"Das Leiden definieren" - Spiel-Räume und Sprach-Spiele in Ilse Aichingers "Die größere Hoffnung"
Ursula Renner
Zehn
Jahre nach dem Novemberpogrom, der sogenannten "Reichskristallnacht",
drei Jahre nach Kriegsende, erschien mit Ilse Aichingers erstem und einzigen
Roman "Die größere Hoffnung" eine der frühesten literarischen
Auseinandersetzungen mit dieser schwärzesten Epoche deutsch-österreichischer
Geschichte.[1]
Aichingers Roman erschien im Verlag Bermann-Fischers, der damals gerade nach
Wien zurückgekehrt war, im Impressum aber noch Amsterdam angab.
Der
Roman ist einer der wichtigsten Gründungstexte für jenes inzwischen
umfangreiche internationale Korpus der sogenannten 'Holocaust-Literatur', die
sich mit der grundsätzlichen und vieldiskutierten Frage auseinanderzusetzen
hatte, welche Formen der Darstellung und des Gedächtnisses gegenüber dem
nationalsozialistischen Terror überhaupt literarisch angemessen
sein
könnten.[2]
Aichingers
Roman erzählt die Geschichte der (in der Terminologie der Nazis) 'Halbjüdin'
Ellen und einer Gruppe von Kindern, die sich im Zeichen des 'gelben Sterns' und
der 'falschen Großeltern' und auf der Suche nach jemandem, der für sie bürgt,
gefunden haben. Die Wiener Topographie erscheint nur skizzenhaft, nicht
namentlich, und die historischen Ereignisse kommen nur perspektivisch gebrochen,
durch die Alltagserfahrungen der Kinder und Verhaltensweisen einzelner Figuren
ins Spiel. Jedes Detail aus dem Alltag besitzt aber paradigmatischen Charakter -
und so bleibt bei aller, mit Mythemen durchsetzten Surrealität des Erzählten
die historische Wirklichkeit als Referent und Spur immer präsent. Diese
besondere Art des Changierens zeichnet Aichingers Roman aus und gibt ihm seine
besondere Stellung in der Literatur der Nachkriegsjahre.
Bevor
ich zum Text selbst komme, möchte ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen dazu
machen, wie ich meinen Vortrag im Rahmen des Generalthemas verorten möchte. Es
geht mir um die Frage, wie Aichingers Text einerseits die Ortlosigkeit der jüdischen
Kinder und andererseits deren Strategien der Sinnstiftung literarisch-poetisch
vermittelt. Dieses Anliegen wiederum muß sich die Frage gefallen lassen,
inwieweit diese mit vielen autobiographischen Details durchsetzte poetische
Fiktion brauchbar ist für irgendeine Art historischer Erkenntnis.
Karl
Heinz Bohrer hat im Spätherbst 1998 in einer umfangreichen und grundsätzlichen
Stellungnahme zum Walser-Bubis-Streit folgendes geäußert:
"[...]
nichts charakterisiert das Missverständnis von Historikern so gut wie die bei
ihnen verbreitete Annahme, die Dichter hätten es mit der Geschichte zu tun oder
sollten doch mit ihr zu tun haben. [...] Ihnen entgeht die Selbstbezogenheit der
poetischen inneren Zeit, die keine historische Referenz hat. / Poetische
Erinnerung hat also nichts mit der Erinnerung der Historiker zu tun."[3]
Dem
gegenüber möchte ich mit dem Verfahren einer exemplarischen Textarbeit B
durchaus im Sinne eines literaturwissenschaftlichen close readings -
zeigen, wie historische Realität in der Poetizität und Fiktion nicht
aufgehoben wird, sondern sie gerade, im Gestus der Widerständigkeit aufruft und
subvertiert. Dies folgt zum einen der Ideologie des Textes von Ilse Aichinger, läßt
sich aber, und das ist entscheidend, am Text vorführen.
Poetisches
Sprechen ist, wie jeder andere Sprechakt auch, politisch-historisch signifikant.
Es bildet zusammen mit allen anderen Stimmen einer Zeit das, was die
Kulturwissenschaften heute in einem sehr weiten Begriff als kulturelles Gedächtnis
bezeichnen. Selbstverständlich bedeutet das nicht, damit die historische
Verpflichtung, das Faktische zu analysieren, und die fiktionale Lizenz,
die die Literaten haben und die Literaturwissenschaftler analysieren, zu
verwechseln oder zu vermischen. Jan Assmann hat den Unterschied, der zwischen
einer Differenzbestimmung, wie sie Bohrer trifft, und einem
kulturwissenschaftlich konturierten Textbegriff beinahe gleichzeitig mit Bohrer
und aus demselben Anlaß in ALettre
International@ auf
den Punkt gebracht:
Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen hat [...], wo es um
Erinnerung geht und nicht um historische Forschung, gar keine Bedeutung. Darin liegt vielleicht der wichtigste Unterschied zwischen Gedächtnis
und Geschichte.
Daher muß die Gedächtnisgeschichte, anders als die Geschichtsforschung,
von diesem Unterschied absehen. Sie darf Erinnerungen nicht als Fiktionen belächeln,
indem sie sie kritisch mit den Fakten der erforschten Vergangenheit
konfrontiert. Denn diese Fiktionen sind in gedächtnisgeschichtlicher Hinsicht
ihrerseits Fakten [...]. Erinnerte Vergangenheit hat einen Appellcharakter, eine
'mytho-motorische' Qualität. Sie ist Quelle von Anspruch und Orientierung, ein
Fundament, aber auch eine Herausforderung für die Gegenwart und eine Schubkraft
in die Zukunft.@[4]
Man
könnte meinen, Aichingers Roman exemplifiziert avant la lettre, was Assmann
hier entwirft.
In
zehn Kapiteln wird der Roman erzählt. Er beginnt im Sommer, dann kommt der Spätherbst,
die Jahreszeit des Zurückweichens und Verschwindens, die Ellen, die Hauptfigur
des Romans, liebt, weil der Nebel eine Ahnung des Unfaßbaren vermittelt (71).
