Vom Lesen erzählen - Anton Reisers Initiation in die Bücherwelt
Ursula
Renner
In ihrer Erscheinung ist Sprache deskriptiv. Wenn du deine Geschichte erzählst, erzählst du, wie es war [...] In ihrer Funktion ist Sprache konstruktiv, da keiner die Quelle deiner Geschichte kennt. Keiner weiß und wird je wissen, wie es war: denn was war, ist für immer verloren.
*
Bitte nie zu sagen, ,das ist langweilig, das kenne ich schon.‘ Das ist die größte Katastrophe! Immer wieder sagen, ,ich habe keine Ahnung, ich möchte das noch einmal erleben.‘
Heinz
von Foerster[1]
Die
vielleicht bewegendste literarische Lebensgeschichte des 18. Jahrhunderts, Karl
Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790), ist ein in vieler Hinsicht
hybrider Text. Weder Liebes-, Familien- noch Bekehrungsgeschichte erzählt sie
den ins Leere laufenden Bildungsweg eines Melancholikers. Eingeschrieben ist ihr
eine Lektüre- und Autorbiographie, in der Lesenlernen und die Initiation in die
Bücherwelt eine Schlüsselfunktion haben.[2]
Daß meine Darstellung dieser Initiation in einen so breiten Rahmen eingelassen
ist, muß begründet werden. Er soll zeigen, wie die in den Vorreden geforderte
Aufmerksamkeit für alltägliche Details über die Ordnung des Erzählens
generiert wird; und zwar eines Erzählens, das Kontexten auf der Spur
ist. Interessiert hat mich sowohl die Deskription wie auch die Konstruktion
dieser Geschichte, und so ist mein Beitrag auf den Umfang von zweien
angewachsen...
Als
Werkzeuge des Verstehens setzt der Erzähler auf ,Wahrnehmung‘,
,Beobachtung‘ und ,Erinnerung‘. Er inszeniert und reflektiert sie als Medien
der (Selbst-)Erkenntnis.[3]
Damit wird einerseits das durch den Pietismus aktivierte (auto-)biographische
Schreibprogramm aufgerufen, andererseits subvertiert der Reiser-Roman
gerade dieses und nimmt es für einen Gegendiskurs – der Selbstsorge? - in
Anspruch. Geht es doch nicht zuletzt darum, der durch den pietistischen
Fundamentalismus, so jedenfalls ein Argument des Romans, (mit-)produzierten
Melancholie nachzuspüren und deren (seit das Argument der Gottverlassenheit
kein hinreichender Grund mehr ist) irritierende ,Grundlosigkeit‘ zu enträtseln.[4]
Wahrnehmen,
Beobachten, Erinnern sind Themen und Handlungen, die die Aufklärung (wie schon
der Pietismus) nachhaltig bewirtschaftet hat.[5]
Sie hat sich damit nicht nur neue Perspektiven und Zugriffsmöglichkeiten auf
,den Menschen‘ geschaffen, sondern auch eine Fülle von Schwierigkeiten und
ungelösten Problemen eingehandelt: Kardinal ist nicht nur die Frage, wie man
der komplexen Suchfigur ,Individualität‘ analytisch und erzählerisch
beikommt, ein Problem ist ebenso, wie das Innere beobachtbar ist oder – auch
das beschäftigt Moritz – was man mit Dingen macht, die sich beobachten, aber
nicht lehren lassen, wie z.B. – und das ist überraschend - der Stil.[6]
(Selbst-)Beobachtung
ist eng verknüpft mit der Frage nach der Funktion von Erinnerung, woraus dieser
„psychologische Roman“ ja seine Geschichte bezieht. Nicht das Geringste, was
er entdeckt, ist, daß das Erzählen von ,Leben‘ – auch ,Lesen‘ – der
Kontrolle durch eine affektive ,Einstellung‘ unterliegt (repräsentiert durch
die Erzähler- bzw. Herausgeberstimme, die das Dargestellte rahmt, kommentiert,
beurteilt, ordnet) und daß Introspektion immer eine Form der Retrospektion ist,
die denselben Mechanismen von Selektion und Konstruktion unterliegt wie das
Erinnern.[7]
Die histoire ist – auch für Moritz schon – nur als discours
zu haben; ,Lebensgeschichte‘, mit ihren beiden starken Referenten ,äußere
Erfahrung‘ und ,innere Empfindung‘, erweist sich als ein komplexes
narratives Geflecht aus Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung. Sie generiert die
Erkenntnis, „daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus
einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser
Verflechtung äußerst wichtig werden“ (I 120). Die Menge der anscheinend
belanglosen Details bildet die Matrix, auf der sich – das meint wohl das Credo
ihrer ,grundsätzlichen Wichtigkeit für einen einzelnen Menschen‘ (I 36) –
Machtstrukturen, etwa im dynamischen Spiel von Anerkennung und Entwertung,
einschreiben und beobachten lassen. Über das, was für das Wissen vom Menschen
relevant ist oder was Ereignis wird, entscheidet also erst der nachträgliche
Bearbeitungsprozeß, und ein solcher ist zweifellos das Erzählen.[8]
Der
Blick auf Reisers Lesesozialisation zeigt, daß der Roman mit seiner narrativen
Datenerhebung den diskursiven und disziplinarischen Praktiken, die ,Erziehung‘
im ausgehenden 18. Jahrhundert ausmachen, auf der Spur ist. Selbstbeobachtung
und Fremdbeobachtung werden dabei enggeführt, denn das Lesenlernen vollzieht
sich an einer besonderen Schnittstelle von ,Außen‘ und ,Innen‘. Das
Beobachten dieser Prozedur erscheint als eine intellektuell mächtige,
wenngleich aporetische Strategie, die empirisch und hypothetisch etwas über den
,ganzen‘ schwierigen Menschen lesbar zu machen sucht.
Ein
anderer Text, Moritz’ ABC-Buch, illustriert das Problem im 7. Bild, das
den Buchstaben G mit dem Stichwort ,Geist‘ erläutert:
Nachdenken
/ Ein Mann sitzt an einem Tische. / Auf dem Tische liegt ein Buch. / In dem
Buche hat der Mann gelesen. / Der Mann denkt nach. / Ich lese in diesem Buche. /
Nachher mache ich das Buch zu. / Dann muß ich nachdenken, was ich gelesen habe.
/ Das Buch liegt vor mir. / Das Denken ist in mir. / Das Buch kann
man mir wegnehmen. / Das Denken kann man mir nicht wegnehmen. / Du weißt nicht,
was ich denke. / Ich weiß nicht, was du denkst. / Ich kann dich wohl sehen. /
Aber das Denken in dir kann ich nicht sehen. / Der Mann an dem Tische denkt
nicht mit der Hand. / Er denkt nicht mit den Augen. / Er denkt nicht mit den
Ohren. Er denkt mit dem Geiste. / Den Geist des Mannes kann ich nicht sehen. /
Denn der Geist des Mannes ist in ihm. / Der Geist des Menschen in ihm denkt.[9]
Ein
Beobachter beobachtet, daß jemand in einem Buch liest und anschließend das
Gelesene bedenkt. Der Beobachter vollzieht dieselbe Prozedur. Er stößt dabei
auf das Problem, daß das Objekt der Außenwelt – das Buch, der Text – sich
zwar gleich bleibt, die Signifikate und Vorstellungen aber, die der Text im
anderen auslöst, individuell variieren und vom Beobachter nicht ,gewußt‘
werden können. Die Beobachtung zerfällt, so das Ergebnis von Moritz’ Exempel
zum Intersubjektivitätsproblem, in etwas, was wahrgenommen werden kann („Der
Mann denkt nach“), und etwas, das nicht gewußt werden kann, weil es sich im
Innern des anderen abspielt (das Denken). Das psychische System von ,Alter‘
ist für ,Ego‘ unzugänglich. Die an der Kommunikation beteiligten psychischen
Systeme sind füreinander ,schwarze Kästen‘.[10]
Was das psychische System antreibt, ist nicht etwa ein Werkzeug im Sinne von
Hand oder Ohr, sondern ein Medium, das als Subjekt selbsttätig in ihm agiert.[11]
Im Rahmen dieser zwittrigen Denkfigur erscheint ,der Mensch‘ einmal „als
Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt“,[12]
allerdings bereits modifiziert dadurch, daß beides, Wissen und Erkennen, höchst
eingeschränkt und unsicher sind. Wenn die Kluft, so die Konsequenz im Anton
Reiser, schon nicht aufgehoben werden kann, so läßt sie sich aber an
besonderen Schnittstellen, wie im ausgezeichneten Beobachtungsfeld des
Buchstabieren- und Lesenlernens, ,dicht‘ beschreiben. Der Text bietet dabei
Sinnhypothesen für Alltagserfahrungen an (oder sieht sich außerstande, welche
zu erstellen) und präsentiert so Module für eine Analytik des ,gemeinen
Lebens‘.
I.
Eine Geschichte erzählen und in der
Geschichte sein
Die
Geschichte(n), die der Roman erzählt, stammen aus dem Labor des Alltags; der
Roman betreibt – avant la lettre – Alltagspsychologie. Indem er sie
als Interpretation zu erkennen gibt, führt er sie einem kulturanthropologischen
Programm zu, d.h. er lotet die „Fülle der Verknüpfungen des Außergewöhnlichen
und des Gewöhnlichen“, wie sie Kultur produziert, am Fall einer
Lebensgeschichte erzählerisch aus.[13]
„Sein [K. Ph. Moritz’. U.R.] psychologischer Roman ist die
Lebensbeschreibung eines Menschen, und so wir vom Verfasser mündlich gehört
haben, wahr.“[14]
Gegenstand des Romans also sind, worüber der Erzähler genaueste Auskunft geben
kann, erlebte Erfahrungen, die das Gedächtnis gespeichert hat und die
Erinnerung wiederholt. Sie haben aber einen Namen und – im doppelten Sinne –
eine eigene Gestalt bekommen, ,Anton Reiser‘. Die Entscheidung für die 3.
Person Singular ist ein performativer Akt des Erzählers, der die Anerkennung für
eine Person fordert, die einem aus dem Sprechgestus der Oraliät – „Ich“
– sich nährenden, in Empfindsamkeit womöglich ertrinkenden Subjekt versagt
werden könnte. Einsichten wie die, daß Erinnern mit einer Aktualisierung der
Perspektive verbunden ist, entstammen dem Selbstversuch des Erzählers.[15]
So konstruiert der Text das Selbst als einen Anderen, das Subjekt als Objekt der
Beobachtung: In der Gestalt des Anton Reiser schildert er einen genauen
Beobachter seiner Umwelt und Inspekteur seines Innern, mit dem Erzähler und
Herausgeber entwirft er einen Beobachter zweiter Ordnung, der weiß, daß die ,äußeren‘
Ereignisse gleichzeitig auch mentale oder seelische Ereignisse im Innern des
Protagonisten sind. Daraus ergeben sich Einsichten in die krisenträchtigen
Differenzen von Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung, Verstehen und
Verstandenwerden. Sie kehren im Wechselspiel von Selbstbeobachtung der erzählten
Figur und der Beobachtung des Erzählers wieder – trotz dessen Empathie für
einen tief unglücklichen Menschen.
So
könnte man sich zu der Annahme hinreißen lassen, daß hier jemand
,Lebensgeschichte‘ als „datengestützte Erfindung“[16]
versteht, eine gestaltgewordene Konstruktion, die etwas darüber sagen will, in
welchen Situationen auf welche Weise und aus welchen Gründen (nicht kausal,
sondern psycholgisch, moralisch, sozial) etwas, ein individuelles Leben, so
verlaufen ist.
Wenn
es heißt, die ,innere Geschichte‘ des jungen Anton Reiser sei unauflösbar
verknüpft mit seiner ,äußeren‘, so entspricht das zwar der zeitgenössischen
Romantheorie Blanckenburgs (1774);[17]
diese kalkuliert allerdings kaum das Risiko ein, auf das Moritz stößt: Was,
wenn sich ,das diskrete Gebot‘ zum Kohärenz nicht herstellen läßt?
Das
Dilemma, daß nicht nur Fremdbeobachtung, sondern auch Selbstbeobachtung dem
erkenntnistheoretischen Diskurs der Zeit zufolge trügerisch oder mindestens (Re-)Konstruktion
ist, mithin hier ein Zeichenproblem liegt, wendet Moritz höchst konsequent.
Indem sich zeigt, daß erzählte Vergangenheit es mit der Frage zu tun hat, was
im Augenblick des Erzählens damit angestellt werden soll, weist der Text auf
das Stiften von Bedeutung im Akt der Retrospektion;[18]
und zugleich auf die rekursive Endlosschleife, wenn es darum geht, das
Individuum zu bestimmen. Kurz der Unterschied zwischen ,Mensch‘ und ,Medium‘
verliert dadurch seine Trennschärfe.
Schließlich
wäre da noch die dem Leser überlassene Position; sie erscheint ebenfalls
multipel. Zum einen wird sein Urteil herausgefordert, zum anderen ist er
Mitleidsträger, der Reisers Opfergeschichte zu beglaubigen hat.[19]
Für ein solches empathisches Engagement setzt Moritz später den (wirkungspsychologisch-poetologischen)
Begriff des ,Interesses‘ ein. Im ersten Teil seiner Vorlesungen über den
Stil von 1793 schreibt er:
Das
Wort Interesse bezeichnet eine so nahe Teilnehmung an etwas, daß
man darüber gewissermaßen sich selbst vergißt, und sich in den
Gegenstand selbst verwebt fühlt. [...] Wenn ich also z.B. sage: Dieser
Roman gewinnt für mich Interesse – was heißt das anders, als, ich fühle
mich in das Schicksal der Personen verwebt, ich bin gleichsam zwischen
ihnen, als ob ich mit einer Person im Spiel wäre. / Das ist gewiß mehr als bloße
Teilnehmung an dem Schicksal dieser oder jener Person. Eine der einzelnen
Personen kann meine Teilnehmung im höhern Grade erregen, der ganze Roman aber
erhält für mich Interesse.[20]
Die
Bücherwelt ist eine Domäne, in der die „sich selbst gelassene
Einbildungskraft“ und/oder „Urteilskraft“ aktiv werden; die eine
„schweift umher“, die andere „geht Schritt vor Schritt [...] und
unterscheidet“ (III 727). Was Moritz später in der binären
erkenntnistheoretischen Opposition von Gefühl und Verstand um seine
changierenden Grenzen bringt, erscheint in der dichten Beschreibung seines
Romans weitaus facettenreicher, aber auch stärker mit der Erfahrung von
Kontingenz verbunden. Der Roman läßt Ambivalenz, Kontingenz und Leerstellen
des Wissens zu, aber er ordnet diese gleichzeitig in der retrospektiven
Narration, während es in Moritz’ theoretischen Schriften die Ordnung des
Systems ist, mit der er versucht, Zusammenhang herzustellen (was allerdings auch
schon der Leser Reiser versucht; s.u.).
II.
Die Schlüsselqualifikation des Lesenlernens
Reisers
hochproblematische Bildungsgeschichte mit ihrem Erfahrungsdoppel aus Anerkennung
und Scheitern gründet, das war der Ausgangsbefund, auf der Dynamik und dem
Dilemma einer Melancholikerbiographie. Krisenhaft verschärft erscheint sie
durch die labile Situation eines potentiellen Aufsteigers an der Schwelle zum literatus.[21]
Reiser sucht eine gesellschaftliche Position, aber seine Karriere ist glücklos.[22]
Lesen, die Schüsselqualifikation für Aufstieg und soziale Differenzierung, ist
zwar die Voraussetzung dafür, aber kein Garant.[23]
Versucht
man im Gefolge van Genneps eine Typologie der Übergangsriten[24]
für die Gelehrtenbiographie im ausgehenden 18. Jahrhundert aufzustellen, so
ergeben sich die Schwelle des Übergangs in die Lateinschule, des Übergangs in
die Universität,[25]
des Einstiegs in den Beruf und die Heirat. Der Roman klammert die letzte
Schwelle ganz aus und läßt den Beruf nur als nicht realisierte Möglichkeit
erscheinen, die allerdings auf Reisers Verhalten zurückwirkt. Die Initiation in
die Bücherwelt, die mit der Autorschaft endet, ist grundlegend. Sie läuft über
ein persönliches, aber repräsentatives Netzwerk von Interaktionspartnern (auch
Autorschaft vollzieht sich im Verbund mit verschiedenen Personen,
Ausbildungssituationen und Orten mit jeweils ganz unterschiedlichen
Schreibprojekten) – ist also wenig fixiert.
