist, nicht aber mehr im Bereich selbsttätiger Handlungen liegt B ein Konstrukt somit im Reich der Wünsche ist.

'Das Heilige Land', das die Kinder suchen, liegt überall dort, wo Grenzen imaginativ überschritten werden: die Grenze der Gewalt, der politischen Macht, der pragmatischen und opportunistischen Handlungen. Das Heilige Land ist überall dort, wo ein Transzendierungsgeschehen sich ereignet und die Welt verwandelt - und das heißt sinnhaft wird. Immer dort, wo Trennungen aufgehoben erscheinen, wo die Schärfe der Differenz, die unterscheidet, hierarchisiert, kategorisiert, ausschließt, zum Schwinden gebracht wird, sind Transzendierungen - Übersetzungen im Wortsinn - im Spiel und erhalten als Hoffnung und Sinn Kontur und Gestalt.[9]

Ich möchte das wiederum konkret an einer Textpassage zeigen. Es handelt sich um das vierte Kapitel AIm Dienste einer fremden Macht@, in dem die Kinder, die bei einem alten Weisen Englischunterricht nehmen, von einer Truppe jugendlicher Nazis überfallen werden und der alte Lehrer, der sie schützen will, schwer verletzt wird:

            "In der Mitte der Gasse lag auf dem grauen Pflaster ein offenes Schulheft, ein Vokabelheft für Englisch. Ein Kind mußte es verloren haben, Sturm blätterte es auf. Als der erste Tropfen fiel, fiel er auf den roten Strich. Und der rote Strich in der Mitte des Blattes trat über die Ufer.  Entsetzt floh der Sinn aus den Worten zu seinen beiden Seiten und rief nach einem Fährmann: Übersetz mich, übersetz mich!

            Doch der rote Strich schwoll und schwoll und es wurde klar, daß er die Farbe des Blutes hatte.  Der Sinn war immer schon in Gefahr gewesen, nun aber drohte er zu ertrinken, und die Worte blieben wie kleine verlassene Häuser steil und steif und sinnlos zu beiden Seiten des roten Flusses. Es regnete in Strömen, und noch immer irrte der Sinn rufend an den Ufern. Schon stieg die Flut bis zu seiner Mitte. Übersetzt mich, übersetzt mich!" (56)

Es ist Herberts Heft, von dem hier geredet wird. Er hat es aus seiner kaputten Tasche verloren. Es bringt die Hitlerjungen, einen gesichtslosen Schlägertrupp, auf die Spur der Kinder. 

Der Verlust des Heftes setzt bei den Kindern ein Gespräch in Gang über den Sinn, eine fremde Sprache zu lernen; erwartet sie doch die Deportation und hatten sie eigentlich das Deutsche verlernen wollen. In den Disput tönen die letzten Sätze des Radiosprechers, der seine Meldungen mit dem Hinweis beendet: "Wer fremde Sender hört, ist ein Verräter, wer fremde Sender hört, verdient den Tod." Dagegen setzt nun der alte Lehrer seinen Widerspruch:

            "'Wer könnte den Tod verdienen?', sagte der alte Mann. 'Wer verdient das Leben?' [...] 'Wer von euch ist kein Fremder? Juden, Deutsche, Amerikaner, fremd sind wir alle hier. Wir können sagen 'Guten Morgen' oder 'Es wird hell', 'Wie geht es Ihnen?', 'Ein Gewitter kommt', und das ist alles, was wir sagen können, fast alles. Nur gebrochen sprechen wir unsere Sprache. Und ihr wollt das Deutsche verlernen? Ich helfe euch nicht dazu. Aber ich helfe euch, es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht.' [...]