Eine Zeit, in der aber auch Menschen verschwinden. Individuell-persönlich
erfahrene Zeit und historisch-politische Zeit schließen sich dicht im
metaphorischen Sprechen. Das macht das Historische nun keineswegs nebulös,
sondern, die Metapher des Nebels zeigt es, sie bezeichnet gerade das Phänomen
von individuell erfahrener Zeit. Keine historischen Daten und Fakten also,
stattdessen Jahreszeiten und Orte, die aus verschiedenen Gründen für die
Kinder Bedeutung haben oder bekommen.
Dem
entspricht, daß weniger linear erzählt wird als vielmehr episodisch oder in
Erzähltableaus, wie wir das beispielsweise aus der lyrischen Prosa der
Jahrhundertwende kennen - von Rilkes "Malte Laurids Brigge" etwa.
Jedes der Kapitel erzählt eine eigene kleine, aber stets exemplarische
Geschichte aus dem nationalsozialistischen Alltag, der Angst und Leid generiert
und in der es jeweils darum geht, wie Ellen mit ihren Freunden einen - im
Wortsinn - 'Spielraum' des Möglichen in den Zwischenräumen der Macht sucht.
Man könnte die Struktur des Textes sternförmig nennen (der Stern ist das
zentrale Zeichen des Textes, ein wahrhaft poyvalenter Signifikant).
Ilse
Aichingers eigene bündige Formulierung im Rückblick, daß es ihr in diesem
Roman darum gegangen sei, 'das Leiden zu definieren', überrascht. Sind nicht
Definitionen mit allgemeingültigem Anspruch Sache der exakten Wissenschaften?
Jener Welt, die nach unpersönlichen Formulierungen strebt, nach Objektivität,
nach Sachlichkeit. Und sind nicht gerade die auf Kalkül gebauten Zwänge, das
auf Schließen (und Ausschließen) gründende Denken und das Herrschaftswissen
Mitverursacher jenes Systems, das Aichingers Roman von der Seite der Opfer
verhandelt? Dieselbe Tendenz zum Paradoxalen, die die Metaphorik des Romans
kennzeichnet, gilt auch für diese Selbstaussage im Rückblick von fünfzig
Jahren. Sie gibt Anlaß darüber nachzudenken, was denn wohl im Kontext dieser
Kindergeschichte 'Definition' meinen könnte?
Ich
glaube, es handelt sich hier um die sehr grundsätzliche Frage, wie persönliche
Erfahrungen überhaupt kommuniziert und folglich dem kulturellen Gedächtnis
einverleibt werden können, also um die beiden Leitfragen nach Darstellung und
Schreibprogramm. Leiden oder Schmerzen sind innere Erfahrungen, die sich eben
nicht so präzise und verallgemeinerbar in Sprache fassen lassen, wie die
Begriffssprache der (Natur-)Wissenschaften behauptet. Denn es gibt
schlechterdings nicht die Möglichkeit - das ist man wieder beim
Intersubjektivitätsproblem angelangt - sich die Haut eines anderen überzustülpen
und das Gefühl des anderen zu fühlen.[5]
Wie also kann man persönliche innere Erfahrungen gestalten, daß sie - im
Wortsinne - 'unter die Haut gehen'?
Die
Gestaltpsychologie hat hierzu einige schöne Kommentare gemacht:
"Innere Vorgänge können, wenngleich auch sie sich eine Art
Vokabular schaffen, nicht so genau benannt werden, denn sie werden keiner
Korrektur unterzogen. Ein Kind lernt zu sagen: 'Es tut weh', auch wenn nichts zu
sehen ist, woran ein anderer den Schmerz erkennen und benennen könnte. Hier rührt
die Fähigkeit, etwas ganz Persönliches in gängiger Sprache auszudrücken, von
früheren Erlebnissen des Kindes her, von Stürzen, Stößen, Schrammen etwa,
als dann eine besorgte Person gesagt hat: 'Es tut weh, nicht wahr?' Man kann nun
aber nicht sagen: 'Hier, fühl mal meine Kopfschmerzen!' Außerdem kann man
solche inneren Empfindungen, da sie ja gut verborgen sind, wenn nötig
herunterspielen oder übertreiben, ohne fürchten zu müssen, daß die Täuschung
entdeckt wird.
Erfahrungen werden meist in metaphorischen Ausdrücken berichtet, und
ihre wirksame Vermittlung gehört von jeher ins Reich der Poesie und Dichtung.
Auch ein Kind hat sicher diese Fähigkeit, solange seine Sprache noch nicht
durch die Konvention kastriert ist. Ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter
einen heißen Weg entlangging, verkündete: 'Ich mag den Schatten lieber. Die
Sonne ist so laut in meinem Bauch.'"[6]
Dieser
letzte Satz, den der Gestaltpsychologe Frederick Perls zitiert, könnte auch in
Ilse Aichingers Roman stehen. Er trifft eine zentrale Frage ihrer kunstvollen
Prosa: wie ist persönliche Erfahrung, im besonderen 'des Leidens' oder des
Schmerzes, darstellbar? Die Antwort - mit Perls: In einer Sprache, die nicht
"durch die Konvention kastriert" ist. Aichingers Text zielt auf jene
Präzision des Definitorischen, die das von Perls zitierte metaphorische
Sprechen des Kindes auszeichnet und die eine historische, psychologische oder
erkenntnistheoretische Begrifflichkeit nicht einholen kann.