Auch
die Wirkung von Lektüre erscheint instabil: wie ein Kippbild kann sie mal Lust
und Trost, mal Sucht und Verdruß produzieren.[26]
Beides bleibt im Roman unaufgelöst nebeneinander stehen, ja, diese Ambivalenzen
setzen sich bis in Reisers spätere Autorschaft fort: Auch da ist Reiser
verstrickt, und zwar, wenn man historisch argumentiert, in die epistemischen
Turbulenzen am Übergang von einem Zeichenoptimismus rhetorischer Provenienz zu
einer neuen Ausdrucks- und Erlebnisästhetik, wie sie die Goethezeit produziert
hat.[27]
III.
Die Bücherwelt –
ein magisch-medialer Raum mit Risiken und Nebenwirkungen
Lesen,
entdeckt Reiser, ist machtvoll. Es kann die unbefriedigende Gegenwart punktuell
außer Kraft setzen. Wenn „nichts als Lärmen und Schelten und häusliche
Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so
eilte er hin zu seinem Buche“ (I 43). Den gelesenen Worten eignet eine
magische Kraft.[28]
Sie bewirken, daß Reiser in Pyrmont, noch krank, „im Lesen nach und nach
seinen Schmerz vergaß und bald nicht nur auf der Bank in P[yrmont], sondern auf
irgend einer Insel mit hohen Schlössern und Türmen, oder mitten im wilden
Kriegsgetümmel sich befand“. (I 51) Die Magie der Worte liegt darin, daß sie
Abwesendes in Anwesendes oder Anwesendes in Abwesendes verwandeln; sie versetzen
Reiser imaginär an einen anderen Ort und verwickeln ihn in dramatische Szenen.
Lesen bedeutet, schreibt Michel de Certeau, „in einem vorgegebenen System
herumzuwandern“.[29]
Es ist ein Handeln ohne konkreten Ort, es stiftet auch keine Ganzheit. Dennoch
spielt es sich in ,Räumen‘ ab und ist voll mit (positiven und negativen)
Ereignissen. Metaphorisch gesprochen wäre somit der lesende Knabe, als er
zwischen dem achten und elften Lebensjahr die ersten Bücher zum Lesenlernen in
die Hände bekommt, schon ein ,Reisender‘; gäbe es also eine unterschwellige
Verbindung von der Initiation in die Bücherwelt zur ortlosen Wanderschaft, die
ihn am Ende auf eine „zerstreuete Herde“ (I 399) stoßen läßt.[30]
Innere und äußere Räume erscheinen wenig fest, insbesondere der eigenartige
,Zwischenraum‘, den die Bücherwelt schafft. Vor deren Risiko warnt die Erzählerstimme
nachdrücklich: habe sie doch Reiser „schon früh aus der natürlichen
Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für
tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen
können.“ (I 43) Was aber heißt „idealische Welt“? Sie ist offensichtlich
der Raum, der die Vorstellungsbilder hervorbringt – Worte, Schrift und Text
–, mithin die Medienwelt:
Die
Bücher machen einen so großen Teil der menschlichen Dinge aus, daß man sie
beinahe nicht, als eine untergeordnete Klasse von Dingen in der Kunstwelt
betrachten kann, sondern sich außer der großen Natur- und Kunstwelt, noch eine
/ Bücherwelt / denken muß. / Denn die Bücher sind gleichsam eine Welt
außer den Menschen geworden, die nicht in ihm, sondern worin er lebt [...].[31]
Was
Moritz in seinem 1786 erschienenen Versuch einer kleinen praktischen
Kinderlogik als eigenes Reich der print-Medien in seiner Ordnung der
Dinge installiert, hat eine Schlüsselrolle auch im Anton Reiser, dessen
erster Teil im Jahr zuvor erschienen war. 1782, [b]ei der Jubelfeier des
Werderschen Gymnasiums, war Moritz noch kritischer gewesen: „Anstatt
Menschen, o Wunder! hört man jetzt Bücher reden, und siehet Bücher handeln.
[...] Man lebt und webt jetzt in einer Bücherwelt, und nur so wenige Bücher führen
uns noch auf unsre wirkliche Welt zurück.“[32]
Problematisch wird diese Medienwelt, heißt das, wenn sie Diskurse (re-)produziert,
anstatt – eine implizite narratologische Proposition – Aufmerksamkeit für
ihren Referenten, die ,Wirklichkeit‘, zu wecken.
Von
der „idealischen“ als Medien-Welt zu sprechen, legt auch die Schilderung
eines idyllischen Mittagsspaziergangs nahe, den Reiser einmal unternimmt. Die
Landschaft erscheint ihm „wie ein Bild in einem optischen Kasten“, und er
wundert sich, „daß dies nun unsere wirkliche Welt ist, an die wir so oft als
eine bloß idealische Sache denken“ (I 243), eine repräsentierte somit.[33]
Andererseits
gibt der Roman auch Beispiele für einen produktiven Transfer von Erfahrungen in
die Zeichenwelt. So betrachtet Reiser auf einer seiner Wanderungen, „den vor
sich hinschlängelnden Weg [...] gleichsam wie einen Freund, der ihn leitete.
– Dies wurde ihm denn zuletzt eine dichterische Idee – es wurde Bild,
Vergleichung, woran er tausend Dinge kettete.“ (I 280f.) Hier wird ein kleines
,semiologisches Abenteuer‘ geschildert, der Prozeß vom Sehen zum bedeutsamen
Zeichen: Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung eines Dings (Weg), das durch Kontakt
zum Handlungsraum wird; das Vertrautwerden löst ein Wohlgefühl aus und stiftet
das Bedürfnis nach Bedeutung. Der Weg wird einem „Freund“ verglichen,
bekommt also einen Beziehungsaspekt. Dies führt zur Metaphernbildung und
rhetorischen Strategie („dichterische Idee“, „Bild“,
„Vergleichung“); der Weg wird mithin in einen ästhetischen Code überführt,
was dichterischer Produktion zugrunde liegt. Das Vorstellungsbild bzw. der
imaginäre ,Text‘ erweitert sich schließlich zu einer unendlichen
Signifikantenkette („woran er tausend Dinge kettete“),[34]
einer Art ortloser Reise.
Lesen,
jedenfalls dort, wo es sich um ,Geschichten‘ handelt, hat dieselbe Struktur,
verläuft jedoch in umgekehrter Richtung. Die Buchstaben mit ihrem graphischen
Bild verwandeln sich in Signifikanten, die ein vielschichtiges Textgewebe
produzieren, in das der Leser seine (Vorstellungs-)Bilder hineinträgt, mit
denen er sich eine Szene oder Bühne schafft, auf der er selbst agiert.[35]
Wie sehr der Roman eben diesem Phänomen der Konstruktion von
Vorstellungsbildern im Akt des Lesens und ihrer performativen Kraft auf der Spur
ist (und damit auch dem Schreibakt und der Genese von Autorschaft), soll nun die
Rekonstruktion von Reisers Initiation in die Bücherwelt mit ihrer überraschenden
Vielfalt von Lektüreerlebnissen vorführen.
IV.
Die Ambivalenz der Schrift
Am
Anfang des Reiser-Romans steht nicht, wie etwa in Rousseaus Confessions
(dt. 1782)[36]
oder Jung-Stillings Lebensgeschichte (1777ff.) die genealogische Ordnung
der Familie, sondern das Tableau der ,kleinen quietistischen Republik‘ des
Herrn von Fleischbein. Reisers Vater hatte sich erst in fortgeschrittenem Alter
dieser sektenähnlichen Gruppe[37]
mit
dem Schriftmonopol Madame Guyons unterstellt. Ziel von deren papierenen Lehren
–
metaphorisiert in der Anekdote vom ausgetrockneten Gehirn, das die Obduktion
nach ihrem Tod zum Vorschein gebracht haben soll (I 38), ein szientistisches
Ammenmärchen, an dem die Aggressionen des Erzählers offenkundig mitgeschrieben
haben
–
war es, den einzelnen in ein antiindividuelles „Nichts“ eingehen zu lassen
(I 37). So figuriert der quietistische Diskurs, dessen mächtige Wirkung für
den Erzähler außer Zweifel steht, als Gegenmodell zu dem, was er als
allgemeines Sozialisationsziel implizit entwirft: Selbstachtung und
Anerkanntwerden..[38]
Fleischbeins
hierarchische, hoch ritualisierte häuslich-religiöse Enklave gründet auf
einem Doppel von innerem und äußerem Wort. Das „innre Wort“ (I 37) wird
als Stimme gehört und stiftet eine geheime Kommunikation mit Gott. Danach wird
es ,äußeres Wort‘,
denn es muß den anderen kundgetan werden. Die Anleitung zum ,inneren Wort‘
wiederum kommt aus der Kommunikation mit Büchern, vornehmlich denen der Madame
Guyon. Diese verordneten Schriften sind dergestalt zu verinnerlichen, daß alle
vitalen Bedürfnisse ,abgetötet‘
werden. Das (lustvolle) Redendürfen wird zum Gebot und unterliegt der Kontrolle
und Disziplinierung, vornehmlich durch den ,Seelenführer‘
Fleischbein.
Im
Binnenraum funktioniert die quietistische Republik auf der Grundlage einer
Kommunikation, die über Texte läuft, nach außen durch Abgrenzung. Fleischbein
„wohnte von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten,
und Gebräuchen, eben so abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine
hohe Mauer geschieden war“ (I 37). Das stattliche Haus (in Oesdorf bei
Pyrmont), dieser Staat im Staat, erscheint als eine Heterotopie.[39]
Von der übrigen Welt getrennt, ist er zugleich mit ihr verbunden: ,Externe‘
etwa, wie Reisers Vater, haben Zugang, und umgekehrt verstreut Fleischbein, wenn
er Guyons Texte übersetzt, drucken läßt und distribuiert, seine Glaubenssätze
in die Welt.[40]
Trotz
der gerade wegen ihrer forcierten Neutralität hier so gnadenlosen Erzählerstimme
herrscht in Fleischbeins Domäne ein einträchtiger Diskurs, während der in
Reisers Familie durch und durch zwieträchtig ist und seine Kindheit zersetzt.
Verursacher sind beide Male Bücher. Denn zu Hause bedrohen Madame Guyons
Anweisungen die für die Mutter zweifelsfreie und alleinige Autorität der
Bibelworte; außerdem blockieren sie die Zuwendung ihres Mannes (I 39). Zwei
konfligierende religiöse Diskurse, die noch nicht einmal hinlänglich
verstanden werden, so argumentiert auch der Erzähler, verschulden die tiefe
„Unverträglichkeit“ der Eltern:
So
wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer Familie Jahre lang
durch diese unglücklichen Bücher gestört, die wahrscheinlich einer so wenig
wie der andere verstehen mochte. / Unter diesen Umständen wurde Anton geboren,
und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt
ward. (I 40)[41]
Reisers
Kindheit im Zeichen eines in die Ehe der Eltern verlängerten Bücherkonfliktes
behindert seine Entwicklung. Was fehlt, ist innere Sicherheit durch elterlichen
Erziehungskonsens („Ob gleich er Vater und Mutter hatte, so war er doch in
seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte
nicht, an wen er sich halten sollte“; I 40), es fehlt hinreichender Körperkontakt
durch die „Liebkosungen zärtlicher Eltern“, der Selbst- und Weltvertrauen
stiften würde. Stattdessen gibt es jede Menge „erbauliche Reden“ (I 40),
die Le(e/h)rformeln bleiben, weil sie keine spürbaren wohltuenden Folgen
zeitigen. Innerhalb der Familie, so das kritische Erzählerresümé, zerstören
die Gebote der religiösen Texte affektive Solidarität und legen den Grund für
die Melancholie des Kindes: „Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben
aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze
schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen
konnte.“ (I 41)
Für
den Umgang mit Schrift in Reisers erster Lebensphase, so eine erste Bilanz, führt
der Roman zwei Modelle vor: ein totalitäres, wofür Fleischbeins ,quietistische
Republik‘ steht, und ein antagonistisches in der Familie, wo sich Harmonie nur
einstellt, wenn miteinander die Lieder der Madame Guyon gesungen werden. Schrift
kann also sowohl Eintracht als auch Streit provozieren. Mit diesem Janusgesicht
setzt sie Reisers Kindheit unter Spannung. Die initiale zersetzende Macht der
Diskurse provoziert einen Identifikationskonflikt, mehr noch, sie hinterläßt für
alle Zeit Seelenspuren, die kein anderer Diskurs („keine Philosophie“)
nachträglich zu löschen vermöchte.
Einen
Ausweg sucht sich das Kind durch Rationalisierung, die eine Identifikation mit
dem Vater voraussetzt: Es „schien ihm [...] sehr oft, als wenn sein Vater, den
er bloß fürchtete, mehr Recht habe, als seine Mutter, die er liebte. So
schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht
und Zutrauen“. (I 41) Warum der Vater „mehr Recht“ hat, wird nicht gesagt.
Aber wenn die Mutter in einer Opferrolle erscheint – ein impliziter
Liebesappell, dem sich das Kind nicht entziehen kann –, dann hat der Vater die
Diskursmacht; er setzt die mystischen Schriften durch und spricht selbst eine
„Art von Büchersprache“ (I 54). Das Kind versteht sie zwar nicht, sie wirkt
aber autoritativ:
„Anton
erinnerte sich noch sehr genau, wie er im siebten oder achten Jahre oft sehr
aufmerksam zuhörte, wann sein Vater sprach, und sich wunderte, daß er von
allen den Wörtern, die sich auf heit, und keit, und ung
endigten, keine Silbe verstand, da er doch sonst, was gesprochen wurde,
verstehen konnte.“ (I 54)[42]
In
den Besitz dieser unverständlichen, abstrakten „Büchersprache“ zu
gelangen, bezeichnet ein unbewußtes mimetisches Begehren.[43]
Reden zu wollen wie der Vater, weist zum einen auf eine untergründige Rivalität;[44]
Reiser sucht sich anzueignen, was den Vater „mehr Recht“ haben läßt, ihn
im Wortsinne ,legitimiert‘, zum anderen ist es die Grundlage seiner späteren
Autorschaft. Bereits der Neunjährige träumt davon, ein Buch zu schreiben (I
287f.). Wenn Anton Reiser schließlich nicht nur wie der Vater redet, sondern,
indem er selbst Texte produziert, zum Autor wird, übertrifft er ihn am Ende
sogar. Der Roman würde also, gegen die manifeste story, die sich nach
Theaterdesaster und Rückschlägen in ein offenes Ende von deprimierender
Perspektivelosigkeit narrativ auflöst, ja sein Telos geradezu durchstreicht,
insgeheim auch eine Erfolgsgeschichte enthalten, die aber nicht erzählt werden
kann. Selbst im katastrophischen Ende scheint sie noch durch, wenn man nämlich
Reisers Geschichte an die seines Vaters zurückbindet:[45]
„ohne eigentliche Erziehung“ habe der vor dem Tode seiner ersten Frau
„immer ein ziemlich wildes herumirrendes Leben geführt“ (I 39), sich dann
aber gewandelt. Reisers Geschichte endet, als er der „zerstreuten Herde“ (I
399) der Schauspieltruppe begegnet, der er sich hatte anschließenden wollen.
Auf der Ebene des Erzähldiskurses zeigen diese reziproken Bezüge – Besserung
vs. Abstieg – den Triumph des Vaters an.[46]
Doch auch hier gibt es einen geheimen Überbietungsgestus: Das ehemals wilde
Leben des Vaters hat eine deutlich andere Qualität als die gescheiterte
Schauspielerei des Sohnes. Im ersten Falle drohen die privaten, aber
gesellschaftlich degradierenden Mechanismen von The Rake’s Progress, im
zweiten steht der Bereich der Kunst und der Einbildungskraft auf dem Spiel und
die Frage von öffentlicher Wirkung.
