Eros, Melancholie
und Medien: Goethes "Amor als Landschaftsmahler"
Ursula Renner
Als Goethe Ende
Februar 1788 eine Art Resümee seines Aufenthaltes in Italien zieht, entwirft er
auch ein Programm für die Zukunft: "Ich bin fleißig und vergnügt",
schreibt er an Johann Gottfried Herder,
"und erwarte so
die Zukunft. Täglich wird mir's deutlicher, daß ich eigentlich zur Dichtkunst
geboren bin, und daß ich die nächsten zehen Jahre, die ich höchstens noch
arbeiten darf, dieses Talent excoliren und noch etwas Gutes machen sollte, da
mir das Feuer der Jugend manches ohne großes Studium gelingen ließ. Von meinem
längern Aufenthalt in Rom werde ich den Vortheil haben, daß ich auf das Ausüben
der bildenden Kunst Verzicht thue. / Angelica [Kauffmann] macht mir das
Compliment: daß sie wenige in Rom kenne, die besser in der Kunst sähen
als ich. Ich weiß recht gut, wo und was ich noch nicht sehe, und fühle wohl,
daß ich immer zunehme, und was zu thun wäre, um immer weiter zu sehn. Genug,
ich habe schon jetzt meinen Wunsch erreicht: in einer Sache, zu der ich mich
leidenschaftlich getragen fühle, nicht mehr blind zu tappen."
Anschließend kündigt
er eine weitere Sendung an: "Ein Gedicht: Amor als Landschaftsmahler
schick' ich dir eh'stens und wünsche ihm gut Glück."[1]
Wohl nicht zufällig ist Herder Empfänger und womöglich favorisierter
Adressat. Denn hinter der Maske eines kleinen anakreontischen Capriccios im
Zeichen von Eros und Melancholie - einem der ganz wenigen Gedichte, die Goethe
in Italien geschrieben hat - verbirgt sich eine ästhetische Reflexion, die man
auch als Nachdenken über Medien und Repräsentation lesen kann. Herder hatte in
seinem "Plastik"-Aufsatz von 1778 mit dem Untertitel "Einige
Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum" die körperliche
'Darstellung' der Plastik, die der Betrachter gleichsam imaginativ ertastet,
gegen die malerische 'Repräsentation' ausgespielt.[2]
"Es bleibt also wahr: 'der Körper, den das Auge sieht, ist nur Fläche,
die Fläche, die die Hand tastet, ist Körper'". Herders Grundüberzeugung
war, "daß 'für's Gesicht eigentlich nur Flächen, Bilder, Figuren eines
Plans gehören, Körper aber und Formen der Körper vom Gefühl abhängen.'"[3]
Das eine Medium hat den Status des "Traums", das andere den der
"Wahrheit".[4] In Goethes Gedicht geht es, das
wäre die eine Variante seiner 'Arbeit' am Pygmalion-Mythos, um die
Verlebendigung einer Bildfigur und, weitere Variante, um die des Betrachters
selbst. Gegenüber Herders Trennprogramm erzählt Goethes Gedicht von einer
interaktiven Dynamik zwischen Medium und Lebenswelt des sprechenden Ichs, für
deren Promotion Amor zuständig ist. Dieser nämlich bringt das Kunststück
fertig, eine libido videndi zu erzeugen, die ganzheitlich wirkt und am
Ende nicht nur eine, sondern zwei Figuren, Bildgestalt und Betrachter, (re-)animiert.
I Verwandlungskünste
Amor als Landschaftsmahler
Saß ich früh auf einer Felsenspitze,
Sah mit starren Augen in den Nebel;
Wie ein grau grundirtes Tuch gespannet,
Deckt' er alles in die Breit' und Höhe.
Stellt' ein Knabe sich mir an die
Seite,
Sagte: Lieber Freund, wie magst du
starrend
Auf das leere Tuch gelassen schauen?
hast du denn zum Mahlen und zum Bilden
Alle Lust auf ewig wohl verloren?
Sah ich an das Kind und dachte
heimlich:
Will das Bübchen doch den Meister
machen!
Willst du immer trüb' und müßig
bleiben,
Sprach der Knabe, kann nichts Kluges
werden:
Sieh, ich will dir gleich ein Bildchen
mahlen,
Dich ein hübsches Bildchen mahlen
lehren.
Und er richtete den Zeigefinger,
Der so röthlich war wie eine Rose,
Nach dem weiten ausgespannten Teppich,
Fing mit seinem Finger an zu zeichnen:
Oben mahlt' er eine schöne Sonne,
Die mir in die Augen mächtig glänzte,
Und den Saum der Wolken macht' er
golden,
Ließ die Strahlen durch die Wolken
dringen;
Mahlte dann die zarten leichten Wipfel
Frisch erquickter Bäume, zog die Hügel,
Einen nach dem andern, frei dahinter;
Unten ließ er's nicht an Wasser
fehlen,
Zeichnete den Fluß so ganz natürlich,
Daß er schien im Sonnenstrahl zu
glitzern,
Daß er schien am hohen Rand zu
rauschen.
Ach, da standen Blumen an dem Flusse,
Und da waren Farben auf der Wiese,
Gold und Schmelz und Purpur und ein Grünes,
Alles wie Smaragd und wie Karfunkel!
Hell und rein lasirt' er drauf den
Himmel
Und die blauen Berge fern und ferner,
Daß ich ganz entzückt und neu geboren
Bald den Mahler, bald das Bild
beschaute.
Hab' ich doch, so sagt' er, dir
bewiesen,
Daß ich dieses Handwerk gut verstehe;
Doch es ist das Schwerste noch zurücke.
Zeichnete darnach mit spitzem Finger
Und mit großer Sorgfalt an dem Wäldchen,
G'rad an's Ende, wo die Sonne kräftig
Von dem hellen Boden widerglänzte,
Zeichnete das allerliebste Mädchen,
Wohlgebildet, zierlich angekleidet,
Frische Wangen unter braunen Haaren,
Und die Wangen waren von der Farbe
Wie das Fingerchen, das sie gebildet.
0 du Knabe! rief ich, welch ein Meister
Hat in seine Schule dich genommen,
Daß du so geschwind und so natürlich
Alles klug beginnst und gut vollendest?
Da ich noch so rede, sieh, da rühret
Sich ein Windchen, und bewegt die
Gipfel,
Kräuselt alle Wellen auf dem Flusse,
Füllt den Schleier des vollkommnen Mädchens,
Und was mich Erstaunten mehr erstaunte,
Fängt das Mädchen an den Fuß zu rühren,
Geht zu kommen, nähert sich dem Orte,
Wo ich mit dem losen Lehrer sitze.
Da nun alles, alles sich bewegte,
Bäume, Fluß und Blumen und der
Schleier
Und der zarte Fuß der Allerschönsten;
Glaubt ihr wohl, ich sei auf meinem
Felsen
Wie ein Felsen, still und fest
geblieben?[5]
Am Beginn steht eine
durch das trochäische Versmaß zwar unterstützte, dennoch ungewöhnliche
Inversion. Das "saß ich" bestimmt die äußere Haltung, 1. Person
Singular und Präteritum mit ihrer Tendenz zum Erzählgestus wecken die
Erwartung eines außerordentlichen Erlebnisses. Ungewöhnlich ist auch die
Situation des sprechenden Ichs: statt der weiten Aussicht in die Natur, welche
die exponierte Beobachterposition auf der Felsenspitze verspricht, sieht es
nichts als graue Wolken. Der Fels, die starren Augen, die verhangene Sicht - mit
nur wenigen Hinweisen ist eine melancholische Tristesse skizziert.[6]
Der disparate Blick in den Nebel wird mit dem Starren auf eine unbemalte
Leinwand verglichen; weder Welt noch Werk haben für den, der da sitzt, eine
Gestalt. Dabei geht es nicht um die klassische Künstlerfrage nach dem
gelungenen oder mißlungenen Werk, auch nicht um den Vorgang des Löschens, mit
dem der Übermacht des Tradierten zu entkommen wäre.[7]
Das Gedicht enthält sich einer Vorgeschichte. Es setzt mit einer
offensichtlichen Krise ein, in der fraglich erscheint, ob und wie hier überhaupt
ein Werk entstehen kann. Um die existentielle Leere wieder auszufüllen, muß
das Ich aus seiner Isolation finden, das Heilmittel dafür allerdings erst
eigens geschaffen werden. Darum geht es in der 'Geschichte' des Gedichtes.
Mit Amors Auftritt -
man kann hier mit Fug und Recht von einer theatralen Inszenierung sprechen[8]
- wendet sich das Blatt. Es kommt 'Leben' ins Gedicht, insofern die wörtliche
Rede ein dramatisches Moment ist, das Unmittelbarkeit suggeriert. "Lieber
Freund, wie magst du starrend / Auf das leere Tuch gelassen schauen? / Hast du
denn zum Mahlen und zum Bilden / Alle Lust auf ewig wohl verloren?" Amor
verwandelt in seiner freundschaftlichen Anrede einen Vergleich ("wie ein
... Tuch") beiläufig in die Wörtlichkeit ("auf das leere
Tuch"). Es ist sein erster Akt des Schaffens und Verwandelns von 'Welt'. Er
'übersetzt' die Mittelbarkeit des figurativen Sprechens in 'Realität', das heißt,
im Sprechakt erschafft er zunächst ein neues (Träger-)Medium, die Leinwand.
Amor stellt das Ich
zur Rede und benennt dessen trostlose Situation: verlorene Lust, ein Zustand -
hier kommt abgründig Zeit ins Spiel - der ewig dauern könnte. Amor benutzt ein
Schlüsselwort der Melancholie, fehlende Lust, die, wäre sie vorhanden, schöpferische
Kraft garantierte. Da 'Lust' eine Domäne Amors ist, wird klar, warum er hier
mitzusprechen hat.[9]
Auf diese
Vorhaltungen muß das (männliche) Ich reagieren. Zwar kommuniziert es noch
nicht, aber immerhin regt sich sein Inneres. Subtil bezeichnet das
"heimlich" den allmählichen Übergang von einem isolierten Ich zu
einem, das wieder zur Aufmerksamkeit fähig wird. Noch in sich verschlossen,
jedoch bereits auf dem Weg, Kontakt aufzunehmen, provoziert Amors Frage zunächst
eine zweite Stimme in seinem Innern. Ein solcher Akt kommunikativer
Selbstreferenz geht in der Regel Dialog und Handlung voraus.[10]
Unbeirrt setzt Amor
sein fragendes Mahnen fort. Anders als Venus, die erst auf Pygmalions Gesuch
reagiert, wird er umstandslos selbst tätig. Er will seinem trübsinnigen Gegenüber
Malunterricht erteilen. Vormachen und Lehren heißt sein pädagogisches
Programm. Amor verwendet dafür ein ausgezeichnetes Werkzeug, seinen kleinen
rosigen Finger, rot wie eine Rose, Attribut seiner Mutter Venus seit jeher. Mit
diesem Finger, dem "Zeigefinger", zeichnet, zeigt und zeugt Amor am
Ende sogar.