An
ein paar wenigen Beispielen möchte ich im folgenden vorführen, wie dies im
Text funktioniert, und man kann Aichingers Gratwanderung dabei erkennen, die
vielleicht auch erklärt, warum ihr Roman im Grunde kein Modell geworden,
sondern ein Einzelgänger geblieben ist, wie beinahe alles, was Ilse Aichinger
geschrieben hat. Und warum der Begriff der 'Identität' für sie nicht greift,
und der der 'Fremdheit', wie wir sehen werden, auch nicht, weil mit ihr nach
Aichinger jeder Mensch geschlagen ist und also sich mit ihm keine brauchbaren
Unterscheidungen konstruieren lassen.[7]
Der
Roman beginnt mit Suchanordnungen. Ellen sucht ein Visum zu bekommen, die Kinder
suchen ein Kind zu retten, um ihre falschen, sprich jüdischen Großeltern zu
kompensieren - Ellen gehört nicht ganz dazu, weil sie nur zwei (statt vier)
falsche Großeltern hat -, gesucht werden Möglichkeiten, Helfer, Rat. Immer ist
es der falsche Ort, die falsche Zeit, zu spät, nicht mehr möglich, vorüber,
dazwischen. Immer wird eine Hoffnung zunichte. Während die äußeren Möglichkeiten
abnehmen, wächst Ellen ein innerer Frei-Raum zu, der eine Kraft des Visionären
generiert. "Die große Hoffnung" des ersten Kapitels mündet, das wäre
der Gesamtbogen des Romans, in eine "größere Hoffnung" am Schluß,
die nicht mehr von dieser Welt ist. So ist das Ende paradox: Die "Größere
Hoffnung" ist nur um den Preis des Todes zu haben. Ellen wird am Ende von
einer Granate zerrissen. Für den Untergang steht im Text das Symbol des
Abendsterns (der nach Sonnenuntergang am Westhimmel erscheint), während der
Morgenstern (vor Sonnenaufgang am Osthimmel) im Untergang gerade das Moment
einer Agrößeren
Hoffnung@ repräsentiert.
Kosmologisch-astronomisch bezeichnen sie den einen Planeten, Venus, der durch
seine besondere Helligkeit auffällt. Der Text ignoriert den astronomischen
Diskurs und arbeitet mit Differenzen, die die Alltagssprache aus der Anschauung
gewonnen hat. Für den Text gewonnen werden so zwei Signifikanten, die auf die
inklusive Opposition von Untergang und größerer Hoffnung weisen. Im
Bildzeichen des Sterns, das wie ein Sprachgitter über dem Text liegt, wird so
etwas vom Verfahren der Semiose transparent, d.h. kann die poetische Sprache
ihren Spiel-Raum sichtbar machen und behaupten.
Die
Darstellungsmodi, die den Erzählgestus des Romans bestimmen, sind vielfältig.
Da sind zum einen Situationen, die als dramatische Szenarien gestaltet sind -
etwa Ellens Vorsprechen im Konsulat, um ein Visum zu erhalten. Da sind Szenen,
die surreal aufgebrochen sind, indem die bedrängende Alltagssituation von einer
Semantik des Märchens überblendet ist, wie umgekehrt, den Spielen, Träumen
und Geschichten der Kinder die Semantik der politischen Realität eingeschrieben
ist. Das Aufbrechen realistischer Darstellung geschieht des weiteren durch
sprachliche Verfahren wie Allegorisierung und Personifikation (oder etwa die
rhetorische Figur der Prosopopoiie, bei der Dinge oder Naturphänomene sprechen,
wie beispielsweise der mit den Kindern solidarische Hai). Poetisierung geschieht
aber auch durch historische oder fiktionale Figuren (wie im Kapitel vom
"heiligen Land", wo der liebe Augustin,[8]
Columbus und König David mit auf die Flucht gehen wollen). Sie geschieht durch
Sentenzen im Ton von Weissagungen, Sprüchen und Prophezeihungen, aber auch
durch scheinbar absurde Umkehrungen von sozialen Kommunikationsmustern, wie im
achten, dem AFlügeltraum@-Kapitel,
wo die Verfolgte Verfolgerin wird und der Verhörer von der Verhörten belehrt
wird.
Träume
haben einen Status, der der Wirklichkeit nicht nachgeordnet ist, sondern ihr in
nichts nachsteht, womöglich überlegen ist. Auf jeden Fall erscheint die
Hegemonie, die allgemein für die äußere Realität behauptet wird, durch die
Hellsichtigkeit der Träume höchst zweifelhaft. Und auch die Phantasien und
Spiele der Kinder bearbeiten, verwandeln und 'übersetzen' die Wirklichkeit, was
heißt, sie reduzieren ihre Komplexität und konturieren sie dadurch gerade schärfer.
Die
Poetisierung der Welt bedeutet nicht im geringsten Harmonisierung oder
Nivellierung, sondern ist ganz im Gegenteil Wider-Setzung. Sie vollzieht sich
sowohl auf der Ebene der erzählten Geschichte, als auch auf der Ebene der
Sprache - durch das Verhalten der Figuren, durch ihre Sprechakte sowie das sich
einmischende Sprechen der Erzählerinstanz und insbesondere durch das schon
zitierte Hantieren mit tropischen Figuren, Wortspielen, Vergleichen. Sie
bewirken eine Animation der Welt, und ihr Medium ist die Phantasie, das Erzählen
und das Spiel.
So
fragt eines der Kinder beim Spielen auf dem Friedhof - dem einzigen Ort, an dem
sie das 'öffentlich' noch dürfen - beschäftigt mit der Überlegung, wie die
Toten dazu bewegt werden könnten, für die Kinder zu bürgen, damit sie
"den großen Nachweis", d.h. ein Visum bekommen:
"Wie holen wir die Toten ein? Wie stellen wir die zur Rede? Wo
weisen sie uns nach?
Ist es nicht dort, wo die Nähe fern und die Ferne nah, ist es nicht
dort, wo alles blau wird? Die
Straße immer weiter, die Felder entlang zwischen Furcht und Frucht?" (40)
Die
Animation geschieht dadurch, daß die Kinder ganz selbstverständlich die Toten
als Adressaten in ihre Überlegungen einbeziehen. Der Sprechakt des Fragens
bezeichnet Suche und Ratlosigkeit, das chiastische Paradox (ANähe
fern...Ferne nah@)
die Hoffnungen der Kinder und zugleich das Utopische ihrer Wünsche, wobei die
Dringlichkeit des Wunsches rhetorisch die Wiederholungsfigur der figura
etymologica (nah - Nähe; fern - Ferne) markiert. Und schließlich ist
die Beschreibung des Weges zu diesem "dort" als eine Alliteration
gebaut, (Felder/Furcht/Frucht) und als ein Wortspiel: die
Umstellung nur eines Buchstabens (Metathese) macht aus der Furcht der
Kinder die Frucht, das, was sie dort, im imaginären Heiligen Land
erwarten B Orangen nämlich.