Erreicht
jedenfalls hat Anton Reiser sein – fragwürdiges, weil prinzipiell der
Heuchelei verdächtiges – Ziel, die Büchersprache des Vaters zu sprechen, am
Anfang des zweiten Buches; mit Hilfe des Pastors M. versucht er, sich auf diese
Weise Anerkennung zu verschaffen:
Da
er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte, und sich doch auch
nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente er sich [...] der Büchersprache,
die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel und dem Katechismus zusammengesetzt war,
welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab,
indem er z.B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, er habe den Trieb zum
Studieren, der ihn unaufhaltsam mit sich fortgerissen, nicht überwältigen können,
und wolle sich nun der Wohltaten, die man ihm erzeige, auf alle Weise würdig zu
machen, und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein Leben bis
an sein Ende zu führen suchen. (I 127; Herv. U.R.)
V.
Anweisungen und Abhandlungen zum Lesenlernen
Wie
beinahe alles verläuft auch Reisers Alphabetisierung im achten Lebensjahr
ambivalent. Das Lesenlernen löst das Lernen durch das Hörensagen nicht ab,
erweitert es aber um eine neue Kompetenz, das – zunächst weitgehend
fremdbestimmte – Selbstlesen. Als Buchstabier- und Nachsprechprozedur, nicht,
wie heute, in Verbindung mit dem Schreibenlernen, bleibt das Kind dabei abhängig
von der väterlichen Autorität.[47]
Zum
Lesenlernen kauft der Vater seinem Sohn zwei Bücher. Das eine enthält eine
„Anweisung zum Buchstabieren“, das andere „eine Abhandlung gegen das
Buchstabieren“ (I 42): Der durch den elterlichen religiösen Dissens ausgelöste
Identifikationskonflikt wiederholt sich hier auf der Ebene eines widersprüchlichen
pädagogischen Doppel-Diskurses. Der Vater lehrt Reiser das Lesen nach der
traditionellen Buchstabiermethode, die, was das „Anti-Buchstabierbüchlein“
bezeugt, damals bereits umstrittene (und eine Generation später obsolet
gewordene) Praxis ist. Die biblischen Namen, die Reiser buchstabieren muß –
„Nebukadnezar, Abednego usw.“ – sind nicht nur schwierig, sie sagen dem
Kind auch nichts. Für eine auf Verstehen gerichtete Pädagogik, für die der
Erzähler eintritt, muß diese Methode zynisch erscheinen.[48]
Den
bibliographischen Nachweis für Reisers Lesebücher hat die ansonsten akribische
Moritz-Forschung bislang nicht erbringen können.[49]
Zu überlegen wäre, ob das Anti-Buchstabierbüchlein nicht vielleicht jenes
Lesebuch ist, an das der lutherische Pastor Adolph Georg Kottmeier aus dem Fürstentum
Minden in der Bibliothek der pädagogischen Literatur von 1804 erinnert
– und zwar als Beispiel dafür, daß bereits Mitte des 18. Jahrhunderts
Argumente gegen das Buchstabieren vorgebracht worden seien, welche gegenwärtig
– also um 1800 – in der Debatte um neue pädagogische (und das heißt das
„Lautieren“ berücksichtigende) Lesemethoden diskutiert würden. Das von
Kottmeier unter dem Titel
Erleichtertes Lesebüchlein, Darinnen gezeiget wird, wie man einem das
Lesen, ohne lautes Aussprechen der stummen Buchstaben leicht und balde
beybringen könne. Gott zum Preise und allen denen, Die mit Anfängern im Lesen
zu thun haben, zur Erleichterung, aus der Erfahrung verfertigt. Die zweyte
verbesserte Auflage, nebst einer Vorrede Von dem schweren und unnöthigen
Buchstabieren. Erfurth, gedruckt und verlegt von Carl Friedrich Jungnicol. 77 S.
8[50]
zitierte,
anonym verfaßte Lesebuch ordnet Kottmeier aufgrund von Stil und Textauswahl in
die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ein.[51]
Wörtlich
und in Paraphrasen stellt er es seinen Lesern vor. Im Roman heißt es über das
Anti-Buchstabierbüchlein, Reiser habe „zu seiner großen Verwunderung
[gelesen], daß es schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch
Buchstabieren lesen zu lehren. [...] In diesem Buche fand er auch eine Anweisung
für Lehrer [...] und eine Abhandlung über die Hervorbringung der einzelnen
Laute durch die Sprachwerkzeuge“. (I 43) Später wird Reiser im
Schulunterricht noch einmal buchstabieren müssen
–
und prompt versagen. Was sich im Roman geradezu dramatisch auswirkt,[52]
nennt das Lesebüchlein schlicht überflüssig:
Es
ist bekannt, daß das Buchstabieren vor etwas schweres und doch auch zum rechten
Lesen und Schreiben nothwendiges gehalten werde. Das erste ist wahr, das andere
nicht. Eine schwere Arbeit ist es, und zugleich ein schweres Gericht Gottes über
die Schulen. Denn erstlich wird denen die durch Buchstabieren sollen Lesen
lernen, ein lauter Begriff des stummen Buchstaben beygebracht, welchen sie aber,
wenn das Buchstabieren angehet, wieder müssen fahren lassen, sie müssen durch
Zusammen=nennung der stummen und lauten Buchstaben gleichsam Vocabula machen,
und sich dieselben auslegen lassen. Z.E. [zum Exemplum]: es, ce, hah, we, a, er,
te, tsed, ist ein Buchstabier-Vocabulum, das soll auch Teutsch heißen: schwarz.
So lange nun das das Vocabul-machen währet, behält man die laut=gelernten
stummen Buchstaben, wenn das Vocabulum aber ausgeleget wird, so behält kein
einziger seinen Namen, der Lernende muß mit einmal alle Buchstaben gleichsam
vergessen, und weiß nicht wie ihm geschiehet, und wie es zugehet, daß er jetzt
zu seinen Buchstaben ganz anders sagen muß, als da er sie gelernet hat. Dieses
Vocabul-machen währet um die ganze Buchstabier=zeit durch, und es darf nun der
Lernende keine Sylbe und kein Wort vorbringen, es muß durch Vocabuln geschehen.[53]
Der
anonyme Verfasser des Lesebüchleins wendet sich vehement gegen diese
Lernmethode; Buchstabieren sei „weder zum Lesen noch Schreiben nöthig“.[54]
Hatte Reiser dieses Lehrbuch, konnte er auch lesen:
Das
Buchstabieren achtet man als ein schreckliches Zorngerichte Gottes, das der
gerechte Gott um der Schulsünden willen über uns hat kommen und uns lange Zeit
hat drücken lassen, und bittet Gott um Christi willen sehnlich, daß er sich
unser erbarmen, solches Gericht wieder von uns nehmen, und denen, die es nicht
davor erkennen können, die Augen öffnen wolle.[55]
Auch
die Einwände der Befürworter der Buchstabiermethode werden genannt. Man fürchte,
daß der Praeceptor nach der neuen Methode überfordert sei, „vor einen so großen
Haufer Kinder die nöthigen Operationes mit der Kehle, mit der Zunge, mit den
Lippen und Zahnen [zu machen], und zugleich Inspection auf die Kinder haben und
sie regieren“. Im übrigen sei dieses –
phonetische
–
Lesenlernen „zu philosophisch“.[56]
Die
Furcht vor unbequemen Konsequenzen für die Lehrroutine und vor der Mühe des
eigenen (Um-)Lernens scheint zumindest ein praktisches Hindernis für
eine methodische Wende im frühen 18. Jahrhundert gewesen zu sein.[57]
Ein anderes wäre in den noch nicht zwischen Zeichen, Benennung und Artikulation
des Buchstabens trennenden sprachtheoretischen Voraussetzungen zu sehen. Erst
die volksaufklärerische Pädagogik-Debatte, die sich am Ausgang des
Jahrhunderts um effizientere Lehrmethoden bemüht, bringt dann den
entscheidenden Innovationsschub.[58]
Einen
anderen frühen Gegner der Buchstabiermethode und weitere mögliche Referenz des
Romans zitiert Johann Heyse in seiner Theoretisch-praktischen Grammatik:
„Wer kann sich wundern, wenn ein so unnatürlicher und langweiliger Weg [wie
die Buchstabiermethode. U.R.] die Meisten äußerst langsam, oft erst nach
mehreren Jahren vom Buchstabieren zum fertigen Lesen führt!“ Und er merkt
dazu in einer Fußnote an:
Man
hat erst seit etwa zehn Jahren angefangen, beym Unterricht im Lesen diese mehr,
als sonst, zu beherzigen, obgleich schon im Jahr 1735 ein einsichtsvoller
Schulfreund, unter dem Namen Nachsinner in seiner Lehrkunst, das Zorn
erweckende Buchstabiren aus dem Wege zu räumen,'[59]
sich darüber mit Recht spottend so ausdrückt: / [,]
Wenn man hoch lesen will, spricht man ha o ce ha; / Man tönet zweymal ha,
und ist darin kein a. / Klingt es nicht wunderlich, wenn man will spielen
sagen, / Und kommt mit es pe i e el e en hervor? / Ein solch gezog’nes
Spiel möcht’ mich vom Lernen jagen, / So kommt je allzuschwer der rechte
Zweck hervor.[‘][60]
Da
Reiser leicht lernt, begreift er trotz der umständlichen Methode schnell, daß
Buchstaben nicht nur unverständliche Begriffe, sondern auch sinnvolle Zusammenhänge
herstellen können. Lesen, heißt dies, kann das Bedürfnis nach Verstehenwollen
ebenso blockieren wie fördern und befriedigen: „sobald er merkte, daß
wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt
waren, so wurde seine Begierde von Tag zu Tag stärker“. Nach den für ihn
semantisch leeren, referenzlosen Zeichen „Nebukadnezar“ und „Abednego“,
kommen nun codierte Kontexte, d.h. „Welt“ als Ordnungs- und imaginärer
Erfahrungsraum, ins Spiel. Kein Wunder, daß dies verführerisch wirkt
(„Begierde“) und das Lernen beschleunigt. Zum ersten Mal liest Reiser selbständig
Abhandlungen und Geschichten, die das Buchstabierbuch nebst biblischen Sprüchen
auch enthält. Obwohl sie nicht besonders interessant sind, liest er sie „mehr
wie hundertmal“. Insgeheim gewirkt haben müssen sie doch, denn an zwei der
Geschichten wird ausdrücklich erinnert –
die eines sechsjährigen Knaben, der zusammen mit seiner Mutter ein Martyrium
erleidet, und die eines bösen Buben, der im zwanzigsten Lebensjahr bekehrt wird
und dann stirbt. Beide, Verschmelzungsphantasie mit der Mutter wie Größenphantasie,
erzählen von einem Heroismus mit masochistischen Zügen. (I 43)
Das
Antibuchstabierbuch ist äußerst trocken und bringt eine Metareflexion über
das Lesen an die Adresse der Erwachsenen. Obwohl die Textsorte ,Lehrbuch‘
als unattraktiv beschrieben wird, widmet Reiser sich ihr beharrlich und
wiederholt. Mehr noch, er wird darüber zum ,Reisenden‘
im Sinne Certeaus. Er entwickelt eine Lesewut, die der Erzähler, ambivalent
auch er, sowohl als Eskapismus verurteilt wie als bereichernd anerkennt: Sie
habe Reisers ,natürliche‘,
vitale Entwicklung gehemmt, aber auch „eine neue Welt“ eröffnet, welche ihn
für alles „Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen
konnte.“ (I 43) Lesen führt neue Perspektiven ein[61]
und erweitert phantasmatisch seine begrenzte Realität, was er genießt.
Der
Knabe bleibt dabei an die Autorität des Vaters gebunden, der aussucht oder
beurteilt, was er liest und was er mit dem Gelesenen tun soll (etwa
Auswendiglernen).[62]
Lesen wertet ihn aber auch auf und trägt zu seiner Selbstbehauptung bei: Er
bringt die Erwachsenen durch seine Lese- oder Zitierkünste zum Staunen, überflügelt
sie gar. Hier entsteht eine jener glücklichen Situationen, bei denen das
Selbstbild vom anderen ,Bewußtsein‘,
von dem Reiser sich so sehnlich wünscht, darin eine tragende Rolle zu spielen,
bestätigt wird.[63]
Dieser Wunsch läßt den Lesekundigen nach Möglichkeiten öffentlicher
Selbstinszenierung suchen, und er findet sie im Gottesdienst:
Sobald
Anton lesen gelernt hatte, fand er ein unbeschreibliches Vergnügen darin, in
die Kirche zu gehen; seine Mutter und seine Base konnten sich nicht genug darüber
freuen. Was ihn aber in die Kirche trieb, war der Triumph, den er allemal genoß,
wenn er nach dem schwarzen Brette, wo die Nummern der Gesänge angeschrieben
waren, hinsehen, und etwa einem erwachsenen Menschen, der neben ihm stand, sagen
konnte, was es für eine Nummer sei: und wenn er denn eben so, und oft noch
geschwinder, als die erwachsenen Leute, diese Nummer in seinem Gesangbuche
aufschlagen und nun mitsingen konnte. – (I 79)
Hier
mündet Lesen in die theatrale Gebärde und in eine Dramaturgie der
Aufmerksamkeitserregung.
VI.
Text(-Welt): Lebenswelt
Was
liest der Knabe? Erwartungsgemäß sind es zunächst die Bücher, die sich im
Haus befinden oder die er geschenkt bekommt. Sodann liest er, was Fleischbein
ihm gibt, und schließlich jene sprichwörtlichen, über Frauen vermittelten
,verbotenen Bücher‘, ohne die kaum eine Lektürebiographie auskommt. Daß
auch die zufällige Lektüre (I 60) nicht unterschlagen wird, spricht dafür, daß
Kontingentes in der Ordnung des Alltags wahrgenommen und im Erzählen situiert
wird. Durch die über verschiedene Zuträger oder zufällig ins Haus gekommenen
Bücher lernt Reiser unter der Hand ein Repertoire von Textsorten kennen, das
ganz unterschiedliche Leseerfahrungen ermöglicht.
1.
Bücher im Hause
Nachdem
Reiser mit acht Jahren lesen gelernt hat, fesselt ihn eine schwere Krankheit für
viele Wochen ans Bett. Sie bindet ihn noch stärker an die Bücherwelt, denn sie
muß ihm nun umso mehr menschlichen Kontakt ersetzen: „das Buch mußte ihm
Freund, und Tröster, und alles sein.“ (I 44). Reiser liest, was er im Haus
findet. Er liest unsystematisch, aber er benutzt die Bücher als Lebenshilfe.
Zunächst die Bibel, das Buch der Mutter, in der er „alles“ liest, „was
Geschichte in der Bibel ist“ (I 44). Er liest identifikatorisch: trauert, wenn
Moses, Samuel oder David sterben, ist begeistert, wenn seine ,Helden‘ ruhmhaft
und großmütig sind. Dann kommen die Viten der Altväter dran,[64]
wie die Schriften Madame Guyons „Autoritäten“ (I 45) des Vaters, die er als
Muster zur imitatio benutzt.
Anschließend
liest er ein geschenktes Buch, Unterweisungen für Kinder, die er sklavisch zu
befolgen sucht (I 45f.). Als ,Ratgeber‘-Texte formulieren sie einen Imperativ,
der eine Normierungsfunktion hat. „Die Abhandlungen in diesem Büchelchen hießen
also: für Kinder von sechs Jahren, für Kinder von sieben Jahren usw.
Anton las also den Abschnitt für Kinder von neun Jahren, und fand, daß es noch
Zeit sei, ein frommer Mensch zu werden, daß er aber schon drei Jahre versäumt
habe.“ (I 45) Anders als die biblischen Geschichten zielen diese
„Abhandlungen“ direkt auf den kindlichen Adressaten, und Reiser entwirft für
sich, indem er sie minutiös befolgt, eine Erfolgsgeschichte, die auf Gehorsam
gründet.