Gegen die
Lustlosigkeit des Melancholikers setzt Amor seinen Bildzauber ein. Das Potential
dessen, was er mit seinem erotischen Pinsel zustandezubringen vermag, zeigt sich
daran, daß er die Schöpfungsgeschichte mit ihren Stufen der Weltwerdung
reinszeniert. Aber weder kopiert er sie, es fehlen in seinem Bild beispielsweise
die Tiere, noch folgt er der Chronologie der Bibel. Er folgt vielmehr dem
Konstruktionsprinzip des Bildaufbaus, einer künstlerischen Ordnung also, die
mit natürlichen Zeichen arbeitet, auch wenn sie, man denke an die Sonne bzw.
das Licht, polysemisch verdichtet sind.[11]
Dennoch: beide Schöpfungsakte, der Jehovas und der des Künstlers Amor, gipfeln
im Erschaffen der menschlichen Gestalt und ihrer Belebung.
Der kindliche Erot,
normalerweise schießwütig und übermütig, ist hier - ikonographisch
eigenwillig, aber auch nicht ganz beispiellos - ein triumphierender Maler und deus
pictor. Er erschafft das Medium der Bezauberung, Animation und Verführung.
Wenn am Anfang der christlichen Schöpfung das Wort steht und Gott seinen
Menschen durch Odem belebt, so erzeugt Amor die Welt mit seinem Finger.[12]
Während Michelangelos Deckenfresko in der Sistina, das Goethe so bewundert
hatte, die Beseelung zwischen dem Finger Gottes und dem Körper Adams im
Zwischenraum der Nicht-Berührung inszeniert (wie es das Berührungstabu alles
Sakralen vorsieht), braucht Amors erotisches Werkzeug Kontakt.[13]
Seine Schöpfung, heißt das, wird einerseits als ein gleichsam göttlicher Akt
geadelt, andererseits versinnlicht, indem sie in den Kontext von Lust und
Zeugung gestellt wird. Ein mächtiges Spannungsfeld, das hier in der Maske des
Allegorisch-Anakreontischen spielerisch wirkt und beiläufig noch die
Autopoiesis des Mit- und Gegeneinanders von Fiktivem und Imaginärem erfaßt.
Amor malt[14]
seine Landschaft von oben nach unten. Er beginnt mit dem Sonnenlicht, das in den
Augen des Betrachters reflektiert wird, sie dabei gleichsam anzündet. Es rahmt
die Wolken golden und durchdringt sie. Das sind vier elementare Eigenschaften
des solaren Lichtes: es bricht sich im Auge, es gibt Gestalt, es stiftet Farbe,
es durchdringt. Schließlich läßt es auch das Wasser des Flusses erglänzen,
d.h. es beleuchtet und es spiegelt sich. Die Kraft des Sonnenlichts (und zwar in
der ekphrasis des sich erinnernden Beobachters) wird als Bedingung der Möglichkeit
für Sehen, Anschaulichkeit und Sichtbarmachung erkennbar. Das Sonnenlicht
erweist sich als eine 'Natur'-Kraft und gleichzeitig als ein höchst
bedeutungsvolles Medium. Allgemeiner formuliert: Amor malt hier ein Medium, das
sich als Medium selbst reflektiert.
Dabei macht das
Licht, das zeigt der untere Teil des Bildes, daß die Landschaft so 'natürlich'
wirkt, daß der Fluß zu glitzern und zu rauschen scheint. Amors Meisterschaft
zeigt sich also nicht nur in Komposition und Bildaufbau, sondern auch im
Erzeugen einer synästhetischen Wirkung.[15]
Er berücksichtigt die Luftperspektive - das ferne Blau der Berge - und gibt dem
Himmel eine Lasur, d.h. übermalt ihn mit dünnen Farben, so daß die
darunterliegende Farbschicht durchscheint, womit er das Diaphane in der Natur
sichtbar macht. Wollte man konkrete materiale Bilder assoziieren, so muß man
sich Amors Werk wohl als eine Kreuzung aus Hackert, von dem Goethe in Neapel
gelernt hatte, und Claude Lorrain vorstellen, insbesondere wenn man die
Lichtregie und den kraftvollen Ausdruck berücksichtigt. Von Claudes
Landschaften sagte Goethe im Rückblick:
"Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von
Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail
auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele
auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so
zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt als
sei es wirklich."[16]
Wahrheit, nicht Wirklichkeit schaffen, kunstvoll 'Natürlichkeit' inszenieren, dieses tut Amor - und Goethes Text macht es auf seine Weise auch.
Der
Betrachter erlebt durch Amors Bildkunst eine Art Wiedergeburt. Aus dem
melancholisch Starrenden ist ein fasziniert Staunender geworden,[17]
und unwillkürlich denkt man dabei an das vielzitierte Wort von Heilung und
Neu-geboren-Werden in Goethes Briefen aus Italien.[18]
Obwohl
Amor sich als perfekter Landschafter ausgewiesen hat, fehlt noch das
Entscheidende, Schwierigste, die menschliche Gestalt. Dort, wo das Medium
'Licht' sich noch einmal selbst reflektiert, "im Abglanz", wenn wir es
mit erhabenen Worten sagen, entsteht der Mensch. Sagen wir es kapriziös - und
daß beides möglich ist, ist einer der raffinierten Grenzgänge dieses Textes
-, dann setzt? legt? stellt? Amor ein "allerliebstes" weibliches Wesen
auf das schönste Fleckchen am Waldrand, die Traumfrau also ins Licht der
Aufmerksamkeit. Das wiedergeborene Ich bricht darüber in wahre Begeisterung
aus. Noch während es sich in Staunen ergießt, geschieht der Zauber, jenes
Ereignis, um dessentwillen die Geschichte erzählt wird:
"Da
ich noch so rede, sieh, da rühret
Sich
ein Windchen, und bewegt die Gipfel,
Kräuselt
alle Wellen auf dem Flusse,
Füllt
den Schleier des vollkommnen Mädchens,
Und
was mich Erstaunten mehr erstaunte,
Fängt
das Mädchen an den Fuß zu rühren,
Geht
zu kommen, nähert sich dem Orte,
Wo
ich mit dem losen Lehrer sitze."
Über
dem Reden erhebt sich ein Windchen. Es vollzieht sich eine Verwandlung, die die
Differenz von Natur und Kunst aufhebt - so wie später die von Kunst und
'Lebenswelt' des sprechenden Ichs. Es ist aber nicht die Naturgewalt 'Wind';
hier im Landschafts-Theater kommt der Wind aus dem Archiv der Literatur, ist,
die Verkleinerungsform markiert es, jenes Lüftchen, das den amoenen Ort so
lieblich macht. Als Zephir im Gefolge Amors bezeichnet es die Bewegung des
erotischen Begehrens, das sich auf den Betrachter überträgt. Das
"Windchen", dies ist eine signifikante Umschrift des Topos,
dynamisiert alles. Es bewegt die "Gipfel" (Baumwipfel), es "kräuselt",
"füllt den Schleier" und erfaßt das Mädchen; läßt es den Fuß 'rühren'
und macht, in einer spannungsvollen Wendung automatisch-magnetischer Annäherung,
es 'gehen zu kommen'. Hier findet eine grenzenlose Allbelebung statt, die das
Ich nicht verschluckt, sondern, das zeigt der Schluß, selbst aktiviert. Amors
kunstvolle potentia agendi[19]
dynamisiert also zunächst die Oberflächen und wandert dann vom Äußeren ins
Innere; in das des dargestellten Mädchens zunächst - als Körpermechanik - und
ins (bereits bewegte) Innere des Betrachters, ohne etwas von ihrer sinnlichen
Kraft einzubüßen. Im Gegenteil scheint sie dort erst eigentlich lokomotorisch
zu wirken ('kommen zu gehen'). Das movere, jene traditionelle Forderung
an das Kunstwerk, ist hier keine leidige rhetorische Strategie, sondern ein
Modus der Dinge selbst, der Körper und Sinne aktiviert.[20]
So quellen aus den zitierten acht Zeilen die Verben geradezu hervor. In vier
Versen stehen sie am Anfang, in den anderen vier am Schluß. Ein Vers gar wird
am Anfang und Ende mit einem Verb aktiviert: jener natürlich, in dem das
Mädchen den Fuß rührt, d.h. dort, wo es seine erotischen Reize auszusenden
beginnt.
Jehova
hatte nach seinem Schöpfungswillen den Menschen zu schaffen. Amor muß ein
Liebespaar herstellen und kuppeln (entsprechend auffallend sind die vielen
Kopulae), und er muß einen Anblick in ein Erlebnis verwandeln. Der Text muß
ein Bild im Entstehen beschreiben, es dem Leser vor Augen stellen (ekphrasis
als Hypotypose) und schließlich eine Metalepse konstruieren - d.h. die Überschreitung
der Grenze zwischen einem (in diesem Fall) Bild und dem Handlungsraum des
sprechenden Ichs. Auf der Ebene der Darstellung sind alle diese Transgressionen,
von denen die Geschichte erzählt, unabdingbar an Sprache gebunden, also medial
begrenzt. Zugleich operiert der poetische Text aber mit dem Wissen, daß er die
Macht hat, zu "zaubern", indem er mentale Bilder im Kopf des Lesers
erzeugt - die einzige Möglichkeit der (nachträglichen) Belebung und
Metamorphose, die Sprache (im Gegensatz zum Bild oder zur Statue) hat. Die
Hypotypose ist die Paradefigur einer solchen rhetorischen Operation.[21]
Nun macht Goethes Gedicht eine raffinierte Volte: In
Amors Bildschöpfung weht eben jener "ästhetische Geist", der die
Seele des Betrachters wieder schwingen läßt. Dem Leser, nicht dem Betrachter,
wird das mittels einer Hypotypose vor Augen geführt. Der Text trennt also
Psychologie und Rhetorik, führt dieses (in der Trennung von récit und discours,
Geschichte und Text der Geschichte) vor und unterläuft diese Trennung am
Ende: wenn nämlich die Frau, Signifikant des Bildes mit dem Signifikat 'Liebe',
ihr eigener Referent wird und dem Leser für diese Referentialisierung auf der
Ebene des Textes keine figurale Darstellung mehr geboten wird, sondern nur noch
eine rhetorische Frage.