            'Übersetzen, über einen wilden, tiefen Fluß setzen, und in diesem Augenblick sieht man das Ufer nicht. Übersetzt trotzdem die Welt. An allen Ufern irrt der verstoßene Sinn: Übersetz mich, übersetz mich! Helft ihm, bringt ihn hinüber! Weshalb lernt man Englisch? Warum habt ihr nicht früher gefragt?'" (63)[10]

Beide Passagen bringen den für Aichingers Poetologie wichtigen Begriff des 'Übersetzens' ins Spiel. Sie führen vor, wie Realität durch das poetische Sprechen verwandelt und zugleich autopoietisch reflektiert wird. Durch die Transformation in eine kleine phantastische Geschichte wächst der konkreten Alltagssituation des verlorenen Vokabelhefts und des Englischlernens in Zeiten des Krieges, Sinn zu. Darüber hinaus wird hier eine Allegorie konstruiert über die Funktion von Phantasie, Spiel und Poesie in aussichtsloser Gegenwart. Die Realität wird Aübersetzt@, der Strich wird Fluß, der über die Ufer tritt; der 'Sinn' - ein abstractum - wird anthropomorphisiert und erhält eine Stimme. So zeigt sich auf der manifesten Erzählebene wie auch auf der metaphorischen, wie SINN konstruiert wird. Durch die einzelnen Worte wie 'Blut' wird die Geschichte kontextualisiert und wieder an die historische Realität zurückgebunden; es sind die Nazi-Schläger, die das Blut zum Fließen bringen. Überblendet ist das Ganze durch Mytheme. Das Bild vom Fährmann läßt den Fluß zum Todeszeichen werden (Lethe/Styx). Später wird die Sintflut ausdrücklich in diesem Zusammenhang genannt: als nämlich der Alte zusammengeschlagen wird, heißt es: "Sintflut ergoß sich über das Chaos. An allen Ufern irrt der verstoßene Sinn. [...] Noah selbst, die wunde Katze im Arm, starrte schweigend über das Gewühl. [...] Um der Kinder willen verließ Noah die Arche." (66)

"Übersetzen" dagegen ist Schöpfungsakt und Akt einer Sinnstiftung.[11] Es ist eine Art von Geheimsprache, die so funktioniert, wie das Lesen von Literatur funktioniert: als ein aufmerksames, gerichtetes Hinschauen und Hinhören. Und in diesem Akt der Zuwendung, der ein Sich-Öffnen für das Unerwartete ist, wird die Welt groß und der einzelne frei. 

             "'Ja', antwortete der Alte, das ist es: Geheimsprache. Chinesisch und hebräisch, was die Pappeln sagen und die Fische verschweigen, deutsch und englisch, leben und sterben, es ist alles geheim.'

            ,Und der fremde Sender?'

            Jeder von euch hört ihn, wenn er still genug ist', sagte der Alte. Fangt die Wellen ab!'"(68)

Gegen das Verbot der Nazis, die Sprache des Feindes zu lernen und fremde Sender zu hören, hält der alte Mann seine Weisheitslehren. 1. Eine lebensdienlich-pragmatische: Das Übersetzen macht das Fremde vertraut und bringt das Fremde der vertrauten eigenen Sprache zum Vorschein. 2. Eine lebensdienlich-semiotische: Die Welt ist voll mit fremden Sprachen, Geheimsprachen: Die Botschaften des fremden Senders können überall und von jedem empfangen werden, wenn er still genug ist; wenn er fähig ist, sich zu versenken, aufmerksam zu sein, seinen Wahrnehmungen zu trauen. Wenn er sich nicht stumpf machen läßt durch die mächtigen, subjektlosen Redeordnungen der Diskurse.

Diese Aktivität der selbstbestimmten Codierung von Wahrnehmungen, das Sinnstiften in Zeichenbildungsprozessen, scheint mir ein geheimes Thema des Romans zu sein. Aichinger teilt allerdings nicht die bewertungsfreie Abstinenz, die sich die moderne Semiotik auferlegt hat. D.h. sie besteht auf den moralischen Differenzen im Prozeß von Zeichenbildung, etwa zwischen einer politischen Symbolik, bei der der Stern für menschenverachtende Brandmarkungen benutzt wird, und der symbolischen Codierung eines natürlichen Zeichens, wie es beispielsweise die drei Weisen aus dem Morgenland mit dem Stern tun, oder wenn die Welt im privaten Sternencode eines kleinen Mädchens bedeutsam oder bedrohlich wird, oder wenn eine Gruppe von Kindern im Spiel die Welt entdeckt und umgekehrt die Welt mit ihrem Spiel humanisiert. Der Roman entwirft und reflektiert mit seinem symbolischen Netzwerk ein Spektrum von semiotischen Prozeduren zwischen einer strategisch und manipulativ eingesetzten politischen Symbolbildung bis hin zu einer positiven, gestaltbildenden Semiose, wie sie die Kinder treiben. An diesen, auf der Ebene der Sprache stattfindenden Prozeduren werden Bündnisse und Gegnerschaften deutlich, und sie sind mitnichten unentschieden und diffus, sondern ganz klar, wie Definitionen.