Der
kindliche Nachahmungsgestus birgt die Sehnsucht, die papierenen Vorbilder in
ihrem Reichtum an Geschichten und Abenteuern zu beerben, identifikatorisch etwas
von ihrer Erlebnisfülle zu nutzen, sich lesend in verschiedenen Rollen zu
erproben und darin das eigene Selbst zu profilieren. Die magisch-mediale Bücherwelt
erlaubt eine Choreographie, bei dem der Lesende mit im Spiel ist; sie ist mehr
als nur Flucht- und Kompensationsraum, Charaktermaske oder Tarnung. Vielmehr
erlaubt sie, immer auch das Andere der Rolle sein zu können: in ihrem temporären
phantasmatischen Gebrauch liegt als psychischer Gewinn das Versprechen, der
andere und dadurch auch wieder man selbst sein zu können. Diese Form der Rückversicherung
der eigenen Existenz scheint auch das movens von Reisers späteren
Schauspielerträumen zu sein.
Eine
Wiederbegegnung gibt es mit den Liedern der Madame Guyon.[65]
Er bekommt sie vom Vater zum Auswendiglernen. Gebot und eigener Wunsch, Lernenmüssen
und Lesenwollen, gehen hier konfliktfrei zusammen. Denn wie einst bei den
wenigen harmonischen Stunden gemeinsamen Singens mit den Eltern, haben die
Lieder „immer noch so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche Zärtlichkeit
im Ausdrucke [...] und so viel unwiderstehlich Anziehendes für eine weiche
Seele, daß der Eindruck, den sie auf Antons Herz machten, bei ihm unauslöschlich
geblieben ist.“ (I 47) Lektüre und wiedererinnerter Gesang machen dieses
Leseerlebnis so intensiv. Der poetische Reiz der Lieder (in ‚teutscher
Odenform’ womöglich) und die begleitenden Phantasien der „süßen
Vernichtung“ helfen Einsamkeit und Schmerz ertragen und verschaffen ihm „oft
eine Art himmlischer Beruhigung.“ (Ebd.)
Mit
Madame Guyons Anweisung zum innern Gebet[66]
erfährt Reiser, was der Vater als Dogma in der Familie verkündet, und was er
wenig später in Fleischbeins Republik selbst erlebt: die Regeln, wie man die
Stimme Gottes in sich zum Sprechen bringen kann.[67]
Seine eigenwillige Interpretation der Guyonschen Gebote[68]
veranlaßt Reiser, sich einen göttlichen Gesprächspartner zu imaginieren, mit
dem er „ohngefähr wie mit einem seinesgleichen spricht“. (I 48) Bei diesem
inneren Dialog gibt er den Ton an, lobt oder tadelt, bestätigt oder kritisiert.
Die Vorschrift, das ,innre Wort‘ zu vernehmen, wendet er somit ebenso
subversiv wie souverän um in ein kreatives Rollenspiel.[69]
Er empfindet sich so erfolgreich, daß er sich vorstellt, er komme bei
Fleischbein in Pyrmont in „eine Art Tempel [...], worin er auch als Priester
eingeweiht, und als ein solcher zur Verwunderung aller, die ihn kannten, zurückkehren
würde.“ (I 49) Die priesterliche Erwartung erfüllt sich zwar nicht,
gleichwohl macht er mit seinen Übungen weiter und übersetzt den inneren Dialog
ins Spielszenario. Sein (dubioses) Vergnügen,[70]
wenn er mit einem Schiebkarren durch den Garten prescht, legitimiert er dadurch,
daß er „das Jesulein“ aus den Schriften der Guyon und von „andernorts“[71]
zum virtuellen Mitspieler macht:
Er hatte [...] viel von dem Jesulein gelesen, von welchem gesagt wurde,
daß es allenthalben sei, und man beständig, und an allen Orten mit ihm umgehen
könne. / Das Diminutivum machte, daß er sich einen Knaben, noch etwas kleiner
wie er, darunter vorstellte, und da er nun mit Gott selber schon so vertraut
umging, warum nicht noch vielmehr mit diesem seinem Sohne, dem er zutraute, daß
er sich nicht weigern werde, mit ihm zu spielen, und also auch nichts dawider
haben werde, wenn er ihn ein wenig auf dem Schiebkarrn herum fahren wollte. /
Nun schätzte er es sich aber doch für ein sehr großes Glück, eine so hohe
Person auf dem Schiebkarrn herum fahren zu können, und ihr dadurch ein Vergnügen
zu machen; und da diese Person nun ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so
machte er auch mit ihr, was er wollte, und ließ sie oft kürzer, oft länger an
dem Fahren Gefallen finden, sagte wohl auch zuweilen mit der größten
Ehrerbietigkeit, wenn er vom Fahren müde war: so gern ich wollte, ist es mir
doch jetzt unmöglich, dich noch länger zu fahren. / So sahe er dies am Ende für
eine Art Gottesdienst an, und hielt es nun für keine Sünde mehr, wenn er sich
auch halbe Tage mit dem Schiebkarrn beschäftigte. (I 50)
Ebenso
wie hier eine Textgestalt zum imaginären Mitspieler wird – dasselbe tut
Reiser, wenn er mit Blumen und Obstkernen militärische Vernichtungskämpfe führt
oder sich Papiersubstitute aus dem Figurenarsenal des Telemach schafft (I
51f.) –, ebenso wird umgekehrt der Leser Reiser Aktant im Lektüre-Raum der
Textwelt.
Resümiert man die
erste Etappe von Reisers Leseinitiation, so sucht er in den Lektüren das, was
sein Elternhaus nur diffus, konfliktbesetzt oder gar nicht zu bieten hat:
Aufmerksamkeit, Vorbilder und Freunde, ein ,Programm‘ und die Kraft der
Empfindung; zusammengenommen: Anerkennung der eigenen Existenz.[72]
Dabei erscheinen die Bücher erstaunlich individuell, und entsprechend vielfältig
sind die Leseerfahrungen. Da gibt es 1. das Lesen ohne Identifikationsangebot
(Buchstabierbücher), 2. das ,trockene Lesen‘, 3. das identifikatorische Lesen
(biblische Geschichten), 4. das Lesen als Muster zur Imitatio (die Viten der
Altväter), 5. das Lesen von Gehorsamsappellen, 6. verordnete Lektüre mit
eigenem Genuß (Lieder und Gebete), 7. Lesen als Impuls für Rollenspiel, 8.
Lesen als Selbstinszenierung.
2. Fleischbeins Bücher:
Fénelons Telemach und die Acerra
philologica
Als
Neunjähriger erhält Reiser von Fleischbein die Acerra philologica,
jenes populäre mythologische Lesebuch, welches Moritz selbst mit seiner Götterlehre
(1791) erneuert hat,[73]
und Die Abenteuer des Telemach von Fénelon,[74]
dem Freund und Apologet der Madame Guyon. In Pyrmont lernt Reiser somit erstmals
etwas aus dem Kanon humanistischer Bildung. Der Telemach, dieser
Staatsroman, der die Odyssee im pädagogischen Programm einer Fürstenerziehung
um 1700 fortschreibt, beeindruckt ihn aber nicht deswegen, sondern weil er hier
mit einem kohärenten Erzählkosmos in Berührung kommt: Zum ersten Male
,schmeckt‘ Reiser „die Reize einer schönen zusammenhängenden Erzählung“
(I 50). In seiner Lieblingspassage geht es um einen Freundschaftsbeweis: Der
weise Mentor taucht im Reich der Venus auf, um Telemach in einer Situation der
(erotischen) Krise beizustehen. Reiser bewegt vor allem jene „rührende Anrede
des alten Mentors an den jungen Telemach, als [...] ihm nun sein getreuer lange
von ihm für verloren gehaltener Mentor plötzlich wieder erschien, dessen
trauernder Anblick ihn bis in seine Seele erschütterte.“ (I 50f.) Es ist ein
Moment des Jubels, in dem die Trauer um den geliebten väterlichen Freund und
Lehrer in Wiedersehensglück umschlägt:
„Bist du es wirklich“, rief ich aus, „o mein treuer Freund, du
meine einzige Hoffnung? Bist du es? Wie? Bist du es selbst? Täuscht nicht ein
trügerisches Bild mein Auge? [...] Sprich, Mentor, lebst du noch? Habe ich
wirklich das Glück, dich zu besitzen, oder ist es nur ein Schatten meines
Freundes?“ Indem ich diese Worte sprach, eilte ich auf ihn zu; die Sehnsucht
beflügelte meine Schritte: ruhig, ohne einen Schritt mir entgegenzukommen,
erwartete er mich. O Götter, ihr wißt es, wie groß meine Freude war, als
meine Hände ihn berührten! „Nein, nicht nur ein leerer Schatten ist es! ich
halte ihn, ich umarme ihn, meinen lieben Mentor.“ So rief ich. Ströme meiner
Tränen benetzten sein Antlitz, lange hielt ich ihn umarmt, ohne ein Wort
sprechen zu können. Traurig, aber mit innigem Mitleid betrachtete er mich.
Nachdem
Mentor seinem Schützling die Flucht empfohlen hat, weil nur so die „erbärmliche
und verderbliche Wollust“ besiegt werden könne („verwische aus deinem Gedächtnis
selbst die kleinste Erinnerung an diese Insel“), verläßt er ihn wieder:
„Die Götter gestatten mir nicht, daß ich über mich selbst verfügen kann; wäre
ich mein freier Herr, so würde ich nur – die Götter sind meine Zeugen – für
dich leben.“[75]
Diese
dramatische Wechselrede ist gekennzeichnet durch eine doppelte Peripetie. Bedrängnis
schlägt um in Glück, das sich sogleich wieder entzieht. Reiser hält sich
lesend (erinnernd der Erzähler) an einer Passage fest, welche das Muster
eigener Erfahrungen wiederholt und das da lautet, daß es Glück nur um den
Preis von Enttäuschung geben kann. Die Wunscherfüllungsstruktur, den Wandel
von Bedrängnis und Enge in Entlastung, bilden rhetorisch-grammatikalisch die
Fragesätze ab, die in befreiende Aussagesätze münden. Da aber das „Für-dich-Leben“
nicht sein darf, muß Mentor wieder verschwinden ...
Es ist leicht
einzusehen, warum diese Episode jemanden mit einem „sehnlichen Verlangen nach
einer liebreichen Behandlung“ (I 41) tief „erschüttert“ und „anzieht“
(I 51).[76]
Aber erst eine intertextuelle Spurensicherung bringt das zarte Echo dieser
Geschichte im einzigen Prosatext Reisers, den der Roman zitiert, zu Gehör:
Reisers empfindsam-poetischer Brief an Philipp R[eiser] mündet am Ende in eine
Fénelonsche Vision gepaart mit einer empfindsamen Klopstockschen Schlußapotheose:
„finsterer
Gram erfüllte meine Seele – / Als plötzlich ein Jüngling vor mir stand –
den Freund verkündete sein Blick – Empfindung sprach sein sanftes Auge –
schleunig wollt’ ich entfliehen – aber er faßte so vertraulich meine Hand
– und ich blieb stehn – er umarmte mich, ich ihn – unsre Seelen flossen
zusammen – / Und um uns ward’s Elysium. – “ (I 230)[77]
Das
erotische Begehren, das bei Fénelon ebenso wie in den Texten und Liedern Mme
Guyons sublimiert wird – durch politische Führungsaufgaben (Telemach)
oder die „reine Liebe“ zu Gott (Quietismus) –, bleibt für Reiser
resonanzlos im Wortsinne: Philipp beantwortet seinen Liebesbrief nicht, d.h. er
versagt ihm jene Anerkennung, die er sich so inständig wünscht. Aber der Brief
dokumentiert ein Stück Lesergeschichte. Seine Hypotexte zeigen den Schreiber
als produktiv gewordenen Leser, wenngleich als einen – hier sitzt das
krisengeladene Autorproblem –, der seine Liebesbotschaft nur als remake
(Fénelon/Klopstock) kommunizieren kann. Oder anders: Als Autor formuliert er in
der väterlichen Büchersprache präfabrizierte Muster, die die Medienwelt
bereitstellt für das, was als „Empfindung“ rhetorisch codiert ist. Jenseits
dessen hat er (noch) keine eigene Sprache. Für die Argumentation des Erzählers
bestätigen die Telemach-Episode und allem voran seine Kontaminationen
aus christlicher und antiker Vorstellungswelt Reisers mangelnde pädagogische Führung:
[D]a ihm nie eigentlich gesagt worden war, daß jenes [die religiösen
Schriften] wahr, und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die
heidnische Göttergeschichte mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu
glauben. / Ebensowenig konnte er aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen;
um so vielmehr, als dies die ersten Eindrücke auf seine Seele gewesen waren. Er
suchte also, welches ihm allein übrig blieb, die verschiedenen Systeme, so gut
er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen, und auf diese Weise die Bibel mit dem
Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologica, und die heidnische
Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen. (I 51)
Reiser
sucht das Gelesene in einem System für sich zu ordnen: „Die erste Person in
der Gottheit und Jupiter, Calypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium,
die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel, machten bei ihm die
sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn
existiert haben.“ (I 51)
Trotz seines vom Erzähler
so mißbilligten ,sonderbaren‘ Umgangs mit den ganz unterschiedlichen
Textwelten hat Reiser etwas verstanden: Systematik in der Ordnung des Mythos.
Was für den Erzähler Auswuchs eines ungeschulten Kopfes ist,[78]
vermittelt Reiser den Eindruck, daß seine „Ideenwelt um ein Großes
bereichert“ worden sei (I 54). Das ,Große‘ an Reisers Operation ist, daß
er es geschafft hat, zwei heterogene sprachlich-ideologische Felder durch
Beobachtung mit einer semantischen Brücke zu verbinden. Das liefert noch keine
Erklärung, ist aber ein selbsttätiger Verstehensakt jenseits von aufgeklärtem
Wissen (womit die Erzählerironie operiert).
3. Verbotene Lektüre
Während
alle Bücher zunächst väterliche Handreichungen sind, genießt der elfjährige
Reiser – heimlich in seiner Kammer – „zum ersten Male das unaussprechliche
Vergnügen verbotner Lektüre“. Die verbotene Lektüre, nach heutigem Verständnis
Belletristik, wird „mit unersättlicher Begierde“ (I 55) verschlungen.
„Verboten“ und „geheim“ ist sie deshalb, weil das väterliche
Erziehungsprogramm, das religiöse Texte und solche, die nach aufklärerischem
Ethos vernünftig sind, propagiert, sie nicht vorsieht. Das „wilde Lesen“[79]
von Romanen gehört zur Gegenordnung der Frauen: Die schöne Banise,[80]
die Märchen aus Tausendundeiner Nacht und die Insel Felsenburg
(1731) – allesamt Geschichten mit phantastisch-dramatischen Zügen – bekommt
Reiser von seiner Base, wobei seine Leselüste von der Mutter gedeckt werden:
„Sooft seine Mutter hereintrat, drohete sie ihm bloß mit der Ankunft seines
Vaters, ohne ihm selbst das Lesen in diesen Büchern zu verbieten, worin sie
ehemals ein eben so entzückendes Vergnügen gefunden hatte.“ (I 55)[81]
Reiser
macht im Lesen eine Reihe von polymorphen, komplexen Erfahrungen. Ebenso wie der
Knabe in den vom Erzähler abqualifizierten und vom Vater instrumentalisierten
Vorschriften der Madame Guyon ein anziehendes poetisches Element entdeckt,
ebenso enthalten umgekehrt die Märchen von Mutter und Base Elemente, die in dem
Kind Ängste und „höllische [] Qualen“ auslösen (I 56). Die Väter
verordnen Texte, die weibliche Phantasien transportieren und Verschmelzungswünsche
bedienen, die Mütter geben Texte weiter, die ein patriarchales Muster
reproduzieren, wofür paradigmatisch die von der Mutter einzig akzeptierte
Urschrift der Bibel, aber auch die Märchen und die verbotenen Romane wie die Insel
Felsenburg stehen, in denen das Modell väterlicher Ordnung Triumphe feiert.