Alles
in allem, Amor hat recht, eine wahrhaft schwierige Sache, von der das Gedicht
sich kaum etwas anmerken läßt: Seine ungewöhnliche Form, seine Verse, die
keine Strophen, sondern Sinnabschnitte bilden, die Personifikation des altklugen
Amors... alles das dient der Maske einer spielerischen Naivität, unter der
nachgedacht wird über Repräsentation und Körperunmittelbarkeit, über die
Kommunikation zwischen Bild und Betrachter, Text und Leser, über Fragen der
Grenze von Repräsentation und ihrer Überschreitung. Darauf werde ich im
letzten Abschnitt meiner Überlegungen zurückkommen.
Das
sprechende Ich kann nur noch staunen: "was mich Erstaunten mehr
erstaunte", diese rhetorische Wiederholungsfigur der figura etymologica
bezeichnet den Effekt der Überraschung. Gleichzeitig ist Staunen ebenfalls ein
Grenzphänomen, das Sich-in-Beziehung-Setzen zu etwas oder einem anderen
zwischen Ahnungslosigkeit und Wissen.[22]
Der Augensinn des Betrachters, heißt das, wird ohne den Umweg über Gedächtnis
und Verstand sensibilisiert. Es löst nun endlich auch seine Zunge. Bewundernd
wendet er sich an Amor und - mit einer rhetorischen Frage - auch an den Leser:
"Da nun alles, alles sich bewegte,
Bäume, Fluß und Blumen und der Schleier
Und der zarte Fuß der Allerschönsten;
Glaubt ihr wohl, ich sei auf meinem Felsen
Wie ein Felsen, still und fest geblieben?"
Hier
zeigt sich die Reziprozität der Bewegung, die Amor initialisiert hat und die
alles erfaßt: Körper, Kommunikation, Kontakt.[23]
In der Anrede "sieh", dann in der Frage "glaubt ihr wohl"
wird der Leser in diesen Wirbel mit hineingezogen - entweder als fiktiver
Mitspieler oder aber, wenn er sich in seinem Wahrnehmungsuniversum adressiert fühlt.
Was auf der Ebene der Geschichte als Grenzüberschreitung zwischen Bild und
Handlungsraum des Betrachters inzeniert wurde, setzt sich hier zum Leser hin
fort. Mehr noch, die Wiederholung des Nomens in dem Satz "Glaubt Ihr wohl,
ich sei auf meinem Felsen / Wie ein Felsen, still und fest geblieben?"
macht auf eine Differenz aufmerksam, die eine Leseanweisung enthält. Im ersten
Fall topographische Benennung, im zweiten physiognomisch-psychologische
Bestimmung durch den Vergleich werden die bei der Lektüre eines poetischen
Textes zu leistenden Übertragungen erkennbar markiert (direktes Sprechen vs.
metaphorisches Sprechen). Die Qualitäten des Steins - Starre, Unbelebtheit -
sind auf den Sprecher zu übertragen, der sich am Ende, im Unterschied zu seiner
anfänglichen melancholischen Felsenexistenz, leidenschaftlich bewegt vom Fels
erhebt. Damit weist der Schluß, in einer rhetorischen Rückkoppelungsschleife
zwischen Metapher und Metonymie, auf den Anfang zurück, vollzieht das Gedicht
selbst noch einmal jene Figur des energetischen Übersprungs und der Zirkulation
der Kräfte, die es behauptet.
Wie
so vieles bei Goethe hat auch der Felsen eine eigene Zeichen-Geschichte in
seinem Werk. Als er 1784, in Eisenach, die Berge zu Gedächtnisorten seiner
Liebe zu Frau von Stein erklärt und dafür Felsinschriften entwirft, schreibt
er der Geliebten:
"Ich
sinne noch immer wie und wo ich die Innschrifft anbringen soll. Hier ist noch
eine die ich der Herrmannsteiner Höhle zugedacht habe.
Felsen sollten nicht Felsen und Wüsten Wüsten nicht bleiben
Drum stieg Amor herab sieh und es lebte die Welt.
Auch belebt er mir die Höle [!] mit himmlischem Lichte
Zwar der Hoffnung nur doch ward die Hoffnung erfüllt."[24]
Auch
der malende Amor belebt die Welt seiner idealen Landschaft und schafft so die
Voraussetzung für Wunsch und Begehren, die wiederum Seele, Sinne und Körper
des Betrachters mobilisieren. Für die Vorstellung einer solchen allbelebenden
Übergänglichkeit setzt der Text sparsam, aber signifikant, rhetorische Figuren
der Überschreitung und Übertragung ein: Vergleich, Metapher, Metonymie,
Hypotypose und die Metalepse, von der im letzten Abschnitt die Rede sein wird,
wo es um die Frage nach der selbstreflexiven Struktur des Textes geht.
Subtil
kommentiert Goethes Gedicht so jene seit Lessings „Laokoon“ virulent geführte
Debatte über die Leistungen der Künste. Lessing hatte am Beispiel Homers zu
zeigen versucht, wie dieser, anders als die deskriptiven Dichter, welche körperliche
Gegenstände bloß beschreiben,
ohne sie zu ,malen’, gerade die Gegenstände ,male’, ohne sie zu
beschreiben: „er weiß durch unzählige Kunstgriffe diesen einzelnen
Gegenstand in eine Folge von Augenblicken zu setzen [...] in deren Letztem ihn
der Maler erwarten muß, um uns entstanden zu zeigen, was wir bei dem Dichter
entstehen sehn.“ Wenn Homers Dichtung die Gegenstände im Prozeß ihrer
Herstellung schildert, wie etwa den legendären Schild des Achill,
dann verwandelt sie eine andernfalls bloß „langweilige Malerei des Körpers“,
die dem „Coexistierenden seines Vorwurfs folgt“, in das „lebendige Gemälde
einer Handlung“.[25]
Auf Goethes „Landschaftsmahler“ bezogen: Beide, Amors Bild und der Text des
Gedichtes arbeiten mit ihren (rhetorischen) Strategien des sukzessiven
Vor-Augen-Stellens an der Inszenierung von ,lebendiger Handlung’.
Selbstreflexiv verweist das Gedicht damit auf eine poietisch-ästhetische
Debatte der Zeit (die man biographisch als ,Verhandlungen mit Herder’ – auch
über Lessing – lesen kann). Wenn es aber gerade Amor ist, der mit dem
Bildmedium das tut, was Lessing Homer zuspricht, so unterstellt die Erzählsemantik
Rhetorik und Ästhetik einem elementaren schöpferischen Lebenskonzept. Das
System der Kunst und das der Lebenswelt werden nicht über einen Bruch
konstruiert, sondern im Zeichen von Übergängigkeit und Überschreitung
verbunden. So wird verständlich, warum es auf der Figurenebene zwei
Verlebendigte geben muß – das melancholische Ich und ,Galathea/Elise’.
II
Amor
Bereits
die mythologische Gestalt des Eros bzw. Amor oder Cupido verkörpert die
Spannung von 'Liebe' als zwischengeschlechtlicher Urmacht und Spiel, die auch
das Gedicht in Szene setzt. Hesiod zufolge ist er am Anfang der Welt, nach Chaos
und Erde, die dritte Ursprungsmacht.[26]
Während der Mythos im Hinblick auf diese kosmische Urgewalt nicht sehr gesprächig
ist, sind es die Künstler umso mehr. Sie können kaum innehalten, über den
'Knaben' zu erzählen, als habe gerade die Wortkargheit des Mythos die
Geschichten über das, was er anrichtet, explodieren lassen: Nicht wer er
ist, sondern was er verursacht, produziert die Endlosschleife narrativer
Energie. Lessing erinnert in diesem Kontext an die Ursprungsgeschichte der
Malerei[27]
und in der Folge der Plastik. Die von Plinius erzählte Dibutades-Fabel sollte
deshalb hier erwähnt werden, weil in ihr ebenfalls, wie in Goethes Gedicht, um
einen amourösen Schöpfungsakt geht, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen. Dort
hält die Verliebte (capta amore) den Schatten ihres in die Fremde
ziehenden Geliebten an der Wand fest, und ihr Vater, der Töpfer Dibutades, überformt
ihn anschließend mit Ton. Während dieses erste simulacrum auf die
mediale Re-Präsenz des Abwesenden zielt,[28]
verwandelt Amor in Goethes Gedicht das Repräsentierte in Präsenz, in
Anwesenheit und Gleichzeitigkeit. Wenn sich nun die Geschichte vom Ursprung des
zweidimensionalen Bildes in die der dreidimensionalen Form bzw. Plastik verlängert,
so nähert sie sich dem Pygmalion-Mythos an. Mit dem Unterschied, daß im einen
Fall das Bildnis aus der Ähnlichkeit mit einem 'realen' Menschen, im anderen
aus der Ähnlichkeit mit einem 'idealen' imaginären Bild entsteht; im einen
Fall Stellvertreter-Funktion hat, im anderen diese gerade aufgehoben wird.
Amor
schafft und behauptet eine Art struktureller Zweistelligkeit, die Beziehung
eines/r Verliebten zu einer/m Geliebten im gelebten Augenblick. Nur aufgrund
ihrer beiderseitigen Aktivität können sich am Ende des Gedichtes sprechendes
Ich und gemalte Figur an der Bildgrenze begegnen. Ausgespart bleibt, und das trägt
zur scheinbaren Leichtigkeit des Gedichts bei, daß Liebe hochgradig krisenanfällig
und störbar ist, was mit jener vertrackten triangulären Struktur zusammenhängt,
die Begehren erst eigentlich erzeugt. Im Gedicht erzeugt Amor das Begehren, aber
er ist kein Rivale,[29] sondern spielerisch-machtvoller
Verursacher, der Gegenwart will.[30]
Er schafft sich eine Bühne der Aufmerksamkeit, indem er zunächst sukzessive
ein sinnlich wirkendes Landschaftsbild mit Frauenstaffage entstehen läßt, aus
deren Animation er wiederum die Möglichkeit von Begegnung und Kontakt zweier
Liebender erzeugt; jenen Augenblick, den er gegen das gnadenlose
"ewig" des versteinerten Melancholikers setzt. Es ist der Augen-Blick
der Liebe, der die Grenzen zwischen Medium (in dem das Begehren erzeugt wird)
und dem Handlungsraum des sprechenden Ichs (wo der Kontakt stattfindet) auflöst.