 

Abschließend möchte ich das eingangs genannte Fragedoppel nach Darstellung und Poetologie des Textes im Zusammenhang des vielzitierten - und ich denke in der Tat zentralen B siebten Kapitels vom Tod der Großmutter noch einmal engführen.

Was unser medienroutinierter Sprachgebrauch als Selbstmord der Großmutter, bei dem die Enkelin Sterbehilfe leistet, zusammenfassen würde, entwirft der Roman in der 'dichten Beschreibung' einer Nacht, in der die Welt Ereignis wird. Es ist eine Nacht der Nächte, allerdings anders, als sie die großen mythischen Geburts-, Liebes­- und Todesnächte erzählen. Dennoch hat diese Nacht etwas von allen dreien.

Die Großmutter hat Gift versteckt, findet das Röhrchen aber nicht mehr. Sie will sich den entwürdigenden Prozeduren von Festnahme und Deportation entziehen, mit denen sie stündlich rechnet. Nach einem Hin und Her der Argumente, die nichts fruchten, bittet Ellen die Großmutter, eine Geschichte zu erzählen, überzeugt, daß, wer Geschichten erzählt, leben will und lebt. Unter der Übermacht der realen Bedrohung ist eben dies aber der Großmutter unmöglich geworden. Stattdessen findet Ellen das Gift, und nach einem buchstäblichem Zweikampf hat jeder die Hälfte in der Hand:[12] "Und nur der Inhalt beider Fäuste konnte dem Tod genügen, diesem übermütigen Schwarzhändler, der erst billig ist, wo er verflucht, und unerschwinglich wird, wo er ersehnt ist." (116)

Dieser Chiasmus (billig B verflucht / unerschwinglich - ersehnt), der die Un-Figur des Todes bezeichnet, bildet zugleich metaphorisch-figurativ das Sich-Überkreuz-Sein, den Konflikt von Großmutter und Enkelin ab. Erst in der Auflösung dieser komplexen Figur, das heißt, nur im Auflösen des Dissens von Enkelin und Großmutter kann der Selbstmord geschehen und der Tod eingeholt werden. So finden die beiden schließlich einen Kompromiß, daß wenn die Großmutter Ellen eine Geschichte erzählt, sie im Tausch von Ellen das Gift bekommt: "Während Ellen eine Geschichte verlangt, verlangte sie von der Großmutter und inmitten einer schwarzen, gefährlichen Nacht die Bereitschaft zu leben. /  Entweder also findet sie [die Großmutter] die Geschichte, dann will sie nicht mehr sterben nachher. Oder sie findet sie nicht, dann verliert sie die Wette und das Gift gehört mir." (118)

Aber über dem "Es war einmal...", zu dem die Großmutter keine Fortsetzung mehr findet, über ihrem Suchen und Nicht-Finden der Geschichte, schläft sie ein, und in einem trotzigen Impuls beschließt Ellen, selbst eine Geschichte zu erzählen. Was sie erzählt, ist die Geschichte von Rotkäppchen, aber es wird eine moderne Rotkäppchen-Geschichte, ihre eigene:

"'Es war einmal eine Mutter', begann Ellen und zog nachdenklich die Stirne hoch, 'in Amerika'. Dort arbeitete sie als Kellnerin. Diese Mutter hatte große Sehnsucht. Und die Sehnsucht war rot.' Ellen verstummte und sah herausfordernd um sich, aber da war niemand, der sie aufmunterte, und niemand, der ihr widersprach. Mit leiser Stimme sprach sie weiter." (119)