Und selbst der scheinbar distant-souveräne Erzähler steht im Dienste eines
solchen Doppelspiels, wenn er Reisers Dilemma zwar mitfühlend analysiert, ihn
gleichzeitig aber auch infragestellt oder entwertet, d.h. seine
melancholisch-depressive Struktur sowohl entlarvt wie bestätigt. Noch im Zauber
etwa, den die „Shakespearenächte“ besitzen, und im selbstzerstörerischen
Exzeß, wenn die Bücher zur Droge, zum „Opium“, werden, findet sich diese
dominante Muster der Ambiguität. Auch Reisers schließliche Rollen- und
Ratlosigkeit und der weiterwirkende Wunsch, mittels der „Büchersprache“ des
Vaters öffentlich anerkannt zu werden, trägt ihr Zeichen. Bis zu seinem Ende
eignet dem Romanverlauf eine ähnliche Kernlosigkeit und Dezentriertheit wie der
Figur Reisers selbst.
Für den elfjährigen
Knaben bereitet die fiktive Welt der „verbotenen Lektüren“ mit ihren imaginären
Schauplätzen dieselben Gratifikationen wie Tagträume. Beide helfen dem
phantasierenden Ich, die Welt umzubauen und sich halluzinatorisch Wünsche zu
erfüllen. Dabei sucht es immer wieder jene Aufmerksamkeit und Anerkennung, die
ihm die Realität versagt:[82]
Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke
Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringeres, als
einmal eine Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen, denn immer größeren
Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt
wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende
Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen, und leblose Kreaturen,
kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und
alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen,
bis ihm schwindelte.
Dieses Spiel seiner Einbildungskraft
machte ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je nachher wieder genossen
hat. (I 55f. Herv. U.R.)
Die
„verbotenen Bücher“ dienen also nicht nur der narzißtischen
Selbstinszenierung, sie ermöglichen auch, phantasievoll soziale Rollen zu
ergreifen. So bietet etwa Schnabels Insel Felsenburg mit ihrer zentralen
Gestalt, Albertus Julius, ein Paradebeispiel sozialer Anerkennung; er wird durch
eine Gruppe bestätigt und bekommt durch sie einen Status zugewiesen. Was hier
im Raum der Utopie beschrieben wird, besitzt dieselbe Struktur wie die
Heterotopie von Fleischbeins ,quietistischer Republik‘.[83]
Und nichts anderes phantasiert Reiser später, wenn er sich in den Shakespearenächten
mit Philipp Reiser der ,Weltbrüderschaft‘ aller Shakespeareleser zugehörig fühlt.
VII Imitatio und Urteilsfähigkeit – Lektüre
und Ausbildung
Eine
Zäsur, die man als das Ende von Reisers Leseinitiation bezeichnen kann, bildet
der Exkurs über die „frühesten Empfindungen“ des Kindes. Als der Erzähler
den chronologischen Faden wieder aufnimmt, beim elfjährigen Schüler, fängt
dessen Schreibmeister gerade an, „ihn eigne Briefe und Ausarbeitungen machen
zu lassen“ (I 60). Der seit dessen achtem Lebensjahr mit Reisers Ausbildung
betraute Schreibmeister gibt ihm noch mehr von Fénelon, die Totengespräche
und seine Erzählungen. Der private Schreibmeister ist demnach nicht nur für
das Schreiben, sondern auch für das Lesen zuständig. Reiser beginnt,
„seine Lektüre zu nutzen, und hie und da Nachahmungen von dem Gelesenen
anzubringen.“ (I 60) Gelesenes wird zum Vorbild für eigenes Schreiben.[84]
Eher
zufällig, durch die Lektüre von Ramlers Kantate Der Tod Jesu (1756),
die sein Vater in einem Konzert aufgeführt hatte, kommt Reiser mit Poesie in
Berührung. Sein „Geschmack in der Poesie“ erhält auf diese Weise „eine
gewisse Bildung und Festigkeit, die er seit der Zeit nicht wieder verloren hat;
so wie in der Prose durch den Telemach“ (I 60). Schließlich lernt er mit Carl
von Mosers Daniel in der Löwengrube (1763) nochmals eine neue Textsorte
kennen, poetische Prosa.
Damit
ist das Fundament gelegt für zukünftige Autorschaft: Reiser hat Muster zur
Nachahmung, und durch sein Lesen ist er urteilsfähig geworden. Sein teils nach
dem Modell des autodidaktischen Vaters selbst gebasteltes, teils über die
Supervision des Schreibmeisters gesteuertes Leseprogramm hat ihn kritisch
gemacht: In den ,verbotenen‘ Romanen der Mütter nimmt er nun, „ohngeachtet
des Vergnügens, das er darin fand, doch sehr lebhaft das Abstechende und
Unedlere in der Schreibart“ (I 60) wahr.
Als
Reiser für einzelne Fächer, insbesondere für den Lateinunterricht, in die
Stadtschule geschickt wird (I 61), muß er zunächst „den Donat“, die
lateinische Standardschulgrammatik, auswendig lernen. Hier wird er erstmals öffentlich
beachtet. Da er das Pensum – Deklinieren, Konjugieren, Vokabellernen –
beherrscht, rückt er „in kurzer Zeit von einer Stufe zur andern empor“ (I
62). Lustvoll phantasiert er daraufhin seine zukünftige Rolle als literatus:
„Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der
nun zum erstenmale in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sahe,
was er so lange vergeblich gewünscht hatte.“ (I 62) Reisers öffentliche
Anerkennung wirkt zurück in die Familie:
Auch
zu Hause brachte er diese kurze Zeit ziemlich vergnügt zu, indem er alle
Morgen, während daß seine Eltern Kaffee tranken, ihnen aus dem Thomas von
Kempis von der Nachfolge Christi vorlesen mußte, welches er sehr gern tat. / Es
ward alsdann darüber gesprochen, und er durfte auch zuweilen sein Wort dazu
geben. (I 62)
Endlich
bringt seine wachsende literate Kompetenz ihm auch die ersehnte Geltung in der
Familie. Noch immer verordnet, steht die Lektüre für einmal im Zeichen von
elterlichem Konsens. Sie bindet Reiser horizontal in die Familie ein: Den Eltern
vorlesen und sich äußern zu dürfen, bedeutet einen Umbau von Autoritätsverhältnissen,
gestattet ihm im Wortsinne, ,eine Stimme zu haben‘ und ,eine Rolle spielen‘
zu dürfen.[85]
In diese glückliche
Phase fällt auch die Begegnung mit dem 105jährigen Tischer, die der Vater
herbeiführt: „ich will dich zu einem Manne führen, in dem du den heiligen
Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken
wirst“ (64). Tischer ist ein Patriarch, der im Kokon seiner Bücherwelt abgeklärte
Weisheit verkörpert, ein leibhaftiges Pendant zur Gestalt Mentors und eine
positive Gegenfigur zu Fleischbein.[86]
Der eine – Mentor – greift aktiv in das Leben seines Schützlings ein, der
andere – Tischer – bleibt asketisch-zurückgezogen in seinem Gehäuse, wo
man ihn auf labyrinthischem Wege suchen und finden muß. Beide Erziehergestalten
sind charismatische Vaterfiguren, Repräsentanten jener affektiven Solidarität,
für die der Erzähler eintritt. Tischer fördert Reisers Lernfortschritte in
der Schule und bei seinem Schreibmeister, indem er ihm seine umfangreiche
Sammlung theologisch-mystischer Schriften zur Verfügung stellt. Beiläufig führt
er ihn so in die Bibliotheksbenutzung ein, der erste Schritt zur Lektüremündigkeit.
Wie keine Figur im Roman (be)hütet und ermöglicht er den Zugang zu einer
Schrift- und Bücherwelt, die nicht für Verabreichung oder Zensur, sondern für
einen souveränen Umgang mit der Medien-Welt steht.
Das Glück dieser
Lese-, Lern- und Lebenserfahrung findet ein abruptes Ende im Beschluß des
Vaters, Reisers Lateinstunden zu beenden und den geliebten Schreibmeister zu
wechseln.[87]
Die Reaktion des Knaben spricht eine deutliche Sprache: Er verweigert das Lernen
(I 65).[88]
Sein masochistisches Abwehrverhalten („freiwillige Aufopferung“, I 66),
findet, wie beim zweiten Pyrmonter Aufenthalt, ihre aggressive Kehrseite in den
Prügeleien mit „gemeinen Gassenbuben“ (I 69), mit denen er sich nunmehr
identifiziert. Gleichzeitig wird die „Bücherwelt“ überdimensional
idealisiert: „er hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles, was studiert
hatte und einen schwarzen Rock trug, so daß er diese Leute beinahe für eine
Art übermenschlicher Wesen hielt“ (I 70). Hier scheint noch einmal das große
Ziel, ein literatus sein zu wollen, auf; im Zeichen des Wunsches und der
Enttäuschung wird der Gelehrte zum Idol.
Reisers
tiefe Kränkung spiegelt sich in einem neuen Leseverhalten. Die (religiösen)
Lektüren und Gebete absolviert er heuchlerisch und ohne Empfindung. Die väterliche
Willkür und Herabsetzung verschärfen einen seelischen Dissoziationsprozeß,
der das Ziel, zu reden wie der Vater, einerseits immer dringlicher werden läßt
und andererseits den Zugang zu ,authentischen‘ inneren Gefühlen nur um so stärker
blockiert bzw. diese abspaltet.
VIII Leseversagen
Beschlossen
wird der erste Band des Romans mit Reisers vierzehntem Lebensjahr. Reiser ist
jetzt Schüler einer Freischule für Lehrerausbildung (I 110f.) und glänzt
durch seinen Vorsprung im Nachschreiben. Damit sticht er sogar die Lehrer aus
und zieht die Aufmerksamkeit des Inspektors auf sich. Allein, auch hier kippt
der Erfolg um: Reiser ist zu gut. Die Buchstabierübungen unterfordern ihn:
Es wurde [...] eine Buchstabierübung angestellt, wo einer der Knaben
immer eine Silbe erst allein buchstabieren und vorschreien, und dann die andern
alle, wie aus einem Munde, nachschreien mußten. [...] diese ganze Übung kam
Anton wie toll und rasend vor, und er schämte sich nicht wenig, da er sich
schmeichelte schon mit Ausdruck lesen zu können. (I 111)
Reiser
kann längst nicht nur mechanisch Buchstaben reproduzieren, sondern den Inhalt
begreifen und entsprechend vortragen, d.h. Schrift und Semantik verbinden. Nach
der zeitgenössischen Klassifikation ist eben dieses – „Fertigkeit, Verstand
und Ausdruck“ – die höchste Stufe der Lesekunst.[89]
Als es gilt, sein Können unter Beweis zu stellen, versagt er jedoch: „die
Reihe vorzuschreien kam bald an ihn, denn dies ging wie ein Lauffeuer herum; und
nun saß er und stockte, und die ganze schöne Musik geriet auf einmal aus dem
Takt.“ (I 111) „Takt“ und „Musik“ bezeichnen die akkustische Seite
dieses konzertierten Schüler-Drills.[90]
Reisers Versagen äußert sich also als deutlich wahrnehmbare Störung innerhalb
der Gruppe. Aber erst die demütigende Kurzformel des Inspektors – „dummer
Knabe“ – bedeutet für Reiser die ultimative Katastrophe: „Anton glaubte
in dem Augenblick vernichtet zu sein, da er sich plötzlich in der Meinung eines
Menschen auf dessen Beifall er schon viel gerechnet hatte, so tief herab
gesunken sahe, daß dieser ihm nicht einmal mehr zutrauete, daß er
buchstabieren könne.“ (Ebd.) In Reisers Erinnerung verbindet sich diese
Erfahrung mit ähnlichen anderen zu einer Serie von niederschmetternden Kränkungen.
Sie lassen ihn – der Mechanismus ist bekannt – eben jene Eigenschaften
annehmen, welche ihm zugesprochen, erst eigentlich aber durch diese
Zuschreibungen produziert werden:
„Durch tausend unverdiente Demütigungen kann jemand am Ende so weit
gebracht werden, daß er sich selbst als einen Gegenstand der allgemeinen
Verachtung ansieht, und es nicht mehr wagt, die Augen vor jemand aufzuschlagen
– er kann auf die Weise in der Unschuld seines Herzens alle die Kennzeichen
eines bösen Gewissens an sich blicken lassen [...]“. (I 154)
Aus
verlorener Ehre wird er zur Schreib-Maschine: Um die erlittene Kränkung zu
kompensieren und weil er den Inspektor wegen seines Irrtums mit Reue strafen
will, d.h. weil er ohne Anerkennung sein verletzliches Selbst nicht schützen
kann, füllt Reiser Seiten um Seiten mit Nachschriften wie der einer „vollständige[n]
Dogmatik mit allen Beweisstellen aus der Bibel, und einer vollständigen Polemik
gegen Heiden, Türken, Juden, Griechen, Papisten“, „unnützes Zeug“, so
der Erzähler, das Reiser dazu bringt, „nun auch wirklich wie ein Buch von
allen diesen Sachen“ (I 112) zu reden.
Hier
nun mündet die Lesergeschichte in die Autorgeschichte. Sie könnte den Titel
tragen: ,ein Autor kann werden, wer wie ein Buch redet‘, und auch sie folgt
dem janusköpfigen Erfahrungsdoppel aus Scheitern und Erfolg. Und zwar deshalb,
weil der „geschärfte Befehl zum Selbstdenken“ (und –wahrnehmen) das
Wie-ein-Buch-Reden durchkreuzt.
Bitte nach der Printversion zitieren!
[1]
Heinz von Foerster: Ethics and Second-order Cybernetics.
Vortrag gehalten auf dem Internationalen Kongreß Système et thérapie
familiale, Paris 4.10.1990 (übers. von Birger Olrogge), und ders. in: You
can’t Judge a Book by it’s Cover. Arrang. von Hans Peter Kuhn und
Hanns Zischler. Berlin 1995.
–
Begonnen wurde mein Beitrag vor vielen Jahren: Ohne Heinrich Bosses Texte
und seine Geschichten zum 18. Jahrhundert wäre ich nicht auf die Idee
gekommen, über die Anfänge von Autorschaft im Anton Reiser nachzudenken.
[2]
Die Texte von Karl Philipp Moritz werden, wenn nicht anders angegeben,
zitiert nach der Ausgabe: Werke, hrsg. v. Horst Günther. Frankfurt am Main
1981, mit Band- (röm.) und Seitenangabe (arab.), und nach der Ausgabe im
Deutschen Klassiker Verlag: Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Heide Hollmer
und Albert Meier. Frankfurt am Main 1997, mit Band und Seitenabgabe (röm./arab.)
und der Sigle DKV.
[3]
Wie sehr Moritz die autopoietische Schleife (als
Individualisierungsverfahren) reflektiert, zeigt sein Kommentar zu Werthers
Brief vom 10. Mai: „Man wird nicht leicht ein Werk der Poesie finden, wo
der Darstellungstrieb selber sich so getreu mit dargestellt hätte, als in
diesem poetischen Gemälde, in welchem gleichsam das Innerste der Seele sich
darzulegen strebt.“ Über
ein Gemälde von Göthe.
In: Werke II (DKV) 911-918, 916.
[4]
Zur Sinnkrise der melancholischen ,Grundlosigkeit‘
vgl. Uwe Hebekus: „Practicus des Indecori“. Die Zeichen der
Melancholie in Aufklärung und Empfindsamkeit. In: DVjs 72, 1998, S.
56-80.
–
Der Bezug des Reiser-Romans zum Pietismus ist entlang von Robert
Minders Argumenten (Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt
aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz.
Frankfurt am Main 1974) immer wieder betont worden; vgl. zuletzt Werner
Loch: Die Darstellung des Kindes in pietistischen Autobiographien.
In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung, hrsg. v. Josef N. Neumann und Udo
Sträter. Tübingen 2000 (Hallesche Forschungen. Bd. 5), S. 143-182,
179-182.
[5]
Zum Beobachter vgl. Johann Caspar Lavaters Geheimes Tagebuch von einem
Beobachter seiner Selbst (1771) und sein Plädoyer für das Beobachten
in der Abhandlung Von der Physiognomik (1772) und in den Physiognomischen
Fragmenten. Lichtenberg nennt in seiner Streitschrift Über
Physiognomik (1778) einen „sich über alles erstreckenden
Beobachtungsgeist[]“ das Merkmal des Zeitalters (Georg Christoph
Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies. Bd.