So wäre der Weg, den sie einschlagen müssen dorthin, als ein Wechselbad aus
Angst und hoffnungsvollen Kindererwartungen im Medium von fünf knappen Fragen B
Signifikanten der Unsicherheit, der Angst und des glühenden Wunsches -
sprachlich repräsentiert. Daß den Sätzen das Verb abhanden gekommen
ist, könnte gelesen werden als Hinweis, daß es nur eine Möglichkeit ist,
nicht aber mehr im Bereich selbsttätiger Handlungen liegt B
ein Konstrukt somit im Reich der Wünsche ist.
'Das
Heilige Land', das die Kinder suchen, liegt überall dort, wo Grenzen imaginativ
überschritten werden: die Grenze der Gewalt, der politischen Macht, der
pragmatischen und opportunistischen Handlungen. Das Heilige Land ist überall
dort, wo ein Transzendierungsgeschehen sich ereignet und die Welt verwandelt -
und das heißt sinnhaft wird. Immer dort, wo Trennungen aufgehoben erscheinen,
wo die Schärfe der Differenz, die unterscheidet, hierarchisiert, kategorisiert,
ausschließt, zum Schwinden gebracht wird, sind Transzendierungen - Übersetzungen
im Wortsinn - im Spiel und erhalten als Hoffnung und Sinn Kontur und Gestalt.[9]
Ich
möchte das wiederum konkret an einer Textpassage zeigen. Es handelt sich um das
vierte Kapitel AIm
Dienste einer fremden Macht@,
in dem die Kinder, die bei einem alten Weisen Englischunterricht nehmen, von
einer Truppe jugendlicher Nazis überfallen werden und der alte Lehrer, der sie
schützen will, schwer verletzt wird:
"In der Mitte der Gasse lag auf dem grauen Pflaster ein offenes
Schulheft, ein Vokabelheft für Englisch. Ein Kind mußte es verloren haben,
Sturm blätterte es auf. Als der erste Tropfen fiel, fiel er auf den roten
Strich. Und der rote Strich in der Mitte des Blattes trat über die Ufer.
Entsetzt floh der Sinn aus den Worten zu seinen beiden Seiten und rief
nach einem Fährmann: Übersetz mich, übersetz mich!
Doch der rote Strich schwoll und schwoll und es wurde klar, daß er die
Farbe des Blutes hatte. Der Sinn
war immer schon in Gefahr gewesen, nun aber drohte er zu ertrinken, und die
Worte blieben wie kleine verlassene Häuser steil und steif und sinnlos zu
beiden Seiten des roten Flusses. Es regnete in Strömen, und noch immer irrte
der Sinn rufend an den Ufern. Schon stieg die Flut bis zu seiner Mitte. Übersetzt
mich, übersetzt mich!" (56)
Es
ist Herberts Heft, von dem hier geredet wird. Er hat es aus seiner kaputten
Tasche verloren. Es bringt die Hitlerjungen, einen gesichtslosen Schlägertrupp,
auf die Spur der Kinder.
Der
Verlust des Heftes setzt bei den Kindern ein Gespräch in Gang über den Sinn,
eine fremde Sprache zu lernen; erwartet sie doch die Deportation und hatten sie
eigentlich das Deutsche verlernen wollen. In den Disput tönen die letzten Sätze
des Radiosprechers, der seine Meldungen mit dem Hinweis beendet: "Wer
fremde Sender hört, ist ein Verräter, wer fremde Sender hört, verdient den
Tod." Dagegen setzt nun der alte Lehrer seinen Widerspruch:
"'Wer könnte den Tod verdienen?', sagte der alte Mann. 'Wer
verdient das Leben?' [...] 'Wer von euch ist kein Fremder? Juden, Deutsche,
Amerikaner, fremd sind wir alle hier. Wir können sagen 'Guten Morgen' oder 'Es
wird hell', 'Wie geht es Ihnen?', 'Ein Gewitter kommt', und das ist alles, was
wir sagen können, fast alles. Nur gebrochen sprechen wir unsere Sprache. Und
ihr wollt das Deutsche verlernen? Ich helfe euch nicht dazu. Aber ich helfe
euch, es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig,
behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder
weitergeht.' [...]
'Übersetzen, über einen wilden, tiefen Fluß setzen, und in diesem
Augenblick sieht man das Ufer nicht. Übersetzt trotzdem die Welt. An allen
Ufern irrt der verstoßene Sinn: Übersetz mich, übersetz mich! Helft ihm,
bringt ihn hinüber! Weshalb lernt man Englisch? Warum habt ihr nicht früher
gefragt?'" (63)[10]
Beide
Passagen bringen den für Aichingers Poetologie wichtigen Begriff des 'Übersetzens'
ins Spiel. Sie führen vor, wie Realität durch das poetische Sprechen
verwandelt und zugleich autopoietisch reflektiert wird. Durch die Transformation
in eine kleine phantastische Geschichte wächst der konkreten Alltagssituation
des verlorenen Vokabelhefts und des Englischlernens in Zeiten des Krieges, Sinn
zu. Darüber hinaus wird hier eine Allegorie konstruiert über die Funktion von
Phantasie, Spiel und Poesie in aussichtsloser Gegenwart. Die Realität wird Aübersetzt@,
der Strich wird Fluß, der über die Ufer tritt; der 'Sinn' - ein abstractum
- wird anthropomorphisiert und erhält eine Stimme. So zeigt sich auf der
manifesten Erzählebene wie auch auf der metaphorischen, wie SINN konstruiert
wird. Durch die einzelnen Worte wie 'Blut' wird die Geschichte kontextualisiert
und wieder an die historische Realität zurückgebunden; es sind die Nazi-Schläger,
die das Blut zum Fließen bringen. Überblendet ist das Ganze durch Mytheme. Das
Bild vom Fährmann läßt den Fluß zum Todeszeichen werden (Lethe/Styx). Später
wird die Sintflut ausdrücklich in diesem Zusammenhang genannt: als nämlich der
Alte zusammengeschlagen wird, heißt es: "Sintflut ergoß sich über das
Chaos. An allen Ufern irrt der verstoßene Sinn. [...] Noah selbst, die wunde
Katze im Arm, starrte schweigend über das Gewühl. [...] Um der Kinder willen
verließ Noah die Arche." (66)
"Übersetzen"
dagegen ist Schöpfungsakt und Akt einer Sinnstiftung.[11]
Es ist eine Art von Geheimsprache, die so funktioniert, wie das Lesen von
Literatur funktioniert: als ein aufmerksames, gerichtetes Hinschauen und Hinhören.