Hier zeigt sich der andere Modus des Erzählens gegenüber den Anforderungen der Realität: niemand korrigiert. Das hatte, wie eingangs erwähnt, Perls als Voraussetzung für die Gestaltung von persönlichen Gefühlen vorausgesetzt, und eben dies gilt auch für Geschichten. Aber mehr noch, Geschichten fassen zusammen, was geschehen ist, indem sie Vorgefallenes oder Erlebtes gliedern; Einzelheiten, Wahrgenommenes, Gefühle werden in einen Rahmen gebracht. AAnziehendes und Bedrängendes kommt deutlich zum Vorschein in Gut und Böse, Freund und Feind. So geben Geschichten Orientierung und Belehrung, aber diskret, anders als Gesetze und Gebote. Deren Vorschriften normieren ein Verhalten unter allen Umständen B Geschichten referieren ein Verhalten unter besonderen Umständen. Das macht aus ihnen ein wichtiges Verständigungsmittel, vielleicht das schönste." So Heinrich Bosse im Anschluß an Brigitte Kronauer.[13]

Das bedeutet, das Geschichtenerzählen ist, anders als das Verhalten in der Realität, auf besondere Weise selbstbestimmt. Deshalb ermöglicht es auch selbst- und nicht fremdbestimmte Antworten auf brennende Lebensfragen. Man merkt deutlich, wie Ellens Rotkäppchen-Märchen die Fragen einkreist, um die es in dieser Nacht auf Leben und Tod geht: "Aber Großmutter, was hast du für dicke Lippen? - Daß ich es besser schlucken kann! - Das Gift? Meinst du das Gift, Großmutter?" (121)

Noch bevor Ellen entschieden hat, ob sie der Großmutter nachgeben soll, läßt sie ihr eigenes Erzählen den Satz finden, der sie entscheidungs- und handlungsfähig machen wird. Sie weiß nun: "Groß bist du Großmutter, der Wolf kann dich nicht verschlingen!" (123) Mit anderen Worten, im Erzählen der Geschichte hat Ellen die unantastbare Würde in dem Entschluß der Großmutter entdeckt.[14] Sie willigt also ein, gibt der Großmutter das Gift:

            "Das Hemd der Großmutter war zerrissen, die Decke abgeworfen. [...]

            'Großmutter, was suchst du? Großmutter, willst du leben?.'

            Durch eine kleine Bewegung lockerte sich der Draht der Bettlampe. Das Licht ging aus.          Noch einmal zuckte der Kopf der Sterbenden vor der nahenden Finsternis zurück, der       Körper bäumte sich auf. Ellen sprang, sie packte das halbleere Glas. Drei Schluck    fehlten. Und sie goß den Rest des Wassers über die weiße eckige Stirne, über Hals und Brust in die steifen Kissen, und sie sagte mitten in das letzte einsame Röcheln: Großmutter, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen           Geistes, Amen.'

            Die Nacht sank dem Tag in die Arme." (127f.)

Wie in einer russischen Puppe birgt diese Geschichte eine Reihe von anderen Geschichten: Zunächst ist da die Geschichte der Großmutter, in deren Wunsch zu sterben Ellen schließlich einstimmt, ein Liebesbeweis, der erst gefunden werden kann, nachdem Ellen ihre Geschichte erzählt hat. Darin enthalten ist eine zweite Geschichte, die von Würde handelt und die Wahrung der inneren Autonomie in einer Situation der äußeren Aberkennung und Beraubung.[15] In die Geschichte eingebettet ist des weiteren die eines - tief schmerzlichen - ­Rollenwechsels zwischen den Generationen. Und zwar in doppelter Hinsicht: Ellen übernimmt die Rolle des Erzählens, ein traditum der Großmutter (Rollenwechsel bedeutet hier B in einem an einer existentiellen Grenze angesiedelten actus tradendi - daß die Jüngere von der Älteren etwas übernimmt). Ellen und die Großmutter tauschen aber auch regelrecht Rollen, wenn die Großmutter im Initiationsritus des Taufaktes zum Kind und Ellen zum Bürgen wird. Und zwar in dem Sinne, wie es Franz Rosenzweig im "Stern der Erlösung" ausdrücklich sagt, daß die Taufe für die Erlösung "bürgt". D.h. Ellen verbürgt sich in diesem sakramentalen nächtlichen Taufakt für die Erlösung der Großmutter.[16] Und indem sie der Todesnacht, die man wohl auch eine Geburts- und Liebesnacht nennen muß, auf diese Weise eine Gestalt gibt, translociert sie den Schmerz, ohne das Ereignis in irgendeiner Weise zu glätten oder zu harmonisieren.