III. München 1972, S. 256-308, hier S. 259). Nach Christoph Martin Wieland
ist alles, was „über die Beschaffenheit der Staatswirthschaft, Polizey, bürgerlichen
und militarischen Verfassung, Religion, Sitten, öffentlichen Erziehung,
Wissenschaften und Künste, Gewerbe, Landwirthschaft, u.s.w. in jedem Theile
unsers gemeinsamen Vaterlandes [...] einiges Licht verbreitet [...]“,
wert, dargestellt zu werden. Dazu wiederum komme man nicht anders, „als
indem man die Augen aufmacht und sieht, und indem diejenigen, welche mehr
Gelegenheit als andere gehabt haben zu sehen was zu sehen ist, ihre
Beobachtungen den andern mittheilen.“ Über die Rechte und Pflichten
der Schriftsteller (1785). In: Wielands Werke. Bd. 15: Prosaische
Schriften II. 1783-1794, hrsg. v. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1930 (Akademie
Ausgabe. 1. Abt. 15.), S. 67f. Für Moritz ist das „Beobachten
–
sich über die Dinge erheben, wodurch man sonst mit ins Spiel gezogen wird
–
[...] Ersatz für jede Entbehrung“ und „[d]ie letzte Freistatt des
Weisen“, Werke II [DKV], S. 43; andererseits – die Figur ist also
komplex - kann man an seinen Worten über das Leben in Italien den Streß
ablesen, den das ständige selbstreflexive Beobachten bereitet: „man gewöhnt
sich nach und nach, die Sachen bloß anzusehn [...], ohne Reflexionen darüber
anzustellen, die nichts nützen. Man beschränkt sich immer mehr auf den
Moment und hört auf, das Leben im Ganzen zu betrachten und sich vergebliche
Mühe zu geben, seine labyrinthischen Verwicklungen zu enträtseln.“
Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien. In: Werke II 300. Wie
schwer Moritz der Verzicht auf ,Tiefenforschung‘
fällt, bezeichnet das abwertende „bloß“; und in den „labyrinthischen
Verwicklungen“ schwingt noch der pietistische Diskurs nach (vgl. etwa
Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens.
Amsterdam 1663); Hamann wird
–
gut pietistisch
–
sein Leben als „Labyrinth“ bezeichnen und den Grund im unsystematischen
Unterricht einer „Winkelschule“ sehen. Johann Georg Hamann: Gedanken
über meinen Lebenslauf. In: Hauptschriften, hrsg. v. Otto Mann. Leipzig
o.J., S. 2f.
[7]
Vgl. dazu Jerome Bruner: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur
Kulturpsychologie des Sinns (engl. Acts
of Meaning,
1990). Heidelberg
1997, S. 109, und ders.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative
Konstruktionen. In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein.
[...], hrsg. v. Jürgen Straub. Frankfurt am Main 1998, S. 46-80, sowie
Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die
Literatur. München und Wien 1994, hier insbes. der sechste Streifzug Fiktive
Protokolle.
[8]
Vgl. dazu Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte
der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt am Main 2000, hier insbes. S.
296ff.
[9]
Karl Philipp Moritz: Neues ABC-Buch. Illustrationen von Wolf Erlbruch.
Nachwort von Heide Hollmer. München 2000, o.S.
[10]
Bündig dazu Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das
Gesamtwerk. 2., vollst. überarbeitete, erw. und aktualisierte Aufl.
Stuttgart 1999, S. 25-32.
[11]
Vgl. dazu Niklas Luhmann: Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?
In: Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für
Heinz von Foerster. Hrsg. v. Paul Watzlawick und Peter Krieg. München und Zürich
1991, S. 61-74.
[13]
„[Erzählen] ist spezialisiert auf das Schaffen von Verbindungen zwischen
dem Außergewöhnlichen und dem Gewöhnlichen. [...] Die Alltagspsychologie
ist Träger des Kanonischen. Sie konzentriert sich auf das Erwartbare
und/oder das Gewöhnliche der menschlichen Existenz. Sie verleiht diesem
Legitimität und Macht. Sie verfügt aber über zweckmäßige und
wirkungsvolle Mittel, das Außergewöhnliche und das Ungewöhnliche in eine
verständliche Form zu bringen. Denn [...] die Viabilität einer Kultur
[liegt] in ihrer Fähigkeit, Konflikte zu lösen, Differenzen zu erklären
und gemeinschaftliche Bedeutungen immer wieder neu auszuhandeln. Die
,ausgehandelten Bedeutungen‘
[...] werden möglich gemacht durch das Instrumentarium des Erzählens, das
gleichzeitig mit dem Kanonischen und dem Außergewöhnlichen umgehen
kann.“ Bruner (Anm. 7), S. 64. Moritz, so scheint es, hat diese ,unmögliche
Logik‘
erfaßt, dem ,gewöhnlichen Menschen‘
eine Stimme verliehen und ihn mit der Aufmerksamkeit für das Außergewöhnliche
bedacht. So jedenfalls lassen sich die vielzitierten Sätze der Vorrede
lesen: „Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie
dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich
klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit
mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in
einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen
schildern soll, keine große Mannichfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn
es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen,
und den Blick der Seele in sich selber schärfen.“ (I 36) Ein solches Erzählprojekt
arbeitet daran, die Grenzen des literarisch Sagbaren auszuweiten und
Subjektivität zu objektivieren.
[14]
Ephemeriden
der Litteratur und des Theaters. 39.
Stück, Berlin 24. September 1785, S. 205-208; zit. nach Moritz: Werke I
(DKV) 965.
–
Das Paradox von Realismusanspruch und Selbstbeobachtungsaporie löste die in
der Forschung immer wieder gestellte Frage nach der Positionierung des
Romans zwischen Autobiographie und Fiktion aus. Den aktuellen Stand der
Moritz-Biographik referiert Albert Meier: Karl Philipp Moritz.
Stuttgart 2000, S. 12-67. Aus kommunikationswissenschaftlicher Warte
analysiert Birgit Nübel: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800.
Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen 1994, das
komplexe Erzählgeflecht des Textes.
[15]
„Wenn Erinnern immer auch einhergeht mit neu Einschreiben, dann muß die Möglichkeit
in Betracht gezogen werden, daß bei diesem erneuten Konsolidierungsprozeß
auch der Kontext, in dem das Erinnern stattfand, mitgeschrieben und der
ursprünglichen Erinnerung beigefügt wird. Es ist dann nicht auszuschließen,
daß die alte Erinnerung dabei in neue Zusammenhänge eingebettet und damit
aktiv verändert wird. Sollte dies zutreffen [...], so könnte durch Erzählen
und Wiedererzählen das ursprünglich Erinnerte ständig neue Modifikationen
erfahren [...]
–
und da der Erzähler nicht merkt, daß seine Erinnerung beim Erinnern labil
wurde [...], nimmt er seine Erinnerungen immer als authentische
Ersterinnerungen wahr, obgleich sie sich gewandelt haben [...].“ Wolf
Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der
Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des
43. Deutschen Historikertags am 26.9.2000 in Aachen (www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/vortrag.htm),
S. 8.
–
Aufschlußreich ist, daß sich Moritz im Anton Reiser der
Konstruktion von Wahrnehmungen und Erinnerungen durchaus bewußt ist (vgl.
eindrücklich I 98f). Wenn Reiser darauf verfällt, daß die Erinnerungen
des Knaben vielfach nur Erinnerungen an Erinnerungen sind, dann schreibt der
Text den dargestellten Erfahrungen den Mechanismus der Retrospektion mit
ein. Daran wird nicht durchgängig, aber immer wieder erinnert, so daß der
Leser zum Beobachter dritter Ordnung wird; meistens ist er aber das, was
Moritz sich wünscht, nämlich ein empathischer Teilnehmer (s.u.).
[16]
Dies Wolf Singers Definition von Wahrnehmung und Erinnerung, a.a.O.
(Anm.15); und so entdeckt die anthropologische Wende der Goethezeit den
Menschen als Medium: „Die anthropologische Implikation ist massiv. Ein
Mensch als Objekt nicht von Produktion, sondern von Reproduktion, nicht von
Aktion, sondern von Reaktion, nicht von Bewußtsein, sondern von Unbewußtsein,
wird Gegenstand des Wissens. Ob in den Labors der Experimentalpsychologie,
ob in ästhetischen, kriminalistischen, pathologischen oder sonstigen
modernen Kontexten wird er präsent sein
–
als Medium.“ Rieger (Anm. 8), S. 299.
[18]
Eine Passage über Reisers Mutter zeigt das besonders eindrücklich und in
der Figur einer Metalepse (im Sinne Genettes), der Grenzüberschreitung
zwischen der erzählten Welt und der Welt des Erzählers. Sie habe das
„Unglück“ gehabt, heißt es, „sich oft für beleidigt, und gern
für beleidigt zu halten [...], um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und
zu betrüben [...]. Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn
fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.“
(I 55; 2. Herv. U.R.)
[19]
Vgl. dazu Heide Rohse: Unsichtbare Tränen. Effi Briest
–
Oblomow
–
Anton Reiser
–
Passion Christi.
Würzburg 2000, S. 12f.
[20]
Wie Reisers Schauspielleidenschaft nachträglich kommentierend, fährt der
Text fort: „Eben dies ist der Fall bei einem Schauspiel: es gefällt mir,
wenn es mit meiner Empfindung harmonisch ist; es rührt mich, wenn etwa
Erinnerungen von ähnlichen Szenen bei mir erweckt werden; aber es
interessiert mich erst, wenn ich mich selbst gleichsam darüber vergesse,
und mit allen meinen Gedanken und Empfindungen selbst zwischen den
spielenden Personen bin.“ (Werke III 664)
[21]
Zum Facettenreichtum dessen, was unter dem Begriff des „Gelehrten“ im
18. Jahrhundert verstanden wird, s. das Kapitel Von den Gelehrten und Bücherschreibern
überhaupt in Johann Andreas Fabricius’ Geschichte der Gelehrsamkeit.
Der banalste, für Reiser durchaus einschlägige Grund-Satz lautet: „Das Bücherschreiben
ist ein Mittel berühmt zu werden“. Ders.: Abriß einer allgemeinen
Historie der Gelehrsamkeit. Bd. 1 (Leipzig 1752). Reprint Hildesheim und
New York 1978, S. 692.
[22]
Nach Luhmann ist der Begriff der „Karriere“ im 18. Jahrhundert an den
der Individualität geknüpft: Das Individuum konstituiert sich nicht mehr
,intern‘
durch Geburt und vorgegebenen Stand, sondern ,extern‘
durch soziale Differenzierung, „durch Bezug auf das, was es [das
Individuum] von allen anderen unterscheidet.“ Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur
und Semantik. Bd. 3. Frankfurt am Main 1989, S. 215. S. auch S. 216-236.
Wie hoch gleichwohl die Schwelle für soziale Außenseiter war, in
akademische Berufe zu gelangen, andererseits dort, wo die Väter schon
Akademiker waren, Aufsteiger die Regel waren, zeigt Stefan Brakensiek am
Beispiel von kleinstädtischen Beamten. Ders.: Fürstendiener
–
Staatsbeamte
–
Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen
Kleinstädten
(1750-1830). Göttingen 1999 (Bürgertum Bd. 12), hier bes. S. 194ff.
[23]
Nicht zuletzt durch die Bemühungen der Volksaufklärer konnten 1770 ca. 15
% der Bevölkerung lesen, 1800 25% und 1830 schon 40%. Vgl. Horst Möller: Vernunft
und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt
am Main 1986, S. 269. Indirekt reflektiert diesen Befund eine Rezension zum Anton
Reiser: „Da Hr. Moritz doch für Leute schreibt, die lesen, das heißt
nicht für Handwerker u. dgl. so hätte er sich auch für Scenen hüten
sollen, deren Details seinen Lesern statt der Theilnahme, Langeweile erregen
müssen.“ Gothaische gelehrte Zeitungen. 68. Stück, 24. August
1785, S. 557f., zit. nach: Moritz: Werke I (DKV) 964.
[24]
Arnold van Genneps Typologie unterscheidet drei Phasen – ,Trennung‘,
,Schwelle‘
bzw. ,Umwandlung‘
und ,Angliederung‘.
Ders.: Übergangsriten (zuerst frz. 1909). Frankfurt am Main und New
York 1986.
[25]
Als Anton Reiser sich vorübergehend zum „noch [...] seltene[n]“ Studium
der schönen Wissenschaften an der Erfurter Universität einschreibt, heißt
es: „Er stand nun wieder in Reihe und Glied, war ein Mitbürger einer
Menschenklasse, die sich einen höhern Grad von Bildung vor allen übrigen
auszuzeichnen streben. Durch seine Matrikel war seine Existenz bestimmt
[...].“ (I 359) Hier wird die psychosoziale Doppelfunktion von Reisers
Studierwunsch sichtbar: als Besonderer ausgezeichnet und zugleich sozial
integriert zu sein.
[26]
Ein literarischer Topos seit der platonischen Aufspaltung von Schrift in
Heilmittel und Droge.
–
Zu Reisers Lektüren vgl. u.a. Dietrich Weber: Lektüre im „Anton
Reiser“. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der
Arbeitsstelle Achtzehntes Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal 1975.
Heidelberg 1977, S. 58-61; Hans-Georg Pott: Was heißt: Sich im Lesen
orientieren? Der Fall ,Anton Reiser‘.
In: Literatur. Verständnis und Vermittlung. Wilhelm Gössmann zum 65.
Geburtstag, hrsg. v. Joseph A. Kruse u.a. Düsseldorf 1991, S.131-146;
Robert Stockhammer: Leseerzählungen. Alternativen zum hermeneutischen
Verfahren. Stuttgart 1991 (zu K.Ph. Moritz S. 193-210); Peter Cersowsky:
Nicht nur ein Span aus Stratford. Shakespeare-Lektüre bei Karl Philipp
Moritz. In: Karl Philipp Moritz. Text
und Kritik 118/119, 1993, S.76-85; Armin Henry Polster: On the Use and
Abuse of Reading. Karl Philipp Moritz and the Dialectic of Pedagogy in
Late-Enlightment Germany. In: Impure Reason. Dialectic of Enlightment in
Germany, hrsg. v. W. Daniel Wilson. Detroit
1993, S. 465-484; Karl Pestalozzi: Anton Reiser als Leser. In: Karl
Philipp Moritz. Literaturwissenschaftliche, linguistische und psychologische
Lektüren, hrsg. v. Annelies Häcki Buhofer. Tübingen und Basel 1994, S.
115-128, zuletzt Wolfgang Martens: Zur Einschätzung von Romanen und
Theater in Moritz’ „Anton Reiser“. In: Karl Philipp Moritz und das
18. Jahrhundert. Bestandsaufnahme
–
Korrekturen
–
Neuansätze, hrsg. v. Martin Fontius und Anneliese Klingenberg. Tübingen
1995, S. 101-109.
–
Zum Thema Lektüre und Lesergeschichte insgesamt s. Rolf Engelsing: Der Bürger
als Leser. Lesergeschichte in Deutschland. 1500-1800. Stuttgart 1974;
Ralph-Rainer Wuthenow: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser.
Frankfurt am Main 1980; Lesen
–
historisch,
hrsg. v. Brigitte Schlieben-Lange. Göttingen 1985 (LiLi. Zeitschrift für
Literaturwissenschaft und Linguistik 15, H. 57/58, 1985); Erich Schön: Der
Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel
um 1800 (1987). Stuttgart 1993; Hartmut Eggert und Christina Garbe: Literarische
Sozialisation. Stuttgart und Weimar 1995; Matthias Bickenbach: Von
den Möglichkeiten einer ,inneren‘ Geschichte des Lesens. Tübingen
1999 (Communicatio. 20).
[27]
Vgl. dazu Foucaults Ordnung der Dinge (Anm. 12); zu Moritz im
besonderen s. Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen.
Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit (Epistemata. Reihe
Literaturwissenschaft. 231) Würzburg 1998.
[28]
Vgl. Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Bücher: Lesen lernen durch
Faszination. Stuttgart 1982, S. 58.