Die Voraussetzung für das, was Zweistelligkeit oder Gegenseitigkeit ermöglicht
- Aufmerksamkeit und Begehren - bewirkt er durch seine Künstlerschaft, durch
Zeigen und Zeichnen, und durch seine Zauberkraft der Animation.[31]
Ganz
konsequent fällt deshalb der Erzählvorhang an der Schwelle schwebender
Erwartungslust, die keinen Dritten mehr benötigt, dort, wo Liebe als "unüberbietbare[r]
Exzeß des Genießens"[32]
einen Körper bekommt, wo Leben stattfindet (oder eben scheitert, wie seinerzeit
im "Werther"[33]...).
Es ist die Raffinesse und konsequente Logik des Textes, daß er von der Intimität
des ersten Kontaktes nichts sagt, nichts sagen kann. Lust und Genuß werden in
die Phantasie des Lesers verschoben. Er wird für die berühmte "first
contact scene" auf das Feld seiner inneren Bilder verwiesen - auf
das Imaginäre seines eigenen mentalen Repräsentations-Theaters. Damit endet
das Gedicht in jenem "fruchtbaren Augenblick", über den seit Lessings
"Laokoon" die Kunsttheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts
debattierte.
III Homo
ludens - Der italienische Kontext
Der
malende Amorknabe steht, als Allegorie, in einer Tradition, in der sich die
Anakreontik mit der Rokokokunst des italienisch-französischen 18. Jahrhunderts
verbindet. Das Gedicht spielt mit dem Muster des Capriccios[34]
als einer heiteren Maskerade, wie wir sie auch in Goethes italienischem
Singspiel "Claudine von Villa Bella" finden - einer hinreißenden
Seifenoper, von der man bedauern muß, daß sie nicht von Mozart vertont wurde.
Daß das Capriccio, der scherzhafte Einfall in freier Form, Modell gestanden
hat, zeigt der Vergleich mit dem Gedicht "Amore pittore" von einem der
damals bekanntesten und einflußreichsten römischen Literaten und
Kunstkritiker, Gherardo De Rossi (1754-1827). Es steht in einer Sammlung von
vierzig Epigrammen, den "Scherzi Poetici e Pittorici" aus dem Jahre
1795, die Amors Taten und Untaten schildern.[35]
De Rossi und Goethe haben sich in Rom kennengelernt. Sie waren beide pastores,
'Mitschäfer', in der Künstlervereinigung "Arcadia" und verkehrten
beide im Salon der Malerin Angelica Kauffmann.[36]
Die Forschung hat sich bisher nicht um die Frage gekümmert, ob Goethes Gedicht
und De Rossis "Scherzo" womöglich einen gemeinsamen Intertext haben,
ob De Rossi Goethe nachschreibt oder ob Goethe den "Amore pittore",
bevor er zwischen die Buchdeckel einer Sammlung kam, nicht vielleicht schon
gekannt haben könnte. Jedenfalls spielt das Gedicht mit einem literarischen
Genre und spielt dabei ganz und gar sein eigenes Spiel.
Von
Goethes vieldiskutiertem Aufenthalt in Italien seien nur ein paar wenige Aspekte
in Erinnerung gerufen, die für den Kontext und die Atmosphäre des Gedichtes
von Bedeutung sind: Goethe in Italien, das ist die abgelegte Rolle eines
Ministers ohne gesellschaftliche Verpflichtungen, aber mit dessen Bezügen; das
ist der Künstler, der lustvoll in das von ihm als "sinnlich"
bezeichnete und erlebte italienische Leben eintaucht. Der sich als Römer
kleidet, der sieht, spielt, ausprobiert, liest und lebt - "wie ein Künstlerbursche",
fand Herder etwas indigniert. Der in Weimar gezwungen war, Gefühlsleben und
gesellschaftliches Auftreten zu trennen, der, wie es schien, "etwas
entsetzlich Steifes in seinem Betragen" bekommen hatte und, wie Frau von
Stein weiter klagte, sich auch ihr gegenüber zunehmend stärker verschloß -
von seiner eigenen dichterischen Produktion ganz zu schweigen, für die ihm die
Zeit fehlte. Goethe hat später seine Italienreise als Akt der Verzweiflung
bezeichnet. Es war die Flucht vor einer drohenden beruflich-privaten Misere.
Worum es ihm bei seinem ungeheuerlichen Coup ging, benennen einfach und schön
seine Worte: "Ich habe in der Welt nichts zu suchen als das Gefundene, nur
daß ich's genießen lerne, das ist alles [...]".[37]
Das Mittel ist (anschauliche) sinnliche Erfahrung, welche die schöpferische
Energie reaktiviert.
Vergleicht
man Herders und Goethes Rom-Aufenthalt, so wird der Unterschied deutlich
zwischen einem, der Rom aus Karrieregründen besucht - Herder -, und einem, der
gerade aus dem gesellschaftlichen Normierungszwang ausbricht, der die Differenz,
nicht die Wiederholung von Anpassungsmustern sucht. "Göthe spricht über
Rom, wie ein Kind, und hat auch wie ein Kind, freilich mit aller Eigenheit,
hier gelebt; deshalb ers denn auch so sehr preiset. Ich bin nicht Göthe, ich
habe auf meinem Lebenswege nie nach seinen Maximen handeln können; also
kann ichs auch in Rom nicht."[38]
Es ist
etwas von der Figur eines homo ludens in Goethes Verhalten in Rom. In der
Mimikry des Inkognitos lebt er auf und wird belebt. Wieviel Spaß er bei aller
Ernsthaftigkeit seines Forschens hatte, meint man unter der anakreontischen
Maskerade des "Amor"-Gedichts zu spüren; man traut sie keinem bald
vierzigjährigen Staatsmann zu, allenfalls einem Studenten, was auch Goethe so
sah: "Ich lebte 10 Monate lang zu Rom ein zweytes academisches
Freyheitsleben", gestand er Jahre später.[39]
Im
Oktober 1787, während einer dreiwöchigen Villeggiatura in Castel Gandolfo, hat
Goethe sich beinahe ausschließlich und vermutlich am intensivsten mit der
Landschaftsmalerei auseinandergesetzt.[40]
Er habe dort, schreibt er an den Herzog, "die Gegend mit den Augen eines
Zeichners" angesehen,[41] und hier fand jene
Liebesbegegnung mit der "schönen Mailänderin" Maddalena Riggi statt,
mit der die Forschung das "Amor"-Gedicht in Beziehung bringt.[42]
Wie immer man argumentiert, auffallend ist, daß die ungewöhnlich Form des
Gedichts mit seinen strophenlosen Sinnabschnitten in ungereimten trochäischen
Pentametern bald nach seiner Rückkehr an den Weimarer Hof noch einmal
wiederkehrt, und zwar in den "Morgenklagen" und im "Besuch",
Gedichte, in denen die junge und freie Liebe zu Christiane Vulpius ihren
Ausdruck findet - als wäre die Möglichkeit dieser Beziehung ein Erbe dessen,
was sich der belebenden Freiheit Roms verdankt, ein Brückenschlag des römischen
Liebesgedichts zu der neuen Liebe in Weimar.
Wenn
das sprechende Ich des Gedichts durch die Zeichen- und Zauberkunst Amors
wiederbelebt wird, dann könnte man Goethes (auch sexuelle) Erlösung in Rom -
nach der Abstinenz in seiner Liebe zu Frau von Stein, die durchaus zu seiner
'Versteinerung' beigetragen hatte - mit der Melancholie-Therapie des Gedichtes
in Beziehung setzen. Aber es genügt schon, Goethes ersten Brief aus Rom an den
Weimarer Freundeskreis zu zitieren:
"es ist alles wie ich mir's dachte und alles neu. / Eben so kann ich
von meinen Beobachtungen von meinen Ideen sagen. Ich habe keinen ganz neuen
Gedancken gehabt, nichts ganz fremd gefunden, aber die alten sind so bestimmt,
so lebendig, so zusammenhängend geworden, daß sie für neu gelten können. /
Da Pygmalions Elise, die er sich ganz nach seinen Wünschen geformt, und ihr
soviel Wahrheit und Daseyn gegeben hatte, als der Künstler vermag, endlich auf
ihn zukam und sagte: ich bins! wie anders war die Lebendige, als der
gebildete Stein. / Wie moralisch heilsam ist mir es dann auch, unter einem ganz
sinnlichen Volcke zu leben [...]".[43]
Hier
wird der für das Gedicht zentrale Subtext, welcher im 18. Jahrhundert eine der
Modellgeschichten für die Debatten über Darstellung und ästhetische
Wirkungstheorie geworden war,[44] als 'privater Mythos' und als
Allegorie für lebendigen Kontakt aufgerufen, wie er seit Goethes erster
direkter Begegnung mit Italien im Spiel ist.
IV
Vom Ausstieg aus der Repräsentation
Amor
inszeniert Liebe durch das Bild und ist so deus pictor, pygmalionischer Künstler
und vitalisierende Venus ineins. Venus hatte den schmachtenden Pygmalion erlöst,
indem sie der geliebten Statue Leben einhauchte; Amor benutzt dafür seinen
kleinen 'rosigen' Erotenfinger.[45]
Vom Pygmalion der "Metamorphosen" unterscheidet ihn, daß er zwar Schöpfer
einer wunderschönen Gestalt ist, er sich aber nicht in sie verliebt, sondern
das Mädchen für einen anderen beschafft, womit eine Verschiebung seiner
pygmalionischen Aktivität zum Betrachter hin stattfindet. Amor sorgt zunächst
für die optische Fernwirkung, anschließend schafft er die Bedingung der Möglichkeit
zu taktiler Nähe. Er operiert dabei - im Dienst der erwähnten Zweistelligkeit
der 'Liebe' - nach zwei Seiten. Er erlöst den Mann vom Felsen aus seiner
melancholischen Starre und die Frau aus ihrer dekorativen Staffage. Diese
Personalunion aus Pygmalion und Venus wirkt mit ihrer interaktiven Dynamik in
alle Richtungen. Amor besetzt sowohl die metaphysische Position der Göttin als
auch die des schöpferischen Künstlers.