Und in diesem Akt der Zuwendung, der ein Sich-Öffnen für das Unerwartete ist,
wird die Welt groß und der einzelne frei.
"'Ja', antwortete der Alte, das ist es: Geheimsprache.
Chinesisch und hebräisch, was die Pappeln sagen und die Fische verschweigen,
deutsch und englisch, leben und sterben, es ist alles geheim.'
,Und der fremde Sender?'
Jeder von euch hört ihn, wenn er still genug ist', sagte der Alte. Fangt
die Wellen ab!'"(68)
Gegen
das Verbot der Nazis, die Sprache des Feindes zu lernen und fremde Sender zu hören,
hält der alte Mann seine Weisheitslehren. 1. Eine lebensdienlich-pragmatische:
Das Übersetzen macht das Fremde vertraut und bringt das Fremde der vertrauten
eigenen Sprache zum Vorschein. 2. Eine lebensdienlich-semiotische: Die Welt ist
voll mit fremden Sprachen, Geheimsprachen: Die Botschaften des fremden Senders können
überall und von jedem empfangen werden, wenn er still genug ist; wenn er fähig
ist, sich zu versenken, aufmerksam zu sein, seinen Wahrnehmungen zu trauen. Wenn
er sich nicht stumpf machen läßt durch die mächtigen, subjektlosen
Redeordnungen der Diskurse.
Diese
Aktivität der selbstbestimmten Codierung von Wahrnehmungen, das Sinnstiften in
Zeichenbildungsprozessen, scheint mir ein geheimes Thema des Romans zu sein.
Aichinger teilt allerdings nicht die bewertungsfreie Abstinenz, die sich die
moderne Semiotik auferlegt hat. D.h. sie besteht auf den moralischen Differenzen
im Prozeß von Zeichenbildung, etwa zwischen einer politischen Symbolik, bei der
der Stern für menschenverachtende Brandmarkungen benutzt wird, und der
symbolischen Codierung eines natürlichen Zeichens, wie es beispielsweise die
drei Weisen aus dem Morgenland mit dem Stern tun, oder wenn die Welt im privaten
Sternencode eines kleinen Mädchens bedeutsam oder bedrohlich wird, oder wenn
eine Gruppe von Kindern im Spiel die Welt entdeckt und umgekehrt die Welt mit
ihrem Spiel humanisiert. Der Roman entwirft und reflektiert mit seinem
symbolischen Netzwerk ein Spektrum von semiotischen Prozeduren zwischen einer
strategisch und manipulativ eingesetzten politischen Symbolbildung bis hin zu
einer positiven, gestaltbildenden Semiose, wie sie die Kinder treiben. An
diesen, auf der Ebene der Sprache stattfindenden Prozeduren werden Bündnisse
und Gegnerschaften deutlich, und sie sind mitnichten unentschieden und diffus,
sondern ganz klar, wie Definitionen.
Abschließend
möchte ich das eingangs genannte Fragedoppel nach Darstellung und Poetologie
des Textes im Zusammenhang des vielzitierten - und ich denke in der Tat
zentralen B siebten
Kapitels vom Tod der Großmutter noch einmal engführen.
Was
unser medienroutinierter Sprachgebrauch als Selbstmord der Großmutter, bei dem
die Enkelin Sterbehilfe leistet, zusammenfassen würde, entwirft der Roman in
der 'dichten Beschreibung' einer Nacht, in der die Welt Ereignis wird. Es ist
eine Nacht der Nächte, allerdings anders, als sie die großen mythischen
Geburts-, Liebes- und Todesnächte erzählen. Dennoch hat diese Nacht etwas
von allen dreien.
Die
Großmutter hat Gift versteckt, findet das Röhrchen aber nicht mehr. Sie will
sich den entwürdigenden Prozeduren von Festnahme und Deportation entziehen, mit
denen sie stündlich rechnet. Nach einem Hin und Her der Argumente, die nichts
fruchten, bittet Ellen die Großmutter, eine Geschichte zu erzählen, überzeugt,
daß, wer Geschichten erzählt, leben will und lebt. Unter der Übermacht der
realen Bedrohung ist eben dies aber der Großmutter unmöglich geworden.
Stattdessen findet Ellen das Gift, und nach einem buchstäblichem Zweikampf hat
jeder die Hälfte in der Hand:[12]
"Und nur der Inhalt beider Fäuste konnte dem Tod genügen, diesem übermütigen
Schwarzhändler, der erst billig ist, wo er verflucht, und unerschwinglich wird,
wo er ersehnt ist." (116)
Dieser
Chiasmus (billig B
verflucht / unerschwinglich - ersehnt), der die Un-Figur des Todes bezeichnet,
bildet zugleich metaphorisch-figurativ das Sich-Überkreuz-Sein, den Konflikt
von Großmutter und Enkelin ab. Erst in der Auflösung dieser komplexen Figur,
das heißt, nur im Auflösen des Dissens von Enkelin und Großmutter kann der
Selbstmord geschehen und der Tod eingeholt werden. So finden die beiden schließlich
einen Kompromiß, daß wenn die Großmutter Ellen eine Geschichte erzählt, sie
im Tausch von Ellen das Gift bekommt: "Während Ellen eine Geschichte
verlangt, verlangte sie von der Großmutter und inmitten einer schwarzen, gefährlichen
Nacht die Bereitschaft zu leben. / Entweder
also findet sie [die Großmutter] die Geschichte, dann will sie nicht mehr
sterben nachher. Oder sie findet sie nicht, dann verliert sie die Wette und das
Gift gehört mir." (118)
Aber
über dem "Es war einmal...", zu dem die Großmutter keine Fortsetzung
mehr findet, über ihrem Suchen und Nicht-Finden der Geschichte, schläft sie
ein, und in einem trotzigen Impuls beschließt Ellen, selbst eine Geschichte zu
erzählen. Was sie erzählt, ist die Geschichte von Rotkäppchen, aber es wird
eine moderne Rotkäppchen-Geschichte, ihre eigene:
"'Es
war einmal eine Mutter', begann Ellen und zog nachdenklich die Stirne hoch, 'in
Amerika'. Dort arbeitete sie als Kellnerin. Diese Mutter hatte große Sehnsucht.