Diese Sterbe- und Erlösungsgeschichte ruft auf und 'überschreibt' zugleich eine andere Erlösungsgeschichte, die keine Gestalt gewonnen hatte und unabgeschlossen geblieben war: Nämlich die der Kinder, welche am Beginn des Romans sich auf die Suche begeben hatten nach jemandem, der sich für sie 'verbürgt', um sie von ihrem Leid zu erlösen.

Taufe und Erlösung, wie überhaupt die vielen Bilder aus dem Bereich des Sakralen im Roman, dürfen nun aber nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß wir es hier mit einem religiösen Text zu tun hätten, jedenfalls nicht im Sinne einer jüdischen oder christlichen Dogmatik. Die meisten der religiös konnotierten Bilder oder Wendungen stehen in individuell gestalteten rituellen Kontexten und erhalten als sykretistische 'Privatmythen' ihre lebensgeschichtliche Funktion. So inszeniert Ellen die nächtliche Taufe der Großmutter - der ja die kirchlicherseits sündige Einnahme des Giftes vorausgeht - mit jenem tiefen Ernst und zugleich einer Freiheit, die sich nicht dem System der Kirche, sondern den Phantasien des Kinderspiels verdanken. Denn wo, wenn nicht dort, ist es rituell erlaubt und glaubhaft möglich, Weihwasser durch Gift zu ersetzen?

Hier nun zeigt die Geschichte eine Komponente der Selbstreflexion, vielleicht mehr noch der Meditation über die Funktion der Phantasie, des Spielens und des Erzählens von Geschichten als Form selbstbestimmter Sinnstiftung. Geschichten bergen das Potential einer Widerständigkeit gegen die Zumutungen der Realgeschichte, gegen die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun.[17]

Der so bitter-lakonische Schlußsatz des Kapitels, der ganz abrupt das Thema zu wechseln scheint, indem er das Schicksal des kleinen Deserteurs zur Sprache bringt, von dem Ellen in der Todesnacht träumt - "In dieser Nacht war ein kleiner, verzweifelter Deserteur gegen zwei Uhr heimgekommen und am Morgen verhaftet worden" (127f.) - belegt eindrücklich, wie dicht Aichingers Text komponiert ist. Der Traum, den Ellen in dieser Todesnacht träumt, handelt von einem armen frierenden und hungrigen Deserteur, der nach Hause will, aber kein Zuhause mehr findet. Jetzt nun erfahren wir, wiederum ohne Rücksicht auf Grenzen von Traum und Wirklichkeit, die Fortsetzung der Geschichte, deren Ende wir ohne Mühe selbst fortschreiben können.

Was hier, scheinbar so unvermittelt, wie ein Postskriptum der Geschichte vom Tod der Großmutter nachgestellt ist, lese ich als eine Parallelgeschichte zu deren Tod und als eine Reflexion über das Thema der Freiheit: Beide, Großmutter wie Deserteur, übergeben sich dem Tod, indem sie sich freiwillig entziehen. Im selbstgewählten Gegenhalten gegen die Zumutungen der Realität behalten sie ihre Würde. Denn obwohl ihr Untergang feststeht, haben sie auf einer Wahl und einer eigenen Entscheidung bestanden, statt sich den Mördern bzw. dem zwangsweisen Töten-Müssen im Kriegsgeschehen zu überlassen. Deserteur und Großmutter sind Leidensgenossen.

Hier ist das Leiden definiert, denke ich, und das Festhalten an einer Autonomie, das, was man wohl auch Agrössere Hoffnung@ nennen kann.


        [1] Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung. 61.-66.Tsd. Frankfurt 1989 (im folgenden Seitenzahlen nach dem Zitat).

        [2] Dazu grundsätzlich James E. Young: Beschreiben des Holocaust (1988). Frankfurt a.M. 1997. Zu Aichingers Roman seien hier nur stellvertretend zwei neuere Arbeiten (mit umfangreichen Bibliographien zum Stand der aktuellen Forschung) genannt: Nicole Rosenberger: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung". Wien 1998, und Barbara Thums: "Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede". Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers. Freiburg 2000.