Die
Pointe der Narration ist die Verwandlung der Bildgestalt zur potentiellen
Geliebten, zum privaten Liebesobjekt. Nun scheint gerade das autopoietische
Spiel um (Medien-)Grenzen und die äußere Ähnlichkeit von zwei- und
dreidimensionaler Gestalt in Goethes Gedicht nahezulegen, mit dem (rhetorischen)
Begriff der Metalepse zu operieren. Die antike Rhetorik bezeichnet damit ein
Wortspiel. Quintilian läßt diese Figur nur für die Komödie gelten; sie sei
"äußerst selten und ungezogen, bei den Griechen jedoch häufiger."[46]
Gérard Genette, und seiner Terminologie folge ich hier, hat sie aus erzähltheoretischer
Perspektive bündig als eine Form "der übernatürlichen oder spielerischen
Überschreitung einer narrativen oder dramatischen Fiktionsebene"
bezeichnet.[47] Die Metalepse des Autors
besteht darin, daß suggeriert wird, der Dichter bewirke selbst die Dinge, die
er besingt.[48] Hier, im Gedicht, ist es die
Metalepse des Malers Amor, der leibhaftig hervorbringt, was er darstellt. Was
solche metaleptischen Spiele bewirken, ist eine Aufmerksamkeit "für die
Bedeutung von Grenze, die sie mit allen Mitteln und selbst um den Preis der
Unglaubwürdigkeit überschreiten möchte, und die nichts anderes ist als [...]
eine bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der
man erzählt, und der, von der erzählt wird."[49]
Oder, im Falle des Amor-Gedichtes, zwischen der der visuellen Repräsentation,
die erzählt wird, und dem Handlungsraum des sprechenden Ichs.[50]
Auch
die bildende Kunst kennt solche Verfahren der Überschreitung. Nicht im trompe
l'œil jedoch, der ein Illusionismus ist und dem die Lust verstandesmäßiger
Entlarvung folgt, haben sie ihr Korrelat, sondern in der Groteske und in der
Arabeske. Nur dort nämlich werden
Metamorphosen als Manöver von Transgressionen deutlich markiert,[51]
so wie es die Metalepse auf der narrativen Ebene tut.
Das
Thema der Grenze scheint mir also der Subtext des Gedichtes zu sein wie auch,
biographisch, das von Goethes italienischer Reise. Die Frage, wie Grenzen
beschaffen sind, welche Lähmung sie und welchen Gewinn Überschreitung
produziert,[52]
ist aber auch, das sollten die Hinweise auf Herder zeigen, ein theoretisches
Diskussionsfeld des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der Medienzauber in Goethes
"Amor"-Gedicht reflektiert diesen Zusammenhang als einen von
Darstellung und Unmittelbarkeit, Zeitlichkeit und Augenblick. Gegen die
entleerte Nicht-Gegenwart des Melancholikers, gleichbedeutend mit fehlender
Produktivität, setzt Amor sein tableau, dann dessen Verwandlung in
'Leben'. Durch diesen Wechsel von der Zweidimensionalität in die
Dreidimensionalität, von der Repräsentation in die 'lebendige Wirklichkeit'
ermöglicht Amor Kontakt. Liest man die Geschichte allegorisch, so ist die
Macht, die derartiges zustande bringt, 'Liebe', ein Imaginäres, das Welt
schafft. Wie das funktioniert, führt der Text vor: als Sprachspiel (ein
Vergleich wird konkret) und als Kunststück (Statisches wird dynamisch). Ist
Amor der Generator dieses Geschehens, Zeichenproduzent und Animateur gleichsam,
so ist das Ich des Textes der Nutznießer, der darüber seinen eigenen
Bewegungsimpuls zurückgewinnt. Über Amors Liebescode wird Fremdwahrnehmung möglich,
die wiederum Selbstwahrnehmung produziert - am Ende kein zweites Bild, aber
Autorschaft, das Gedicht. So wird Amor tatsächlich zum Lehrmeister. Seine
transgressive Potenz zielt darauf, Zeichen zu produzieren, deren
Stellvertreterfunktion er selbst anschließend durch seinen Akt der
'Verlebendigung' löscht. Was diese 'Löschung' bewirkt, ist der Impuls, dieses
Begehren und Erleben in einer 'Erzählung' zu kommunizieren, d.h. sie wiederum
in eine Zeichenordnung und in einen Code zu verwandeln.
In
Goethes fünfter Römischer Elegie wird dieser energetische Kreislauf zwischen
Begehren und Textproduktion Thema: Derweil Amor sich an der Lampe zu schaffen
macht, "durchglühet" der "Hauch" der Geliebten dem Sprecher
"bis in's Tieffste die Brust", während seine "leise [...]
fingernde Hand" das Versmaß des im Entstehen begriffenen Gedichtes auf den
Körper der Geliebten zählt.[53] Das Landschaftsmaler-Gedicht
verläuft in umgekehrter Richtung: Amor schafft eine ideale Bildlandschaft und
ein vollkommenes Mädchen. Ausgelöst von dieser idealen Repräsentation[54] vollzieht sich eine Sequenz der
Grenzüberschreitungen; sie verläuft über das (im Wortsinne) tableau vivant
zum Gestus der Präsenz, der die Vierte Wand der Bildbühne zum Einstürzen
bringt.[55]
Der offene Schluß verschiebt den Augenblick des Kontaktes ins Jenseits des
Textes und enthebt ihn so der Repräsentation, d.h. 'rettet' ihn einerseits und
disseminiert ihn andererseits, indem er ihn in die Imagination des Lesers
verschiebt.[56]
Gerade
durch diese paradoxale Struktur aber wird der poetische Raum umso deutlicher
markiert, dem ja auch die allegorische Kunstfigur des 'Amor' angehört.
Hederichs "Gründliches mythologisches Lexikon" erinnert daran, daß
eine "Eigentliche Historie" "bey ihm nichts zu suchen [hat], weil
er bloß ein erdichtetes Poetisches Wesen ist."[57]
Am Ende ist er von der Erzählbühne des Gedichts verschwunden. Wo die Körper
agieren, ist seine Mission beendet: Die (virtuelle) Realität gehört den
Liebenden - und der kreativen Phantasie des adressierten, nunmehr selbst
involvierten Lesers. Er kann die Leerstelle füllen oder das toucher
imaginieren, womit jene Berührung zwischen Text und Leser statthat, von der die
Bild-Betrachter-Geschichte spricht. Lektüre also - auch sie ein pygmalionisches
Belebungserlebnis.
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[1]
Italienische Reise, Eintrag vom 22. [recte 23.] Feb. 1788; WA I.32 (36), S. 276f. Das
Gedicht entstand frühestens im Oktober 1787, spätestens Februar 1788; vgl.
dazu Goethes Eintrag "Februar [1788...] Amor als
Landschaftsmaler." WA I.32(36), S. 467. An Interpretationen s. vor
allem S. Aschner: "Amor als Landschaftsmaler". In: Goethe-Jahrbuch
32, 1911, S. 183; Franz Rolf Schröder: Goethe, Amor als Landschaftsmaler.
In: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hg.
von Reinhold Grimm und Conrad Wiedemann. Berlin 1968, S. 158-170; Theodore
Ziolkowski: Die Natur als Nachahmung der Kunst bei Goethe. In: Wissen aus
Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman
Meyer zum 65. Geburtstag. In Verb. mit Karl Robert Mandelkow und Anthonius
H. Touber hg. von Alexander von Bormann. Tübingen 1976, S. 242-255; Heide
Eilert: Amor als Landschaftsmaler. Goethe und die Malerei des 18.
Jahrhunderts. In: Pantheon LI, 1993, S. 129-137. Norbert Miller: Der Dichter
ein Landschaftsmaler. In: Goethe und die Kunst. Hg. von Sabine Schulze.
Ostfildern 1994, S. 379-407, und Walter Pape: "Die Sinne triegen
nicht": Perception and Landscape in Classical Goethe. In: Reflecting Senses. Perception and Appearance in Literature, Culture,
and the Arts. Hg. von Walter Pape und Frederick Burwick. Berlin/New York
1995, S. 96-121. Emil
Staiger fiel nicht viel zum Gedicht ein: "ein deskriptives Stück, ganz
ohne lyrischen Schmelz und Klang, in leichten ungereimten Trochäen, die
ebensowenig Musik aufkommen lassen wie feste Bilder zu sondern und zu umreißen
imstande sind. Beispiel also eines noch unentschiedenen übergänglichen
Stils". Ders.: Goethe. Bd. 2. Zürich
1956, S. 43f.
[2]
Johann Gottfried Herder: Ausgewählte Werke. Hg. von Adolf Stern. Bd 2:
Schriften zur Literatur und Kunst. Leipzig o.J., S. 553-610. Vgl. dazu Inka
Mülder-Bach: Eine "neue Logik für den Liebhaber": Herders
Theorie der Plastik. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im
18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Hg. von Hans-Jürgen Schings.
Stuttgart/Weimar 1994 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 15), S.
341-370, sowie dies.: Autobiographie und Poesie. Rousseaus "Pygmalion" und Goethes "Prometheus". In:
Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. von
Mathias Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg 1997, S.271-298, hier S. 277,
und dies.: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung
der "Darstellung" im 18. Jahrhundert. München 1998.
[6]
Zum Metaphernarsenal der Melancholie vgl. Uwe Hebekus: "Practicus des
Indecori". Die Zeichen der Melancholie in Aufklärung und
Empfindsamkeit. In: DVjs 72, 1998, S. 56-80. Die Forschungsliteratur zur
Melancholie im 18. Jahrhundert ist seit Hans-Jürgen Schings’ Standardwerk
zu "Melancholie und Aufklärung" (Stuttgart 1977) inzwischen
Legion.
[7]
So etwa hatte Descartes' Methodologie eine Löschung vorausgesetzt und dies
mit dem Maler vor einer tabula rasa verglichen: "So wie Euer
Maler besser daran täte, dieses Gemälde ganz von vorne zu beginnen, nicht
ohne zuvor mit dem Schwamm alles, was sich darauf befindet, weggewischt zu
haben, statt Zeit mit Korrekturen zu vertun: so sollte auch jeder Mensch,
sobald er einen gewissen, das Alter der Erkenntnis genannten Punkt erreicht
hat, sich ein für alle Mal dazu entschließen, alle unvollkommenen
Gedanken, die man in seine Vorstellungskraft eingegraben hat, aus dieser
entfernen.'" René Descartes: Œuvres
philosophiques. Hg.
von Ferdinand Aliquié. Bd. II: 1638-1642. Paris 1967, S. 1117; die dt. Übers.
nach Victor I. Stoichita: Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der
Metamalerei. München 1998, S. 179. - Biographisch könnte die Situation des
Gedichtes, wenn man Amors Produktivkraft berücksichtigt, mit Goethes
'Wiederbelebung' in Rom zusammengebracht werden (vgl. Anm. 18).