Und die Sehnsucht war rot.' Ellen verstummte und sah herausfordernd um sich,
aber da war niemand, der sie aufmunterte, und niemand, der ihr widersprach. Mit
leiser Stimme sprach sie weiter." (119)
Hier
zeigt sich der andere Modus des Erzählens gegenüber den Anforderungen der
Realität: niemand korrigiert. Das hatte, wie eingangs erwähnt, Perls als
Voraussetzung für die Gestaltung von persönlichen Gefühlen vorausgesetzt, und
eben dies gilt auch für Geschichten. Aber mehr noch, Geschichten fassen
zusammen, was geschehen ist, indem sie Vorgefallenes oder Erlebtes gliedern;
Einzelheiten, Wahrgenommenes, Gefühle werden in einen Rahmen gebracht. AAnziehendes
und Bedrängendes kommt deutlich zum Vorschein in Gut und Böse, Freund und
Feind. So geben Geschichten Orientierung und Belehrung, aber diskret, anders als
Gesetze und Gebote. Deren Vorschriften normieren ein Verhalten unter allen Umständen
B Geschichten
referieren ein Verhalten unter besonderen Umständen. Das macht aus ihnen ein
wichtiges Verständigungsmittel, vielleicht das schönste." So Heinrich
Bosse im Anschluß an Brigitte Kronauer.[13]
Das
bedeutet, das Geschichtenerzählen ist, anders als das Verhalten in der Realität,
auf besondere Weise selbstbestimmt. Deshalb ermöglicht es auch selbst- und
nicht fremdbestimmte Antworten auf brennende Lebensfragen. Man merkt deutlich,
wie Ellens Rotkäppchen-Märchen die Fragen einkreist, um die es in dieser Nacht
auf Leben und Tod geht: "Aber Großmutter, was hast du für dicke Lippen? -
Daß ich es besser schlucken kann! - Das Gift? Meinst du das Gift, Großmutter?"
(121)
Noch
bevor Ellen entschieden hat, ob sie der Großmutter nachgeben soll, läßt sie
ihr eigenes Erzählen den Satz finden, der sie entscheidungs- und handlungsfähig
machen wird. Sie weiß nun: "Groß bist du Großmutter, der Wolf kann dich
nicht verschlingen!" (123) Mit anderen Worten, im Erzählen der Geschichte
hat Ellen die unantastbare Würde in dem Entschluß der Großmutter entdeckt.[14]
Sie willigt also ein, gibt der Großmutter das Gift:
"Das Hemd der Großmutter war zerrissen, die Decke abgeworfen. [...]
'Großmutter, was suchst du? Großmutter, willst du leben?.'
Durch eine kleine Bewegung lockerte sich der Draht der Bettlampe. Das
Licht ging aus.
Noch einmal zuckte der Kopf der Sterbenden vor der nahenden Finsternis
zurück, der Körper bäumte sich auf. Ellen sprang,
sie packte das halbleere Glas. Drei Schluck
fehlten. Und sie goß den Rest des Wassers über die weiße eckige
Stirne, über Hals und Brust in die steifen Kissen, und sie sagte mitten in das
letzte einsame Röcheln: Großmutter, ich taufe dich im Namen des Vaters und des
Sohnes und des heiligen
Geistes, Amen.'
Die Nacht sank dem Tag in die Arme." (127f.)
Wie
in einer russischen Puppe birgt diese Geschichte eine Reihe von anderen
Geschichten: Zunächst ist da die Geschichte der Großmutter, in deren Wunsch zu
sterben Ellen schließlich einstimmt, ein Liebesbeweis, der erst gefunden werden
kann, nachdem Ellen ihre Geschichte erzählt hat. Darin enthalten ist eine
zweite Geschichte, die von Würde handelt und die Wahrung der inneren Autonomie
in einer Situation der äußeren Aberkennung und Beraubung.[15]
In die Geschichte eingebettet ist des weiteren die eines - tief schmerzlichen -
Rollenwechsels zwischen den Generationen. Und zwar in doppelter Hinsicht:
Ellen übernimmt die Rolle des Erzählens, ein traditum der Großmutter
(Rollenwechsel bedeutet hier B
in einem an einer existentiellen Grenze angesiedelten actus tradendi - daß
die Jüngere von der Älteren etwas übernimmt). Ellen und die Großmutter
tauschen aber auch regelrecht Rollen, wenn die Großmutter im Initiationsritus
des Taufaktes zum Kind und Ellen zum Bürgen wird. Und zwar in dem Sinne, wie es
Franz Rosenzweig im "Stern der Erlösung" ausdrücklich sagt, daß die
Taufe für die Erlösung "bürgt". D.h. Ellen verbürgt sich in diesem
sakramentalen nächtlichen Taufakt für die Erlösung der Großmutter.[16]
Und indem sie der Todesnacht, die man wohl auch eine Geburts- und Liebesnacht
nennen muß, auf diese Weise eine Gestalt gibt, translociert sie den Schmerz,
ohne das Ereignis in irgendeiner Weise zu glätten oder zu harmonisieren.
Diese
Sterbe- und Erlösungsgeschichte ruft auf und 'überschreibt' zugleich eine
andere Erlösungsgeschichte, die keine Gestalt gewonnen hatte und
unabgeschlossen geblieben war: Nämlich die der Kinder, welche am Beginn des
Romans sich auf die Suche begeben hatten nach jemandem, der sich für sie 'verbürgt',
um sie von ihrem Leid zu erlösen.