        [3] Karl Heinz Bohrer: Schuldkultur oder Schamkultur. Und der Verlust an historischem Gedächtnis. In: NZZ (Internationale Ausgabe) 12./13. Dezember 1998, S. 51. Die Gegenposition, der ich selbst zuneige, vertritt James E. Young: Die Beschreibung des Holocaust (s. insbesondere die Einleitung). 

    [4] Jan Assmann: Der Schleier der Isis. Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes. In: Lettre International 50, Winter =98, S. 50-53, 50f.

    [5] In gewisser Weise berührt sich die besondere Form des Erzählens im Roman mit dem hoch aktuellen, grundlegenden Problem, das Geistes- und Naturwissenschaften gegenwärtig verhandeln, daß nämlich die zu erklärenden Phänomene individuellen Erlebens, so der Neurologe Wolf Singer, "nur aus der Ersten-Person-Perspektive erfahrbar [sind]. Wahrnehmungen, Gefühle und Intentionen hat man, ihre Wirklichkeit erschließt sich nur aus eigenem Erleben. Sie sind ihrem Wesen nach subjektive Entitäten. Die Beschreibung der zugrunde liegenden neuronalen Prozesse hingegen erfolgt aus der Dritten-Person-Perspektive. Wie diese beiden Beschreibungssysteme aufeinander bezogen werden können, wie Leib und Seele sich zueinander verhalten, das eine aus dem anderen hervorgeht - das ist die große epistemologische Frage. [...] [S]icher aber ist, daß jedwede Annäherung der beiden Beschreibungssysteme - und diese scheint unvermeidlich - zu tiefgreifenden Veränderungen unseres Selbstverständnisses führen wird." Wolf Singer: Ignorabimus? - Ignoramus. In: FAZ, 23.9.2000, S. 52. Zu Phänomen des Schmerzes vgl. Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt a.M. 1992.

        [6] Frederick S. Perls, Ralph F. Hefferline und Paul Goodman: Gestalttherapie. Praxis. (Gestalt Therapy.

Excitement and Growth in the Human Personality; 1951). 3. Aufl. München 1995, S. 43.

 

    [7] Das Tagungsthema der katholischen Akademie, auf der dieser Vortrag gehalten wurde, lautete "'Fremde und Identität' - Jüdische Autorinnen und Autoren im 20. Jahrhundert".

    [8] Vgl. zu dieser Wiener Figur auch Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 39.

    [9] Vgl. dazu den Prosatext AHilfsstelle@: "[...] vielleicht wären manche von uns fortgegangen aus diesem Raum, der sich unsere Welt, unser Leben nannte, wäre nicht der blitzende Streifen gewesen, der uns das Licht hinter dem Vorhang bewies, die Möglichkeit der anderen Existenz, der Wärme, der Geborgenheit, des Spiels. Des sinnvollen und unaufhebbaren Augenblicks." Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt a.M. 1991, S. 28. 

 

        [10] Vgl. dazu Aichingers autobiographischen Text "Der 1. September 1939": "Englisch zu lernen wurde übrigens auch später, als die Hoffnungen, die an diesem Tag zu schwanken begannen, endgültig einstürzten, und gerade bei solchen, die so schwarz sahen, daß sie recht behielten, zu einer Art Disziplin, die bis vor die Türen der KZs und der Gaskammern anhielt. Viele haben auf diese Weise, von Ein- und Ausreisegenehmigungen, gut dotierten Bürgschaften und Arbeitsbewilligungen unabhängig, die Grenzen gesprengt und die Länder, die ihnen keine Zuflucht boten oder bieten konnten, als Zuflucht erfahren. Auch mir kam es am 1. September 1939 nicht sinnlos vor, eine Szene aus 'Lady Windermeres Fächer' zu übersetzen, weniger sinnlos jedenfalls als so oft an den alten regulären Schultagen." Dies: Kleist, Moos, Fasane, S. 23-27, 24.