[8]
Das Gedicht nähert sich einer in Versen erzählten "scène
lyrique", so die Bezeichnung von Rousseaus Monodrama
"Pygmalion" (1762); auf jeden Fall erscheint diese auf
Anschaulichkeit setzende Darstellungsform 'hybride'.
[9]
Vgl. dazu Goethes "Monolog des Liebhabers": "Was nutzt die glühende
Natur / Vor deinen Augen dir, / Was nutzt dir das Gebildete / Der Kunst
rings um dich her, / Wenn liebevolle Schöpfungskraft / Nicht deine Seele füllt
/ Und in den Fingerspitzen dir / Nicht wieder bildend wird?" WA I.2
(2), S. 189.
[10]Nach
der neuen goethezeitlichen Naturphilosophie erfährt der Mensch die Natur
durch seine 'innere Stimme'. Das hat weitreichende Konsequenzen:
"Sofern es eine innere Stimme oder eine innere Regung ist, durch die
wir Zugang zur Natur haben, gelangen wir nur durch die Artikulierung dessen,
was wir in unserm Inneren vorfinden, zur vollständigen Erkenntnis der
Natur. Das steht im Zusammenhang mit einem weiteren maßgeblichen Merkmal
dieser neuen Philosophie der Natur, nämlich mit dem Gedanken, daß die
Verwirklichung der Natur in jedem von uns zugleich eine Form von Ausdruck
ist. [...] Indem ich mich dieses Ausdrucks bediene, rücke ich bestimmte
Eigenschaften des Ausdrucksgeschehens in den Brennpunkt. Etwas ausdrücken
heißt: es in einem gegebenen Medium kundtun." Charles Taylor: Quellen
des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt a.M.
1994, S. 651. Auf das Gedicht übertragen, wäre das Wiedergewinnen einer
'inneren Stimme' die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation bis hin zu
ihrer elaboriertesten Form, dem gestalteten Kunstwerk.
[11]
"Es werde Licht" begründet Sichtbarkeit, Wahrnehmung von Farbe, Möglichkeit
von Leben überhaupt. Für Herder ist Malerei im wesentlichen magische
Lichtregie: "Von Einem Lichtpunkt der flachen Tafel ergießt
sich ein Zaubermeer von allen Seiten, das jeden Gegenstand, wie in
neuer, eigener Schöpfung bindet." Herder: Plastik (Anm. 2), S. 576.
[12]
Nach 2. Mos. 31,18 hat der Finger Gottes die Gesetzestafeln für das jüdische
Volk geschrieben, die Moses auf dem Berg Sinai entgegennimmt. Auf Goethes
Bergspitze wird kein Gesetz, sondern 'digital' (lat. digitus = Finger) ein
Bild erschaffen. Als solches tradiert es keine Vorschrift und
Handlungsanweisung, sondern es aktiviert und animiert.
[13]
Gleichwohl ist auch bei Michelangelo der Finger ein Kanal, durch den sich -
in einem Gestus unnachahmlicher Spannung - der Seelenhauch überträgt.
[14]
'Zeichnen' und 'Malen' werden im Text synonym gebraucht; er bezieht somit
keine Position zu dem im 18. Jahrhundert eskalierenden Streit zwischen disegno
und colorito, als dessen Repräsentanten einerseits Poussin,
andererseits Rubens - oder auch Watteau, Boucher und Fragonard - gelten.
[15]
Herder hatte im "Plastik"-Aufsatz die Oberflächenkunst der
Malerei - seinem Denkmodell gemäß abwertend - so charakterisiert:
"Was kann das Licht in unser Auge malen? Was sich malen läßt, Bilder.
Wie auf der weißen Wand der dunklen Kammer, so fällt auf die Netzhaut des
Auges ein Strahlenpinsel von allem, was vor ihm stehet [...] / Die weite
Gegend, die ich vor mir sehe, was ist sie mit allen ihren Erscheinungen, als
Bild, Fläche? Jener sich herabsenkende Himmel und jener Wald, der sich in
ihn verliert, und jenes hingebreitete Feld, und dies nähere Wasser, und
dieser Rahme von Ufer, die Handhabe des ganzen Bildes - sind Bild, Tafel,
ein Continuum neben einander. Jeder Gegenstand zeigt mir gerade so
viel von sich, als der Spiegel von mir selbst zeigt, das ist Figur, Vorderseite;
daß ich mehr bin, muß ich durch andere Sinne erkennen, oder aus Ideen
schließen." Herder: Plastik (Anm. 2), S. 555. Eben diese 'anderen
Sinne' aktiviert Goethes Amor durch die libido videndi; gegenüber
Herder ist das eine integrale Konzeption.
[16]
An Eckermann am 10.4.1829; Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in
den letzten Jahren seines Lebens. Nach dem ersten Druck, dem
Originalmanuskript des dritten Teils und Eckermanns handschriftlichen Nachlaß
hg. von H. H. Houben. 25. Aufl. Wiesbaden 1959, S. 271. Claude Lorrain war
in Goethes Gepäck, als er Rom verließ, und er plante weitere Ankäufe; s.
WA II.33 (126), S. 236.
[17]
Das toucher oder movere, welches die ästhetische Theorie des
18. Jahrhundert aus der rhetorischen Wirkungslehre abgeleitet hat und die
Rhetorik wiederum aus der ursprünglichen konkreten physiologischen
Bedeutung von "be-rühren" in die übertragene psychologische des
"Rührens" verwandelt hat, wird hier ebenso 'natürlich' gewendet
wie die Nebelwand in Amors Leinwand. Die alles erfassende 'Bewegung'
erscheint natürlich und zugleich phantastisch; so weist sie beiläufig auf
ihre Konstruktion hin. Wenn Amor mit seinem Pinsel touchiert, wenn die Frau
sich leibhaftig bewegt, wenn so die Lust konkret in Bewegung sich äußert,
dann setzt der Text rhetorische Übertragungsverfahren und Wirkungsweisen
optisch-theatral in Szene.
[18]
"Sehr wundersam drängt sich in dieses Jahr soviel zusammen. Heilsam
und gesegnet, daß auf eine lange Stockung wieder eine Lebensregung sich rührt.
Ich finde mich viel, viel besser und anders [...] alles wird mir lebendig
und drängt auf mich zu. [...] An diesen Ort knüpft sich die ganze
Geschichte der Welt an, und ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre
Wiedergeburt von dem Tage, da ich Rom betrat." An Herder und seine Frau
Karoline (2.12.1786); vgl. auch den ersten Brief an Herzog Carl August von
Sachsen Weimar (Rom, 3. Nov. 1786) und den Brief an Charlotte von Stein, in
dem er davon spricht, daß er erst verlernen habe lernen müssen:
"Die Wiedergeburt, die mich von innen heraus umarbeitet, würkt immer
fort, ich dachte wohl hier was zu lernen, daß ich aber so weit in die
Schule zurückgehn, daß ich so viel verlernen müßte, dacht ich
nicht. Desto lieber ist mir's, ich habe mich ganz hingegeben, und es ist
nicht allein der Kunstsinn, es ist auch der moralische, der große
Erneuerung leidet." (20.12.1786) Alle Zitate nach: Johann Wolfgang
Goethe: Briefe aus Italien 1786-1788. Hg. und erläutert von Peter
Goldhammer. München 1983, S. 33, S. 12f., S.44.
[19]
Der für Spinoza zentrale Begriff der tätigen Kraft wurde für Goethe in
den achtziger Jahren, im Gespräch mit Jacobi und Herder, aber auch im
Kontext seiner Metamorphosenlehre noch einmal hoch aktuell. In
"Dichtung und Wahrheit" (14. und 18. Buch) spricht Goethe von dem
"so großen Einfluß" Spinozas, in einem Brief an Friedrich
Heinrich Jacobi vom 21. Okt. 1785 heißt es: "Du weißt [...] daß ich,
ohne seine [Spinozas. U.R.] Vorstellungsart von Natur selbst zu haben, doch
wenn die Rede wäre ein Buch anzugeben, das unter allen die ich kenne, am
meisten mit der meinigen übereinkommt, die Ethik nennen müsste."
WA IV.7 (100), S. 110. Und im "Tagebuch der Italiänischen Reise für
Frau von Stein" erinnert Goethe: "Herder scherzte immer mit mir,
daß ich alle mein Latein aus dem Spinoza lernte, denn er bemerckte daß es
das einzige lateinische Buch war das ich las." (10. Okt. 1786; WA III.1
(78), S. 290. Herders 1787 erschienene Schrift "Gott. Einige Gespräche",
die eine Summa seiner Beschäftigung mit Spinoza darstellte, fand von Rom
aus Goethes volle Zustimmung; vgl. dazu auch Goethes Paralipomena vom
Oktober 1787: "Castel Gandolfo. [...] Nochmals über Herders Werk.
[...] Herders Ideen. Buch über Mahlerey und Bildhauerkunst." Und:
"Philosophische Reflexionen bey Gelegenheit von Herders Gott." WA
I.32(36), S. 466 und 478.
[20]
Herder hatte die Möglichkeit der Verlebendigung eines Bildes ebenfalls in
Betracht gezogen (wobei, argumentiert man kunsthistorisch, das Rokoko ein
solches Dynamisierungsmodell ja beinahe zwingend nahegelegt hat). Nach
Herder ist sie entweder Folge eines kindlichen Illusionismus oder aber, wie
bei Goethe, der Liebe. Jedenfalls ist diese "Täuschung" bei
Herder letztlich eine Strategie des Bildes, das damit seine fehlende
Dreidimensionalität zu kompensieren trachtet: "Ein Kind, ein rohes
Auge [...] kann sich, so lange die Figur ihm am Bret klebt, jenen Schatten,
diesen Streif nicht erklären; es gaffet. Nun aber fangen die Figuren an,
sich zu beleben; ist's nicht, als ob sie hervorgingen und würden Gestalten?
Man sieht gegenwärtig, man greift um sie, der Traum
wird Wahrheit. Die höchste Liebe und Entzückung macht also gerade
das, was dort die Unwissenheit that, und eben das ist der Triumph des
Malers! Durch seinen Zaubertrug sollte Gesicht Gefühl werden, so wie bei
ihm das Gefühl Gesicht ward." Herder: Plastik (Anm. 2), S. 557f.
Goethe wendet den Bildzauber existentiell: er heilt den Betrachter, d.h. die
Metamorphose hat bei ihm nicht den Status des Illusionistischen, sondern des
Allegorischen.