Taufe
und Erlösung, wie überhaupt die vielen Bilder aus dem Bereich des Sakralen im
Roman, dürfen nun aber nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß wir es hier
mit einem religiösen Text zu tun hätten, jedenfalls nicht im Sinne einer jüdischen
oder christlichen Dogmatik. Die meisten der religiös konnotierten Bilder oder
Wendungen stehen in individuell gestalteten rituellen Kontexten und erhalten als
sykretistische 'Privatmythen' ihre lebensgeschichtliche Funktion. So inszeniert
Ellen die nächtliche Taufe der Großmutter - der ja die kirchlicherseits sündige
Einnahme des Giftes vorausgeht - mit jenem tiefen Ernst und zugleich einer
Freiheit, die sich nicht dem System der Kirche, sondern den Phantasien des
Kinderspiels verdanken. Denn wo, wenn nicht dort, ist es rituell erlaubt und
glaubhaft möglich, Weihwasser durch Gift zu ersetzen?
Hier
nun zeigt die Geschichte eine Komponente der Selbstreflexion, vielleicht mehr
noch der Meditation über die Funktion der Phantasie, des Spielens und des Erzählens
von Geschichten als Form selbstbestimmter Sinnstiftung. Geschichten bergen das
Potential einer Widerständigkeit gegen die Zumutungen der Realgeschichte, gegen
die Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun.[17]
Der
so bitter-lakonische Schlußsatz des Kapitels, der ganz abrupt das Thema zu
wechseln scheint, indem er das Schicksal des kleinen Deserteurs zur Sprache
bringt, von dem Ellen in der Todesnacht träumt - "In dieser Nacht war ein
kleiner, verzweifelter Deserteur gegen zwei Uhr heimgekommen und am Morgen
verhaftet worden" (127f.) - belegt eindrücklich, wie dicht Aichingers Text
komponiert ist. Der Traum, den Ellen in dieser Todesnacht träumt, handelt von
einem armen frierenden und hungrigen Deserteur, der nach Hause will, aber kein
Zuhause mehr findet. Jetzt nun erfahren wir, wiederum ohne Rücksicht auf
Grenzen von Traum und Wirklichkeit, die Fortsetzung der Geschichte, deren Ende
wir ohne Mühe selbst fortschreiben können.
Was
hier, scheinbar so unvermittelt, wie ein Postskriptum der Geschichte vom Tod der
Großmutter nachgestellt ist, lese ich als eine Parallelgeschichte zu deren Tod
und als eine Reflexion über das Thema der Freiheit: Beide, Großmutter wie
Deserteur, übergeben sich dem Tod, indem sie sich freiwillig entziehen. Im
selbstgewählten Gegenhalten gegen die Zumutungen der Realität behalten sie
ihre Würde. Denn obwohl ihr Untergang feststeht, haben sie auf einer Wahl und
einer eigenen Entscheidung bestanden, statt sich den Mördern bzw. dem
zwangsweisen Töten-Müssen im Kriegsgeschehen zu überlassen. Deserteur und Großmutter
sind Leidensgenossen.
Hier
ist das Leiden definiert, denke ich, und das Festhalten an einer Autonomie, das,
was man wohl auch Agrössere
Hoffnung@ nennen
kann.
[1]
Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung. 61.-66.Tsd. Frankfurt 1989 (im
folgenden Seitenzahlen nach dem Zitat).
[2]
Dazu grundsätzlich James E. Young: Beschreiben des Holocaust (1988).
Frankfurt a.M. 1997.
Zu Aichingers
Roman seien hier nur stellvertretend zwei neuere Arbeiten (mit umfangreichen
Bibliographien zum Stand der aktuellen Forschung) genannt: Nicole
Rosenberger: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und
Verfolgung in Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung". Wien
1998, und Barbara Thums: "Den Ankünften nicht glauben wahr sind die
Abschiede". Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse
Aichingers. Freiburg 2000.
[3]
Karl Heinz Bohrer: Schuldkultur oder Schamkultur. Und der Verlust an
historischem Gedächtnis. In: NZZ (Internationale Ausgabe) 12./13. Dezember
1998, S. 51. Die Gegenposition, der ich selbst zuneige, vertritt James E.
Young: Die Beschreibung des Holocaust (s. insbesondere die Einleitung).
[4] Jan Assmann: Der Schleier der
Isis. Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes. In: Lettre
International 50, Winter =98, S. 50-53, 50f.
[5]
In gewisser Weise berührt sich die besondere Form des Erzählens im Roman
mit dem hoch aktuellen, grundlegenden Problem, das Geistes- und
Naturwissenschaften gegenwärtig verhandeln, daß nämlich die zu erklärenden
Phänomene individuellen Erlebens, so der Neurologe Wolf Singer, "nur
aus der Ersten-Person-Perspektive erfahrbar [sind]. Wahrnehmungen, Gefühle
und Intentionen hat man, ihre Wirklichkeit erschließt sich nur aus eigenem
Erleben. Sie sind ihrem Wesen nach subjektive Entitäten. Die Beschreibung
der zugrunde liegenden neuronalen Prozesse hingegen erfolgt aus der
Dritten-Person-Perspektive. Wie diese beiden Beschreibungssysteme
aufeinander bezogen werden können, wie Leib und Seele sich zueinander
verhalten, das eine aus dem anderen hervorgeht - das ist die große
epistemologische Frage. [...] [S]icher aber ist, daß jedwede Annäherung
der beiden Beschreibungssysteme - und diese scheint unvermeidlich - zu
tiefgreifenden Veränderungen unseres Selbstverständnisses führen
wird." Wolf Singer: Ignorabimus? - Ignoramus. In: FAZ, 23.9.2000, S. 52. Zu Phänomen des
Schmerzes vgl. Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der
Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur. Frankfurt a.M. 1992.
[6]
Frederick S. Perls, Ralph F. Hefferline und Paul Goodman: Gestalttherapie.
Praxis. (Gestalt Therapy.
Excitement
and Growth in the Human Personality; 1951). 3.