[29]
Jede Lektüre verändere ihren Gegenstand: „Wenn somit ,das Buch ein
Resultat (eine Konstruktion) des Lesers ist‘,
muß man die Vorgehensweise dieses letzteren als eine Art von lectio
betrachten, als eine dem ,Leser‘
eigene Produktion. Dieser nimmt weder den Platz des Autors noch einen
Autorenplatz ein. Er erfindet in den Texten etwas anderes als ihre
,Intention‘
war. Er löst sie von ihrem (verlorenen oder nebensächlichen) Ursprung. Er
kombiniert ihre Fragmente und schafft in dem Raum, der durch ihr Vermögen,
eine unendliche Vielzahl von Bedeutungen zu ermöglichen, gebildet wird,
Un-Gewußtes.“ Michel de Certeau: Kunst des Handelns (frz. 1980).
Berlin 1988; hier zit. nach der leicht veränderten Fassung u.d.T. Die
Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute
oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. v. Karlheinz Barck u.a.
Leipzig 1991, S. 295-298, 295. Certeaus Zitate beziehen sich auf Michel
Charles: Rhétorique de la lecture. Paris 1977, S. 83 und S. 61.
[30]
„Weit davon entfernt, Schriftsteller, also Gründer eines eigenen Ortes
oder Erbe früherer Pioniere zu sein, sind Leser Reisende [...]. / Sie [die
Lektüre] hat tatsächlich keinen Ort. [...] Ebenso ist es beim Leser: sein
Ort ist nicht hier oder dort, der eine oder der andere,
sondern weder der eine noch der andere, gleichzeitig innen und außen
[...].“ Certeau: Die Lektüre (Anm. 29), S. 297.
[32]
Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre an Herrn Direktor
Gedike. (Bei der Jubelfeier des Werderschen Gymnasiums). Berlin,
bei August Mylius 1782, S. 24; hier zit. nach Schneider(Anm. 27), S. 21.
[33]
Auf ganz andere Weise und doch mit demselben Effekt beschreibt Lenz die „idealische
Welt“ in seinem Waldbruder-Fragment (1776). Es ist die in in der
„wilden taumelnden Einbildungskraft“ eingenistete Medienwelt. Das geht
aus Rothes Charakteristik des „von den empfindlichsten Leiden und
Plagen“ gequälten Herzens hervor: „Er hat sich nun einmal eine gewisse
Fertigkeit gegeben, die seine andere Natur ist, alle Menschen und Handlungen
in einem idealischen Lichte anzusehen.“ So verliebt er sich in das
„Gegenbild zu dem Ideal [...], das er sich von der Nymphe des Telemachs,
den sein Hofmeister mit ihm exponierte“, macht, oder er sehnt sich nach
Deutschland zurück, „um aus Goethes oder Wielands Romanen und aus
Klopstocks Cidli sich ein Ideal zusammen zu schmelzen, das seinesgleichen
noch nicht gehabt.“ Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Waldbruder.
In: Ders.: Werke und Briefe, hrsg. v. Sigrid Damm. Bd. 2. München 1987, S.
409f.
[34]
Vgl. dazu auch die 8. und 9. der Vorlesungen über den Stil. In:
Werke III 636-647. Zum Komplex der Semiose s. Schneider (Anm. 27).
[35]
Certeau hat das Lesen deshalb vor dem Verdikt der Passivität in Schutz
genommen und als eine besondere Form des Handelns beschrieben, eben eine
Reiseveranstaltung: „der Leser ist ein Produzent von Gärten, in denen
eine Welt zusammengetragen und verkleinert wird; er ist ein Robinson einer
zu entdeckenden Insel [...]. Er ist somit ein schwärmerischer Autor. Er hat
keinen festen Boden unter den Füßen und schwankt an einem Nicht-Ort
zwischen dem, was er erfindet, und dem, was ihn verändert. Mal [...] kommt
er vom Weg ab, lacht und landet einen ,Coup‘
[....]. Mal verliert er die fiktiven Sicherheiten der Realität.“ Certeau:
Die Lektüre (Anm. 29), S. 297.
[36]
Anonym: Bekenntnisse. Berlin 1782; im selben Jahr zwei weitere Übersetzungen
unter dem Titel Geständnisse in Berlin, Riga und Leipzig. Arnold von
Knigge gab sie neu in einer vierbändigen Ausgabe, Berlin 1786-1790, heraus.
Bereits die zeitgenössischen Rezensionen stellten einen Bezug von Moritz’
„psychologischem Roman“ zu Rousseau her.
[37]
Zum Hintergrund dieser „Separatisten“ (I 85) und zu Johann Friedrich von
Fleischbein (1700?-1774) siehe den Artikel von Hans-Jürgen Schrader in: Religion
in Geschichte und Gegenwart. Bd.
3. 4., völlig neubearb. Aufl. Tübingen 2000. Eine
Auswahl von Briefen Fleischbeins, hrsg. v. Johannes Burkardt und Michael
Knieriem, wird demnächst im Brunnen-Verlag
erscheinen (frdl. Mitt. von Hans-Jürgen Schrader). Neues Material zu
Fleischbein und Moritz bringt die von Christof Wingertszahn hrsg. kritische
Ausgabe des Anton Reiser (vorauss. Tübingen 2002).
[38]
Vgl. dazu Tzvetan Todorov: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer
allgemeinen Anthropologie. Berlin 1996, S. 95-133 (zu Anton Reiser
s. S. 101), und Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf.
München 1998.
[39]
Vgl. Michel Foucault: Andere Räume (frz. 1967). In: Aisthesis.
Wahrnehmung heute (Anm. 29), S. 34-46, 39.
[40]
Zu Fleischbeins Übersetzungen s. Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion
und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’
„Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen
1989 (Palaestra Bd. 283), und ders.: Madame Guyon. Pietismus und
deutschsprachige Literatur. In: Jansenismus
–
Qietismus
–
Pietismus, hrsg. v. Hartmut Lehmann u.a. Göttingen 2001 (Arbeiten zur
Geschichte des Pietismus). Weiteren Aufschluß verspricht die Ausgabe der
Briefe Fleischbeins und die kritische Reiser-Ausgabe (s. Anm. 37).
[41]
Vgl. Rousseaus initiales Bekenntnis seiner Unglücksexistenz („Ich kostete
meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück“) und
dagegen den Selbstentwurf des Glückskinds Goethe zu Beginn von Dichtung
und Wahrheit.
[42]
August Langen hat darauf hingewiesen, daß solche Abstraktionsbildungen
Merkmal der aus der Mystik übernommenen Sprache des Pietismus sind; ders.: Der
Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954, S. 382-384. Vgl.
auch den Kommentar in Werke I (DKV) 1000.
[43]
Dieser im Anschluß an René Girard gebildete Begriff impliziert hier, daß
Reiser nicht reden will wie die Mutter; sie hat, liest man den Text
autobiographisch, Dialekt gesprochen: „Sein Vater sprach hochteutsch und
seine Mutter plattdeutsch“, so die Erinnerungen aus den Jahren der
Kindheit, von K.St., hinter dem sich Moritz’ Bruder verbirgt. In:
ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder
Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und
Ungelehrte 8, 1791; zit. nach Karl Philipp Moritz: Die Schriften in dreissig
Bänden, hrsg. v. Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986, Bd. 8, S. 170.
–
Vgl. auch Moritz’ Kommentar zum Differenzen begründenden Code der Büchersprache
in seiner Abhandlung Über den märkischen Dialekt: „Jemehr der
Dialekt, oder die gemeine Volkssprache [...] von der verfeinerten oder Büchersprache,
verschieden ist, desto besser ist es für die letztere, desto reiner und
richtiger wird dieselbe gesprochen, weil dasjenige, was sich, aus dem
Dialekt, in dieselbe einmischen könnte, viel zu auffällig seyn würde, als
daß man es nicht sogleich, als fehlerhaft, aus derselben wieder verwerfen
sollte.“ Berlin 1781, S. 15; zit. nach Hartmut Schmidt: Karl Philipp
Moritz über Sprache, Hochdeutsch, Berliner Umgangssprache und märkischen
Dialekt. In: Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert, S. 61-74, S.
68.
[44]
Diese mimetische Aneignung ist, psychologisch gesprochen, die wohl am stärksten
gebändigte Form der Aggression gegen den Dritten. Eine andere, nur in der
Phantasie oder im Spiel zugelassenene, sind Reisers kriegerische
Vernichtungsspiele. Eine dritte Form der Aggression ist das gegen das eigene
Selbst gerichtete Melancholiesyndrom. Selbst Reisers Theateromanie, die
kreative Übernahme von Rollen, hat die
–
psychische
–
Funktion geschützt praktizierbarer Aggression. Der Simulationsraum der Bühne
substituiert zugleich auch den in der sozialen Praxis verweigerten
Handlungs(spiel)raum. Deshalb erscheint er dem schauspielerisch unbegabten
Reiser so zunehmend begehrenswert. Schrift
–
Spiel
–
Symptom
–
Rolle wären, also die im Roman ausgestellten ,Medien‘,
in denen sich die aus dem familialen Spannungsfeld und dem fehlenden
sozialen Integrationsfeld generierten Aggressionen Reisers ihre Ventile
suchen.
[45]
Der Text tut das explizit, wenn es heißt: „Dies beständige Hin- und
Herschwanken ist zugleich ein Bild von dem Lebenslaufe seines Vaters
[...]“ (I 68).
[46]
Bei Reisers schließlichem Verzicht auf eine Universitätskarriere könnte
man jenes paradoxale Muster in Betracht ziehen, das Freud in seiner Erinnerungsstörung
auf der Akropolis (1936; in: Studienausgabe. Bd. IV, S. 283-293)
beschreibt: „Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit
gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was
unrecht, was von alters her verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik
am Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche Überschätzung
seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesentliche am
Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer
unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen.“ (Ebd., S. 292) Auch der
Aufklärer Freud ist noch darum bemüht, das irritierende Phänomem der
,Grundlosigkeit‘
der Melancholie, die daran gekoppelt ist, epistemisch zu tilgen.
[47]
Zum folgenden Heinrich Bosse: „Die Schüler müßen selbst schreiben
lernen“ oder Die Einrichtung der Schiefertafel. In: Schreiben
–
Schreiben lernen. Rolf Sanner zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Dietrich
Boueke und Norbert Hopster. Tübingen 1985 (Tübinger Beiträge zur
Linguistik. 249), S. 164-199.
–
Noch 1819 kritisiert der Schellingschüler Johann Baptist Graser die
Trennung von Lesen/Buchstabieren- und Schreibenlernen in der
Elementarschule: „Der Schreibunterricht steht mit dem Leseunterricht in
der engsten Verbindung, so zwar, daß eigentlich der erste den zweiten in
sich schließt, und daher der eine den andern auf eine ganz natürliche
Weise unterstützt. / Allein die Buchstabirschule ahnet nicht einmal
diesen Zusammenhang und ertheilet daher den Schreibunterricht
–
ganz abgesondert von dem Leseunterricht
–
gewöhnlich erst, wann der Leseunterricht etwas voran geschritten ist. /
Auch bey diesem wird eben so geistlos, wie beym Leseunterricht verfahren.“
Ders.: Der erste Kindes-Unterricht, die erste Kindes-Qual. Eine Kritik
der bisher üblichen Leselehrmethoden und eine nöthige Beilage zu der
Elementarschule fürs Leben. Schulaufsehern, Lehrern und Müttern, welche
die Kinder lieben und ihre Bildung wollen, zur Beherzigung mitgeteilt.
Bayreuth und Hof: Grau 1819, S. 24f.
[48]
Vgl. dazu Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme. 1800/1900. München
1985, S. 54; s. dort a. Herders Kritik. Zur Buchstabiermethode im einzelnen
Bosse (Anm. 47) S. 174-184 (mit Hinweisen auf die entsprechenden pädagogischen
Quellentexte und Forschungsliteratur). Zur Didaxe von Nebukadnezars
Wahnsinnsgeschichte s. Daniel 4,34f.
[49]
Vgl. dazu die auf den Kommentaren und Forschungen von Wolfgang Martens
(Stuttgart 1972), Jürgen Jahn (Berlin und Weimar 1973) und Horst Günther
(Frankfurt am Main 1981) aufbauenden Erläuterungen der Reiser-Ausgabe
von Ernst-Peter Wieckenberg (Leipzig 1987) und zuletzt Heide Hollmer und
Albert Meier in Werke I (DKV).
[50]
A[dolph] G[eorg] Kottmeier: Die Oliviersche Lehrmethode ist im
Wesentlichen nicht neu. In: Bibliothek der Pädagogischen Literatur.
Gotha 1804, S. 107-112, 108. (den Hinweis verdanke ich Heinrich Bosse).
–
Kottmeier (1768-1842) wurde später Domprediger zu Bremen.
[51]
„Der Verf. hat sich nicht genannt: auch ist nirgends die Jahreszahl des
Drucks anzutreffen. Aber der Druck selbst, so wie der Styl des Verf. und die
von ihm getroffene Auswahl der zu den ersten Leseübungen bestimmten
Materialien beweisen offenbar, daß dieß Büchlein der ersten Hälfte des
verflossenen Jahrhunderts [also des 18.] angehört.“ Ebd. S. 108.
[57]
Noch Graser unterstellt, daß diese Schullehrer, auch wenn sie „einen
Bildungskurs im Seminar genossen“ hätten, „nur zu der Klasse der
Halbgebildeten“ gehörten, und daß diese Art des Leseunterrichts sie von
der Vorbereitung befreie: „Wenn er auch des Morgens so eben der Federhülle
entwunden, und nothdürftig bekleidet, in die Schule tritt, so vermag er
sein Geschäft eben so leicht zu betreiben, als der Professor, der sich
Stunden lang auf eine Vorlesung vorbereitet; denn das A B C, bleibt immer
dasselbe, so wie das Buchstabiren und Syllabiren immer denselben Gang behält.“
Graser (Anm. 47), S. 22f.
[58]
Die Titelliste bei Johann Samuel Ersch: Bibliographisches Handbuch der
philologischen Literatur. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis auf die
neueste Zeit. 3. Aufl. Leipzig 1845 (Reprint Darmstadt 1974), nennt eine
Fülle von (Lese-)Lehrbüchern im frühen 19. Jahrhundert. Sie zeigt, daß
die Lautiermethode um sich greift; einige Lesebücher bieten noch beide
Methoden parallel. Verboten wurde die alte Technik erst durch die Allgemeinen
Bestimmungen vom 15. Oktober 1872 mit dem Satz: „Die
Buchstabiermethode ist ausgeschlossen“. (Wilhelm Sieverts: Die
begriffliche Methode im Leseunterricht). Leipzig 1903, S. 50. Selbst
wenn man in Rechnung stellt, daß die rückwirkende bibliographische
Ermittlung von Schulbüchern immer schon schwierig war, kann man vermuten,
daß die Fülle der Titel bei Ersch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts
nicht nur mit seiner Zeitgenossenschaft, sondern auch objektiv mit der
explosionsartigen Zunahme von Lesebüchern durch die neue Methode zu tun
hat. Zur historischen Darstellung und Kritik der Buchstabiermethode s.
Graser (Anm. 47), S. 11, 31, 46.
[59]
„Nachsinners Lesekunst, in welcher das hinderlichfallende und
zornerweckende Buchstabiren aus dem Wege geräumt und ein bequemer Weg zum
Lesen gezeiget wird wird“ (Joh. Friedr. Regelein: Büdingen 1735; 2. Teil
u.d.T.: Nachsinners Lese-Kunst, zweytes Stück, bestehend in bequemen
Handleitungen für Lernende), nennt auch Johann Julius Hecker in seinem
Schulprogramm Ob das Buchstabiren zum Lesenlernen nöthig sey?