[21]
"Vor-Augen-Stellen [...] hat als figurales Verfahren mit Aktualität
und Inkraftsetzen zu tun; 'energeia', sein griechischer Name, heißt
lateinisch 'actualitas'. [...] Seit Aristoteles und der hellenistischen
Rhetorik sind dem Vor-Augen-Stellen unterschiedliche Rollen zugewiesen
worden: Evidenz und Schilderung, lebendiges Bild und anschauliche Metapher,
pathetische Vergegenwärtigung und durchsichtiger Stil." Rüdiger
Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In:
Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hg. von
Gerhard Neumann. Stuttgart/Weimar 1997 (Germanistische-Symposien-Berichtbände.
18), S. 208-225, hier S. 208f. Nach der Stillehre von Johann Christoph
Adelung (1785) macht die Hypotypose den Stil anschaulich und lebhaft;
"[e]in Ausdruck ist lebhaft, wenn er die untern Kräfte der
Seele in Bewegung setzt. Die Lebhaftigkeit des Styles ist folglich diejenige
Vollkommenheit desselben, nach welcher er auf die untern Kräfte der Seele
wirket; oder mit andern Worten, welche eine anschauende Erkenntniß
gewähret, bey welcher man das Bezeichnete klärer denkt, als das
Bezeichnende." (Zit. nach ebd., S. 210f.) Wenn nun Adelung bei der Erörterung
der "ästhetischen Ideen" davon spricht, daß der "Geist in
ästhetischer Bedeutung [...] die Seele belebt" und der
Einbildungskraft den "Schwung" zur Eigenschwingung erteilt, so
sagt er bei der Hypotypose von dieser psychologischen Funktion überraschenderweise
nichts. Campes Schlußfolgerung: "in der Setzung der Darstellung als
Begriff 'Hypotypose' trennt das Anschauliche das Lebhafte - als Gemütsbelebung
- von sich ab." (Ebd. S. 211)
[22]
Die ältere Kunsttheorie faßt dies im Begriff der admiratio; es ist
ein im Gegenüber der Kunst erfahrenes, anders nicht erreichbares Gefühl
der Überraschung und der Faszination vor jeder Unterscheidung: "Im
Begriff der admiratio fließen Verwunderung und Bewunderung
zusammen. [...] L'admiration ist die erste Passion, ist Staunen aus Anlaß
von Abweichung. Sie ist noch nicht Erkenntnis, also noch nicht nach
wahr/unwahr binär codiert. In heutiger Terminologie würde man
vielleicht von 'Irritation' oder 'Perturbation' sprechen." Niklas
Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 234.
[23]
Solche dynamischen Interaktionsmodelle waren Mitte des 18. Jahrhunderts in
den Naturwissenschaften und der sich herausbildenden Anthropologie
entstanden. So schreibt Charles Bonnet in seinem "Essai de
psychologie" (1755): "Die Einheit der Seele mit dem Körper ist
dergestalt, daß sich im Falle gewisser Vorstellungen, die sich der Seele
bieten, im Körper gewisse Bewegungen erregen, die diese Vorstellungen
lebendiger machen. Diese steigern so ihrerseits die Kraft der Bewegungen,
und aus dieser Art von Aktion und Reaktion erfolgt die Passion, die sich
unaufhörlich steigert." [Charles Bonnet:] Essai de
psychologie. London
[Genf] 1755, Kap. 46. Vgl. dazu Jean Starobinski: Aktion und Reaktion. Leben
und Abenteuer eines Begriffspaars. München 2001, S. 117f. Goethe gibt
diesem Vorgang einen Namen - 'Liebe' - und transzendiert so den
psychologisch-mechanistischen Vorgang zu einem Phänomen (metaphysischer)
Magie.
[25] Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5.2: Werke 1766-1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 57), S. 134. „Belastet man diese Verwandlung“, kommentiert Inka Mülder-Bach Lessing, „mit einem pygmalionischen Gewicht, so könnte man auch sagen: Das homerische Verfahren ist selbst schon jene Metamorphose, in der poetische Erfahrung nach dem traditionellen Modell der Belebung erst kulminiert.“ Dies.: Im Zeichen Pygmalions (Anm. 2), S. 137.
[26]
Hesiod:
Theogonie 120ff. Wenn er auch wie ein Knabe aussieht, so ist er doch älter
als Kronos und hat unbeschränkte Macht über Götter und Menschen.
[27]
"Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in den
bildenden Künsten gemacht habe: so viel ist gewiß, daß sie den großen
alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden." Lessing: Laokoon (Anm.
25), S. 22. Lessing
bezieht sich auf Plinius' "Naturalis historia", XXXV,15 und 43.
[28]
"Es handelt sich um nichts weniger als um eine Metaphysik des Bildes,
dessen Ursprung in einer unterbrochenen Liebesbeziehung zu suchen wäre, in
der Trennung, in der Entfernung des Modells, woraus der
Substitutionscharakter der Darstellung erfolgen würde." Victor I.
Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens. München 1999, S. 15.
[29] Obwohl das sprechende Ich - das ist eine ironische Pointe - Amor am Ende imitiert; er spricht mit dem Leser wie Amor mit ihm, was heißt, er löst auf anderer Ebene eben doch mimetisches Begehren aus, man könnte sagen, als Lehrmeister.
[30]
"Du bist nur Bild, Erinnerungstraum des Glücks, das ich so lang
besessen" (Egmont V. Akt), wäre die melancholische Gegenfigur zu Amors
Gegenwartslust.
[31]
Was unsere Zeit als 'Liebe' definiert, ist zwar anders codiert, aber nicht
so weit entfernt von Goethes Konstruktion, wie man meinen möchte:
"Ihre besondere Eigenart gewinnt die als Liebe bezeichnete
zwischenmenschliche Beziehung dadurch, daß ihr Wert, über eine
Zweck-Mittel-Überlegung hinausgehend, in der Liebe des anderen (...) oder
in der Liebe selbst erfahren werden kann. Liebe ist so weder dem Subjekt
noch seinem Gegenüber allein zuzuordnen, sondern hat ihren Ort in einem
zwischen den Liebenden entstehenden Vorstellungs- und Erfahrungsraum, der
seinerseits durch dialogische Anlage (...) die Existenz der Beteiligten verändert
oder bestimmt." Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden. 19., völlig neu
bearbeitete Aufl. Bd. 13. Mannheim 1990, S. 377.
[32]
Slavoj Žižek: Die Pest der Phantasmen. Die Effizienz des Phantasmatischen
in den neuen Medien. 2. verb. Aufl. Wien 1999, S. 25.
[33] Als Werther sich, gegenläufig zum Gedicht, der Schwelle “zwischen Seyn und Nichtseyn“ nähert, erscheint ihm die Natur „so starr (...) wie ein lackirtes Bildchen“. Der Verlust der Liebe bzw. seines Glaubens, auf Lottes innerer Bühne eine zentrale Rolle zu spielen, ist gleichbedeutend mit dem Verlust welterzeugender Kreativität: “Ich leide viel, denn ich habe verloren, was meines Lebens einzige Wonne war, die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf (...).“ Brief vom 3. November; WA I.19 (22), S. 128.
[34]
Der Begriff des capriccio ist im Zusammenhang von Goethes Gedicht
deshalb fruchtbar, weil er eine kunstästhetische Bewegung des 18.
Jahrhunderts repräsentiert, die statt der mimesis die inventio
stark macht und darin Vorschrift und Freiheit, Regel und Regelverletzung
reflektiert. Ekkehard Mai nennt Capricen "'Sprungbilder' der
Subjektivität". Der Begriff bedeutet "Laune, Einfall, Gedanke,
Idee, Erfindung und adjektivisch steht 'kapriziös' für launenhaft,
eigenwillig, überraschend und gekünstelt", auch für Bocksprünge der
Phantasie und "Seitensprünge des Gewohnten", für eine zweite
Wirklichkeit mithin, wie z.B. die des Traums. "Der 'free flow' der
gestalterischen Phantasie nahm vor allem in der Dekorationskunst, aber auch
in der Kombinatorik der Landschaftsmalerei und ihrer grundsätzlich freien
Verfügbarkeit, ja Kombinatorik der Motive [...] seinen Lauf. [...] Diese
Gedanken- und Seitensprünge des Gewohnten, etwa in Bildarchitektur und
Landschaft bei Lorrain und den Italianisanten, treten oft nur als 'hidden
sense' und 'disguised symbolism' in Erscheinung und werden gemeinhin der
Klassiktradition unterworfen." Das Capriccio als Kunstprinzip.
Zur Vorgeschichte der Moderne von Arcimboldo und Callot bis Tiepolo und
Goya. Malerei - Zeichnung - Graphik. Hg. von Ekkehard Mai. Wien 1996, S.
16-18. - Goethes italienischer Wohngenosse Tischbein hatte eine Schwäche für
solche Kapriolen.
[35]
"Amore pittore. Epigramma XIV // Un di sorpreso, o Fille, / Vidi Amor
fanciuletto, / Che, squarciata la benda alle pupille, / Pingeva attento
innazi al cavalletto: / Ma quando mi appressai / Al Pittore novello, /
Doppiamente sorpreso rimirai, / Che un dardo era il pennello, / La tela era
il mio core, / E la tua imago dipingeva Amore." Giovanni Gherardo De
Rossi: Scherzi Poetici e Pittorici. Parma 1795 (o.S.). Vgl. auch Carlo
Fasola: Giovanni Gherardo De Rossi e August von Platen. In: Rivista die
letteratura Tedesca 2, 1908, S. 223-240. Fasola
hat De Rossis Text als eine Quelle für Platen ausgemacht; in diesem
Zusammenhang weist er auch auf Goethes "Amor"-Gedicht und seine
Episode mit der "schönen Mailänderin" hin.
[36]
De Rossi war der erste Biograph von Angelica Kauffmann. Seine Erinnerungen
an sie erschienen kurz nach dem Tod der Künstlerin 1810 in Florenz unter
dem Titel "Vita di Angelica Kauffmannn pittrice. Catalogo delle opere d'intaglio di Raffaello
Morghen, raccolte ed illustrate da Niccolo Palmerini" (erste dt. Übersetzung
durch Alois Weinhart: Leben der berühmten Mahlerinn Angelika Kauffmann,
Bregenz 1814). Vgl. jetzt auch Angelika Kauffmann: Briefe einer Malerin.
Ausgewählt, kommentiert und mit einer Einleitung von Waltraud Maierhofer.
Mainz 1999. Rossis "Favole" (Fabeln im Stile La Fontaines) von
1788, möglicherweise ein Geschenk De Rossis, haben sich in Goethes
Bibliothek erhalten. Vgl.