Aufl. München 1995, S. 43.
[7]
Das Tagungsthema der katholischen Akademie, auf der dieser Vortrag gehalten
wurde, lautete "'Fremde und Identität' - Jüdische Autorinnen und
Autoren im 20. Jahrhundert".
[9] Vgl. dazu den Prosatext AHilfsstelle@:
"[...] vielleicht wären manche von uns fortgegangen aus diesem Raum,
der sich unsere Welt, unser Leben nannte, wäre nicht der blitzende Streifen
gewesen, der uns das Licht hinter dem Vorhang bewies, die Möglichkeit der
anderen Existenz, der Wärme, der Geborgenheit, des Spiels. Des sinnvollen
und unaufhebbaren Augenblicks." Ilse Aichinger: Kleist, Moos, Fasane.
Frankfurt a.M. 1991, S. 28.
[10]
Vgl. dazu Aichingers autobiographischen Text "Der 1. September
1939": "Englisch zu lernen wurde übrigens auch später, als die
Hoffnungen, die an diesem Tag zu schwanken begannen, endgültig einstürzten,
und gerade bei solchen, die so schwarz sahen, daß sie recht behielten, zu
einer Art Disziplin, die bis vor die Türen der KZs und der Gaskammern
anhielt. Viele haben auf diese Weise, von Ein- und Ausreisegenehmigungen,
gut dotierten Bürgschaften und Arbeitsbewilligungen unabhängig, die
Grenzen gesprengt und die Länder, die ihnen keine Zuflucht boten oder
bieten konnten, als Zuflucht erfahren. Auch mir kam es am 1. September 1939
nicht sinnlos vor, eine Szene aus 'Lady Windermeres Fächer' zu übersetzen,
weniger sinnlos jedenfalls als so oft an den alten regulären Schultagen."
Dies: Kleist, Moos, Fasane, S. 23-27, 24.
[11]
Vgl. dazu Maurice Blanchot:
„Der jüdische Mensch ist der Hebräer, wenn er der Mensch der Anfänge
ist; der Anfang ist eine Entscheidung; diese Entscheidung ist die Abrahams,
der sich von dem trennt, was ist, und sich als Fremder erklärt, um einer
fremden Wahrheit zu entsprechen. Der Hebräer geht von einer Welt B der
bestehenden Welt der Sumer - in
eine Welt, die ,noch nicht Welt> ist und die dennoch das Irdische ist;
als Fährmann fordert uns der Hebräer Abraham nicht nur dazu auf, von einem
Ufer zum anderen hinüberzuwechseln, sondern uns überall dorthin zu
begeben, wo ein Übergang zu vollziehen ist, und dieses Zwischen-zwei-Ufern
aufrechtzuerhalten, das die Wahrheit des Übergangs ist. Dem muß hinzugefügt
werden, daß dieses Memorial des Ursprungs, das aus einer so ehrwürdigen
Vergangenheit zu uns kommt, von Geheimnis umhüllt ist, aber nichts
Mythisches hat: Abraham ist durch und durch ein Mensch, er ist ein Mensch,
der weggeht und durch diesen ersten Weggang das menschliche Recht auf Anfang
begründet, die einzige wahre Schöpfung. Ein Anfang, der an jeden von uns
weitergegeben, übertragen wird, der aber, indem er sich entfaltet, seine
Einfachheit verliert.“ Ders.: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch
über Sprache, Literatur und Existenz. München 1991, S. 185f. (mit Referenz
auf André Naher: L’existence juive. Paris 1962).
[12]
Der Text scheint hier - in Form einer Inversion - an die antike Semantik des
'Symbol'-Begriffs zu erinnern. Ursprünglich bezeichnet
griech. symballo (die zwei getrennten Hälften zusammenlegen)
"die auseinandergebrochenen Teile eines Ringes, Stabes, Täfelchens o.ä.,
die durch Zusammenfügen zum Ganzen, zur 'Gestalt', als Erkennungszeichen
dienen, die früher geschlossene Gastfreundschaft, die wirkliche
Beauftragung des Boten, den Abschluß eines Vertrages zwischen zwei
Kontrahenten o.ä. greifbar" zu machen. Rupert Berger: Kleines
liturgisches Wörterbuch der Liturgie. Freiburg/Basel/Wien 1969, S. 426.
[13]
Vgl. Brigitte Kronauer: Ist
Literatur unvermeidlich? Warum ich schreibe. In: Neue Zürcher Zeitung 49,
28.2/1.3.1998, Beilage Literatur und Kunst, und Heinrich Bosse: Geschichten.
In: Ders./ Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein
Sprachspiel. Freiburg 1999, S. 299.
[14] Ich bin hier anderer Meinung
als Wendelin Schmidt-Dengler, der das Märchen vom Rotkäppchen wie folgt
deutet: „Das Märchen vom Rotkäppchen funktioniert nicht mehr. Zwischen
die Zeilen des 'Urtextes' drängt sich die eigene Erfahrung [...] Dieses
neue Rotkäppchen kann der Großmutter keine Gabe bringen: Die Gabe wäre
das Gift, das sie ihr mit so viel Mühe zu entziehen versucht hatte. Die
Mechanik der Erzählung, der Zwang des Stoffes führt dazu, daß Ellen der
Großmutter das Gift geben muß. Erzählen bedeutet nicht Erlösung, sondern
Einlösung eines Musters, dessen Konsequenz, wie in diesem Falle, tödlich
sein kann.“ Ders.: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen
Literatur 1945-1990. Salzburg und Wien 1995, S. 46.
[15]
Diese Suche nach Autonomie würde ich, statt des Begriffs der Identität
(s.o.), für Ilse Aichingers Texte in Dienst nehmen wollen.
[16]
Vgl.
Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung (1921). 5. Aufl. Frankfurt a.M.
1996, S. 416: "Das ist der wunderliche Doppelsinn der Taufe: sie wird
vollzogen am Einzelnen, am Neugeborenen, am Anfang des Lebens, und verbürgt
ihm, dem Unmündigen des Lebens, die Vollendung des Lebens, die Erlösung."