    [11] Vgl. dazu Maurice Blanchot: „Der jüdische Mensch ist der Hebräer, wenn er der Mensch der Anfänge ist; der Anfang ist eine Entscheidung; diese Entscheidung ist die Abrahams, der sich von dem trennt, was ist, und sich als Fremder erklärt, um einer fremden Wahrheit zu entsprechen. Der Hebräer geht von einer Welt B der bestehenden Welt der Sumer  - in eine Welt, die ,noch nicht Welt> ist und die dennoch das Irdische ist; als Fährmann fordert uns der Hebräer Abraham nicht nur dazu auf, von einem Ufer zum anderen hinüberzuwechseln, sondern uns überall dorthin zu begeben, wo ein Übergang zu vollziehen ist, und dieses Zwischen-zwei-Ufern aufrechtzuerhalten, das die Wahrheit des Übergangs ist. Dem muß hinzugefügt werden, daß dieses Memorial des Ursprungs, das aus einer so ehrwürdigen Vergangenheit zu uns kommt, von Geheimnis umhüllt ist, aber nichts Mythisches hat: Abraham ist durch und durch ein Mensch, er ist ein Mensch, der weggeht und durch diesen ersten Weggang das menschliche Recht auf Anfang begründet, die einzige wahre Schöpfung. Ein Anfang, der an jeden von uns weitergegeben, übertragen wird, der aber, indem er sich entfaltet, seine Einfachheit verliert.“ Ders.: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz. München 1991, S. 185f. (mit Referenz auf André Naher: L’existence juive. Paris 1962).

    [12] Der Text scheint hier - in Form einer Inversion - an die antike Semantik des 'Symbol'-Begriffs zu erinnern. Ursprünglich bezeichnet  griech. symballo (die zwei getrennten Hälften zusammenlegen) "die auseinandergebrochenen Teile eines Ringes, Stabes, Täfelchens o.ä., die durch Zusammenfügen zum Ganzen, zur 'Gestalt', als Erkennungszeichen dienen, die früher geschlossene Gastfreundschaft, die wirkliche Beauftragung des Boten, den Abschluß eines Vertrages zwischen zwei Kontrahenten o.ä. greifbar" zu machen. Rupert Berger: Kleines liturgisches Wörterbuch der Liturgie. Freiburg/Basel/Wien 1969, S. 426. 

    [13] Vgl. Brigitte Kronauer: Ist Literatur unvermeidlich? Warum ich schreibe. In: Neue Zürcher Zeitung 49, 28.2/1.3.1998, Beilage Literatur und Kunst, und Heinrich Bosse: Geschichten. In: Ders./ Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg 1999, S. 299.

    [14] Ich bin hier anderer Meinung als Wendelin Schmidt-Dengler, der das Märchen vom Rotkäppchen wie folgt deutet: „Das Märchen vom Rotkäppchen funktioniert nicht mehr. Zwischen die Zeilen des 'Urtextes' drängt sich die eigene Erfahrung [...] Dieses neue Rotkäppchen kann der Großmutter keine Gabe bringen: Die Gabe wäre das Gift, das sie ihr mit so viel Mühe zu entziehen versucht hatte. Die Mechanik der Erzählung, der Zwang des Stoffes führt dazu, daß Ellen der Großmutter das Gift geben muß. Erzählen bedeutet nicht Erlösung, sondern Einlösung eines Musters, dessen Konsequenz, wie in diesem Falle, tödlich sein kann.“ Ders.: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945-1990. Salzburg und Wien 1995, S. 46.

    [15] Diese Suche nach Autonomie würde ich, statt des Begriffs der Identität (s.o.), für Ilse Aichingers Texte in Dienst nehmen wollen.

    [16] Vgl. Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung (1921). 5. Aufl. Frankfurt a.M. 1996, S. 416: "Das ist der wunderliche Doppelsinn der Taufe: sie wird vollzogen am Einzelnen, am Neugeborenen, am Anfang des Lebens, und verbürgt ihm, dem Unmündigen des Lebens, die Vollendung des Lebens, die Erlösung."

 

    [17] Heute geht Ilse Aichinger viel weiter und würde sagen, gegen die Zumutungen der Biologie, des Lebens überhaupt. Obwohl sie ja kaum mehr Geschichten erzählt oder findet.