Roberto Zapperi: Das Inkognito. Goethes ganz andere Existenz in Rom. 2. durchges. Aufl. München
1999, S. 79f., der im übrigen dem Aufenthalt Goethes in Rom akribisch
nachspürt.
[38]
Johann Gottfried Herder: Italienische Reise. 1788-1789. Hg. von Albert Meier
und Heide Hollmer. München 1989, S. 209.
[40]
"Das Studium der Kunst wird sehr ernsthaft getrieben, besonders da ich
jetzt Zeit vor mir sehe. [...] Kaum war die erste Begierde des Anschauens
gesättigt, kaum hatte sich mein Geist aus der Kleinheit der
Vorstellungsart, die uns Ultramontanen mehr oder weniger anklebt, erhoben:
so sah ich mich schnell nach den besten und sichersten Wegen um. Ich fand
sie leicht und gehe nun Schritt vor Schritt darauf hin, langsam, aber
sicher, als wenn es mein Metier werden sollte, und so, daß ich festen Grund
habe, auf dem ich, selbst in der Entfernung von diesen Gegenden [...]
fortbauen kann. Glücklicherweise hab ich auch eine Kombination der Kunst
mit meiner Vorstellungsart der Natur gefunden, und so werden mir beide
doppelt lieb." An Karl Ludwig von Knebel aus Frascati, 3. Oktober 1787,
in: Goethe: Briefe aus Italien (Anm. 18, S. 106.
[44]
Vgl. den von Neumann und Mayer hg. Pygmalion-Band und die Arbeiten von Inka
Mülder-Bach (Anm. 2).- Zum Namen Galathea resp. Elise oder Eliza s.
Heinrich Dörrie: Die schöne Galathea. Eine Gestalt am Rande des
griechischen Mythos in antiker und neuzeitlicher Sicht. München 1968. Auch
Herder, wie Johann Jakob Bodmer ("Pygmalion und Elise"; 1747),
nannte in seinem "Plastik"-Aufsatz Pygmalions Geliebte so.
[45]
Als Belege für den Finger als schöpferisches Werkzeug nennt Schröder
neben dem "Monolog des Liebhabers" (vgl. Anm. 9) Goethes Künstlerlieder
"Künstlers Abendlied" und "Kenner und Künstler". Ders.:
Goethe (Anm. 1), S. 169.
[47]
Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 1993, S. 505; und ausführlicher
ders.: Die Erzählung. Hg. von Jochen Vogt. München 1994, S. 167ff. Eine
knappe Zusammenfassung gibt der Lexikon-Eintrag von Beate Müller: Die
Metalepse (gr. metalepsis: Umtausch) bezeichnet nach Genette "den
Wechsel zwischen narrativen Ebenen, der auftritt, wenn zwischen diegetischer
[...] und extra- oder metadiegetischer Welt hin und hergeschaltet wird.
[...] Mit parallel konstruierten Begriffen wie z.B. der Prolepse oder
Analepse hat die M[etalepse] den Wechsel der narrativen Ebenen gemein. Im
Gegensatz zu diesen primär temporal ausgerichteten Konzepten, die die
Ordnung, die Dauer und die Frequenz betreffen, gehört die M[etalepse]
jedoch zur Kategorie der Stimme, da sie die narrative Instanz unmittelbar
ins Spiel bringt. - Die metaleptische Transgression birgt ein komisches und
phantastisches, auch illusionsstörendes Wirkungspotential [...]." Die
Metalepse mit ihren spielerisch-ironischen Effekten bietet "Möglichkeiten
zur Reflexion der Literatur als Medium". Dies.: Stichwort 'Metalepse'.
In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen -
Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart / Weimar 1998, S. 363.
[50]
Eine andere Form der metaleptischen Überschreitung inszeniert Diderots
Salonkritik von 1767. Ein Gang in die Landschaft erweist sich dort als
virtuelle 'Reise' in die Bildlandschaften Vernets. Anders als bei Goethe
geht es bei Diderot um das Vergnügen an der "vollkommenen Täuschung",
die erst am Ende 'auffliegt'; Goethes Gedicht hingegen schildert gerade die
Prozessualität und den gleitenden Übergang von einem Medium ins andere,
korrespondierend mit der allmählichen Ausflösung der Melancholie.
[51]
Zum 'Arabeskenstreit' im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vgl. Günter
Oesterle: Arabeske. In: Ästhetische Grundbegriffe 1. Hg. von Karlheinz
Barck u.a. Stuttgart/Weimar 2000, S. 272-286, 274f. Goethe entfaltet seine
Position in Wielands "Merkur" mit dem Aufsatz "Von
Arabesken" (1789; WA I.47, S. 238f.) Ihm wie auch auch Tischbein ist
die Arabeske Signum der heiteren, spielerischen Welthaltung der Römer. Vgl.
Johann Heinrich Wilhelm Tischbein/Henriette Hermes: Die Eselsgeschichte oder
der Schwachmatikus und seine vier Brüder, der Sanguiniker, Cholerikus,
Melancholikus und Phlegmatikus nebst zwölf Vorstellungen vom Esel (1812).
Kiel 1987. 'Arabesk' in Goethes Gedicht wäre das kokette Spiel der
Amorfigur und die Überführung des unbelebten Kunstwerks in die
dargestellte 'Wirklichkeit' des sprechenden Betrachter-Ich.
[52]
Im Alter findet Goethe dafür Eckermann gegenüber einen sehr prosaischen
Satz, wenn er von der "Flucht nach Italien" spricht, "um sich
zu poetischer Produktivität wieder herzustellen" (an Eckermann;
10.2.1829).
[53]
WA I.1 (1), S. 239. Subtil kommt auch hier die Dibutades-Fabel ins Spiel;
dabei wird die Version, die Rousseau erzählt, umgeschrieben: "Die
Liebe, so sagt man, war die Erfinderin der Zeichnung. Sie hätte auch die
Sprache erfinden können, freilich mit geringerem Glück. Wenig zufrieden
mit dem Wort, verachtet sie es; sie hat lebendigere Möglichkeiten des
Ausdrucks. Wozu sollte diejenige, die mit so viel Vergnügen den Schatten
ihres Geliebten nachzeichnet, ihm irgend etwas sagen? Welche Töne hätte
sie benutzen sollen, um die Bewegung ihres Stockes [Stiftes]
wiederzugeben?" Jean Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der
Sprachen... In: Ders.: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften. Übers.
von Dorothea und Peter Gülke. Wilhelmshaven 1984, S.99-168, S.
100. Amor hat
noch die Lampe in der Hand, die den Schatten wirft; den Pfeil aus seinem Köcher,
den er in verschiedenen Darstellungen um 1800 für den Umriß zur Verfügung
stellt, braucht der Liebende hier nicht. Es ist sein Finger, wie im
"Amor"- Gedicht, der die Gestalt (in diesem Falle das Metrum)
hervorbringt, die Alternative zur "Bewegung des Stiftes", könnte
man sagen, die Rousseau für 'unausdrücklich' erklärt.
[54]
Sie bezeugt, daß auch der Gestus der Präsenz vermittelt ist. Selbstredend
müßte deshalb eine das Liebesmodell reflektierende Lektüre auf den
spezifischen Code zu sprechen kommen, der von der Empfindsamkeit sein
pygmalionisches Modell einer "affektiven Nahkommunikation zwischen
einem männlichen Produzenten/Rezipienten und einem weiblichen (Zeichen-)Körper"
bezieht und gleichzeitig diese Asymmetrie ausstellt. Vgl. dazu Mülder-Bach:
Im Zeichen Pygmalions (Anm. 2), S. 18.
[55]
Man könnte Goethes "Amor"-Gedicht auch mit Blick auf die
grundlegende, im Anschluß an Diderot geführte Diskussion um die Szene als
Bild bzw. die Bühne als Tableau, ihre 'Rahmenbedingungen' und ihre
paradoxale Verfaßtheit lesen. Herder konstruiert im Anschluß an Diderot
seine Hierarchie der Sinne mit dem Tastsinn als jenem 'paradigmatischen'
Sinn, der anders als das zerstreute Sehen immer zugleich Außen- und
Innenwahrnehmung ist. Zur Diskussion s. Günter Heeg: Szenen. In:
Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hg. von Heinrich
Bosse und Ursula Renner. Freiburg 1999, S. 251-269, und Johannes Friedrich
Lehmann: Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und
des Visuellen bei Diderot und Lessing. Freiburg 2000.
[56]
Daß hier ein zentrales Thema des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Spiel ist,
darauf hat die neuere Forschung im Zusammenhang der grundsätzlichen
Auseinandersetzung um eine Semiotik der Sinne, um Sprache, Darstellung und
Repräsentation hingewiesen: "Der Traum von der vollkommenen Sprache
begleitet die Moderne [um 1800], ihre Sprachskepsis und ihre Einsicht in die
zeichenhafte Vermitteltheit der
Welt von ihren Anfängen an. [...] Die rationalistische binäre Zuordnung
von Signifikant und Signifikat in der Repräsentation wird gesteigert und
intensiviert zum 'Ausdruck'. [...] Innerhalb der Ästhetikgeschichte
entspricht diesem Wandel in der Auffassung des Verhältnisses von Zeichen
und Bedeutung der Übergang vom 'ut pictura poesis'-Gebot der mimetischen
Kunstauffassung etwa des Frühklassizismus zur Illusionsästhetik der
zweiten Jahrhunderthälfte. [...] Im Illusionismus steht die Grenze von
Kunst und Leben zur Disposition, ist Gegenstand eines bereits artifiziellen
Spiels, das in der Simulation der Überschreitung des Zeichencharakters der
Kunst zum scheinbar anwesenden Leben zugleich die mediale Bedingtheit bewußt
werden läßt. Das pygmaliontische Modell verweist auf die Variabilität
dieser Grenze, die nicht mehr wie in der rationalistisch-mimetischen
Kunstauffassung durch die objektive Repräsentationsfunktion festgelegt ist.
Es sind Grenzspiele, die in der Simulation von Anwesendheit [!] auf jene
Abwesenheit reflektieren, welche unabschließbares Begehren erzeugt und die
erotische Energie des neuen, radikal subjektivierten Betrachterverhältnisses
ausmacht. Das ist die sentimentalische Grundstruktur der Präsenzphantasien.
Sie setzt das Bewußtsein voraus, daß Kunst nicht Leben oder Natur ist,
noch sie jemals präsentieren kann, und macht das Verhältnis von Kunst und
Bedeutung, Leben und medialer Brechung zu einem paradoxen und unlösbaren."
Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz' und
Schillers Semiotik der Sinnlichkeit. Würzburg 1998, S. 19f.