Geschrieben zu Berlin den 7ten April 1750 (in: Briefwechsel einiger
Schullehrer und Schulfreunde. Hg. von B.C.L. Natorp. Bd. III, Duisburg 1816,
S. 300-311). Hecker verwirft die nur unter „Verläugnung des Verstandes“
(ebd. S. 304) praktizierbare und deshalb ineffiziente Buchstabiermethode und
beruft sich über „Nachsinners Lesekunst“ hinaus auf die beiden
Initiatoren der Antibuchstabiermethode: „Die Methode, ohne Buchstabiren
das Lesen zu erlernen, hat, was unsere Sprache anbetrifft, soviel wir wissen
vor dem Prediger in Barby Herrn Ernst Bogislaus Ventzky keiner bekannt
gemacht; welcher zu der Zeit, da er noch als Rector in der Barbyschen Schule
arbeitete, die ersten Proben davon in seinem in Erfurt gedruckten
sogenannten erleichterten Lesebüchlein dargeleget, darinnen
gezeiget wird, wie man einem das Lesen ohne lautes Aussprechen der stummen
Buchstaben und ohne Buchstabiren leicht und bald beybringen könne.
[Erfurt um 1722] [...] Nachher hat einer, dessen Name mir nicht bekannt
geworden, ein Büchlein (...) herausgegeben, welches er nennt, Nachsinners
Lesekunst [...] Imgleichen hat Herr Pastor Christian Wilhelm Bäsecke
in Burg einige Bogen ohne Titel und Anweisung vermuthlich zu eben dem Zweck
drucken lassen.“ (ebd. S. 302) Nach Hecker bezeugt auch die Praxis die
Vorteile der „Ventzkyschen Methode“, welche er im Detail vorstellt: Im
„königlichen großen Potsdamschen Waisenhause hat man ganzer zwölf Jahre
nach einander das Lesen den meisten Kindern auf diese Art beygebracht [...].
Im Jahre 1737 wurde sie, nicht weil die BuchstabirLesemethode leichter,
besser oder vortheilhafter wäre, sondern aus andern Nebenursachen wieder
abgeschaffet.“ (ebd. 306) Nun würde man gerne etwas über diese
„Nebenursachen“, die sich vermutlich in Form von Personen konkretisieren
lassen, wissen... Die Debatte zeigt zumindest soviel, daß die frühen
Reformvorschläge erst am Ende des Jahrhunderts greifen und daß Anton
Reisers Lesesozialisation zwischen den Stühlen verläuft.
[60]
Johann Heyse: Theoretisch-praktische
deutsche
Grammatik
oder
Lehrbuch
zum
reinen
und
richtigen
Sprechen,
Lesen
und
Schreiben
der
deutschen
Sprache
:
zunächst
zum
Gebrauch
für
Lehrer
und zum
Selbstunterricht.
3. verb. Aufl. Hannover 1822, S. 81.
[61]
Nach der zeitgenössischen Definition Grasers ist Lesen „das Vernehmen der
Rede eines andern in schriftlicher Sprache“. Graser (Anm. 47), S. 74.
[62]
So heißt es z.B. „Diese Lieder [der Mme Guyon] gab ihm nun sein Vater, da
er ihn reif genug zu dieser Lektüre hielt, in die Hände, und ließ sie ihn
zum Teil auswendig lernen.“ (I 46)
–
Vgl. dagegen die ganz andere Methode Julies in der Nouvelle Héloise,
wenn sie ihrem Sohn Geschichten erzählt und die Neugier des Kindes, das
Ende von abgebrochenen Geschichten kennen zu wollen, benutzt, um den Wunsch
nach selbsttätigem Lesen zu motivieren. Auswendiglernen verwirft sie und
vertraut
–
etwa bei Gebeten, die sie selbst regelmäßig spricht
–
auf das Lernen durch Vorle(b/s)en, d.h. der
–
aufforderungslosen
–
Imitation (Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die Nouvelle Héloïse
(frz.1761). München 1988, S. 610ff.). Dasselbe pädagogisch kalkulierte
Spiel propagiert auch Basedow (Johann Bernhard Basedow: Kleines Buch für
Eltern und Lehrer aller Stände. Erstes Stück. Zur Elementarischen
Bibliothek gehörig. Leipzig 1771); vgl. Bosse (Anm. 47), S. 177.
[63]
Vgl. dazu Georg Franck (Anm. 38), S. 18. Bei Reisers ,Wunschrolle‘
des Clavigo ist später derselbe Mechanismus am Werk.
[64]
Wieckenberg vermutet, daß Gottfried Arnolds Vitae Patrum Oder Das Leben
Der Altväter und anderer Gottseeligen Personen (1700) gemeint sind:
„Die Schriften Arnolds, eines der großen Gegner des orthodoxen
Luthertums, ja des ganzen verfaßten Kirchentums, hatten einen mächtigen
Einfluß auf alle separatistischen Bewegungen. Arnolds besondere Verehrung
galt den großen Einsiedlermönchen des Orients.“ Karl Philipp Moritz: Anton
Reiser. Leipzig 1987, S. 418. – Auch Moritz’ Vater berichtet von dem
Wunsch nach imitatio: „wenn ich damals [nach dem Tod seiner ersten
Frau. U.R.] das Leben der Altväter in der Wüste zu lesen gehabt hätte, so
würde ich denselben alles nachgemacht haben.“ ΓΝΩΘΙ
ΣΑΥΤΟΝ (Anm. 43), Bd. 8 Teil 2, S. 146.
[65]
Vgl. Jeanne Marie Bouvière de la Motte Guyon: Poésies et cantiques
spirituels [...]. 1704
u.ö. (mehrfach ins Dt. übersetzt), und dies.: L’Ame amante de son
Dieu (dt. u.d.T.: Die ihren Gott liebende Seele: vorgestellet in den
Sinn-Bildern des Hermanni Hugonis über seine pia Desideria; Mit Versen die
auf das innere Christentum zählen. Nach der zu Regenspurg in Teutsch
ausgekommenen Übersetzung des französischen in Lieder gebracht.
Schaffhausen, J.G. Seiler 1728). Fleischbein hatte übersetzt [anonym]: Poetischer
Versuch einiger geistlicher Gesänge aus der Madame Guion Cantiques
Spirituels ausgezogen, paraphrasirt und in teutsche Oden gebracht. Gedruckt
im Jahre 1744. Fünf Fortsetzungen dazu erschienen zwischen 1745-1764.
Vgl. dazu Anm. 40.
[66]
Die quietistischen Schriften Mme Guyons wenden sich an den einfachen
Menschen, der im Gebet denselben Status (,état‘)
erreichen kann wie jeder andere: „Es geht also darum, das Beten zu
erlernen, [...] das Prinzen, Könige, Prälaten, Priester, Beamte, Soldaten,
Kinder, Handwerker, Arbeiter, Hausfrauen und Kranke ausüben können.“
Jeanne-Marie Guyon: Kurzer und sehr leichter Weg zum Inneren Gebet.
In: Emmanuel Jungclaussen: Suche Gott in dir. Der Weg des inneren Schweigens
nach einer vergessenen Meisterin Jeanne-Marie Guyon. Freiburg/Basel/Wien
1986, S.47-120, 52f. Guyon schließt ihren Leitfaden mit den Worten: „Wie
blind sind die meisten Menschen! Sie halten so viel auf ihren Geist und
Verstand. Doch du, mein Gott, hast deine Geheimnisse ,den
Großen und Klugen verborgen, den Kleinen aber offenbart‘
(Mt 11,25)“. (ebd. S. 120) Man kann vermuten, daß Reisers Vater seinen
Sohn zunächst so unterrichtet hat, wie es die Anweisungen für die, die
nicht lesen können von Mme Guyon vorsehen: „Zuerst müssen sie eine
Grundwahrheit lernen, nämlich, daß das Reich Gottes in ihnen ist und daß
sie es da suchen müssen (Luk 17,21) [...]. Man lasse die Sinneskräfte sich
nicht nach außen ausbreiten, sondern halte sie so gut wie möglich gefangen
und unterworfen. / Alle sollen das Vaterunser in ihrer Muttersprache
sprechen, weil sie dann eher verstehen, was sie sagen, und daran denken, daß
Gott, der in ihnen ist, wirklich ihr Vater sein will. Wenn sie soweit sind,
mögen sie ihn um das bitten, was sie brauchen. Nachdem sie das Wort ,Vater‘
ausgesprochen haben, sollten sie einige Augenblicke in großer Ehrfurcht
schweigend verharren in der Erwartung, daß der himmlische Vater ihnen
seinen Willen zu erkennen gebe. – / Ein andermal kann der Christ sich als
beschmutztes, durch sein häufiges Fallen geschwächtes Kind betrachten, das
von sich aus weder die Kraft hat, sich aufrecht zu halten, noch rein zu
werden. Dann biete er sich demütig und beschämt seinem Vater dar, füge
zuweilen ein Wort der Liebe und der Reue ein und verbleibe im Schweigen. /
Wenn er dann im Vaterunser fortfährt, bitte er diesen König der
Herrlichkeit, in ihm zu herrschen. Er überlasse sich ihm, damit Gott an ihm
handle und übertrage ihm somit die Rechte, die ein Mensch über sich selbst
hat.“ Ebd., S. 58.
[67]
Auch bei Mme Guyon gibt es – konfliktträchtige – Lesevorschriften. Zum
„inneren Gebet“ führen zwei Wege, die „Betrachtung“ und das
„betrachtende Lesen“: „Betrachtendes Lesen ist nichts anderes, als
sich einige entscheidende Wahrheiten vorzunehmen, sei es, um sie zu
bedenken, oder um sie praktisch zu vollziehen [...]. Das geht folgendermaßen:
/ Ihr nehmt euch eure Wahrheit vor, jene, die ihr wählen wollt, und lest
dazu ein, zwei oder drei Zeilen, um sie zu verarbeiten und zu verkosten. Bemüht
euch, ihren Saft aufzunehmen, und verweilt an der Stelle, die ihr lest, so
lange, wie ihr Geschmack daran findet, und geht ja nicht eher weiter, als
bis diese Stelle für euch nichts mehr hergibt. / Danach könnt ihr euch
wieder ein solches Stück vornehmen und dasselbst tun, aber lest nie mehr
als eine halbe Seite auf einmal. / Es ist nicht so sehr die Menge der Lektüre,
die Nutzen bringt, als vielmehr die Art des Lesens. [...] Das Viellesen ist
mehr Sache der Schulweisheit und nicht der Mystik. [...] ich bin sicher,
wenn man es auf diese Art macht, wird man sich nach und nach durch das Lesen
an das Beten gewöhnen und gut dafür vorbereitet sein.“ Guyon: Kurzer
und sehr leichter Weg zum inneren Gebet, zit. nach Jungclaussen (Anm.
66), S. 54.
[68]
Wenn alle individuellen Wünsche und Phantasien ,abgetötet‘
sind, entsteht ein Leerraum für das göttliche Wort. Dies nun wird, nach
dem Sündenfall des Verlusts des göttlichen (Spiegel-)Bildes im Inneren des
Menschen, zum Medium der Offenbarung: „Gott schuf alle Dinge für den
Menschen; aber den Menschen schuf er für sich. Gott schuf ihn nach
seinem Ebenbilde, d.h. er zeichnete in ihm sein Bild ab, nämlich seinen
Sohn, das Wort, und drückte ihm seinen Geist ein [....]. Dies war
dann der Endzweck der Schöpfung, daß Gott in allen Menschen Ebenbilder
seines Wortes machen wollte, in welchen die Gottheit ausgedrückt war und
welche dieselbe darstellen könnten, gleichwie ein reines Spiegelglas den
Gegenstand darstellt, den man davor setzt. / Da aber der Mensch durch die Sünde
dies schöne Bild verdorben hat, so war der Endzweck der Erlösung, daß
Gott, der nicht leiden konnte, daß diese Menschen, in welchen einmal dies
Bild eingegraben war, sollten verlorengehen, sein Wort sandte, um dieses
Bild wiederherzustellen; denn allein dieses Gott-Wort konnte sich selbst
wieder abzeichnen [...]. Je mehr dies Wort in einem Menschenleben
seinen Ausdruck finden kann, desto mehr ist eine solche Seele heilig“.
Auszug aus einer „geistlichen Rede“ Guyons; zit. nach Jungclaussen (Anm.
66), S. 34f.
[69]
Der behütete, pietistisch erzogene Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
(1700-1760) nimmt sich mangels Spielkameraden Jesus zum Gesprächspartner:
„So bin ich viele Jahre kinderhaft mit ihm [Jesus. U.R.] umgegangen, habe
stundenweise mit ihm geredt, wie ein freund mit dem andern [...]. In dem
Gespräch nur mit Ihm war ich selig.“ 3.9.1758, Büdingsche Sammlung I,
zit. nach Loch (Anm. 4), S. 156.
[70]
Der Pietismus beargwöhnt Spiele; sie gehören zu den „Adiaphora“, den
Mitteldingen, von denen (wie bei Musik und Tanz) nicht ganz klar ist, ob sie
Gott gefällig sind.
[71]
Die Lebensgeschichte vom Jesuskind galt im Umfeld des Pietismus als bestmögliches
Vorbild für die Jugend, vgl. etwa: Das Holdselige und über alles
Liebenswürdige JEsus=kind in Seiner blühenden Jugend, den lieben Kindern
nicht allein als das allervollkommenste Exempel und Vorbild, Dem sie
nachfolgen sollen, sondern auch als die allerreichste Quelle, Daraus sie zur
wirklichen Nachfolge nehmen können Gnade um Gnade, angewiesen und gepriesen
von Tobias Eisler. Zum andernmal gedruckt 1737. Die Aufforderung zur
Imitatio Christi wendet Reiser in eine spielerische performance. Zum
Exempel s. Cornelia Niekus Moore: Gottseliges Bezeugen und frommer
Lebenswandel. Das Exempelbuch als pietistische Kinderlektüre. In: Das
Kind in Pietismus und Aufklärung (Anm. 4), S. 131-142, 134f.
[72]
Deshalb greift der pauschale, in der Forschung vielfach vorgetragene, von
Wolfgang Martens zuletzt noch einmal wiederholte Befund über Reisers
Lesesozialisation zu kurz: „All das besagt: Umgang mit Dichtung führt zu
Realitätsverlust und Selbstverlust“. Martens (Anm. 26), S. 104.
[73]
Peter Lauremberg: Acerra philologica. Das
ist: Sieben Hundert Auserlesene nützliche lustige und denckwürdige
Historien und Diskursen aus den berühmtesten Griechischen und Lateinischen
Scribenten zusammen getragen; Darinn zu finden Die meisten Gedichte der
Poeten von Göttern und Göttinnen: Die führnehmsten Geschichte der alten Römer
und Griechen: Etliche gebräuchliche Sprichwörter: Unterschiedliche natürliche
Dinge: Allen Liebhabern der Historien zur Ergetzung: Insbesonderheit der
studirenden Jugend zu mercklicher Übung und Wissenschafft beförderlich.
Mit Churfürstl Sächs. Privelegio. Franckfurt und Leipzig. 1694. Von diesem
Jugendklassiker erschienen seit seinem Erstdruck 1633 zahlreiche Nachdrucke
und Varianten.
[74]
François de Salignac de la Mothe Fénelon: Die Abenteuer des Telemach.
Aus
dem Französischen übersetzt von Friedrich Rückert. Mit einem Nachwort
hrsg. v. Volker Kapp. Stuttgart 1984.
[76]
Und es fällt auch nicht besonders schwer, Telemachs Geschichte von der
Befreiung aus dem mehr angst- als lustvoll erlebten Reich der Venus und die
Sehnsucht nach einem souveränen Beschützer als eine homoerotische Männerphantasie
zu lesen.
[77]
„Und um uns ward’s Elysium“ ist der Schlußvers von Klopstocks 1753
entstandener, 1762 erstmals publizierter Rosenband-Ode.
[78]
Um dem vorzubeugen, stellt Moritz in seiner Götterlehre prinzipiell
klar, daß die „mythologischen Dichtungen [...] als eine Sprache der
Phantasie betrachtet werden [müssen]. Als eine solche genommen, machen sie
gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhang der
wirklichen Dinge herausgehoben.“ Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder
Mythologische Dichtungen der Alten. Bremen o.J., S. 7. Vgl. dazu auch
das Bücherwelt-Zitat (Anm. 31).
[79]
Vgl. Aleida Assmann: Die Domestikation des Lesens. Drei historische
Beispiele. In:
Lili 15, 1985, S. 95-110, 100.
[80]
Der höfisch-historische Barockroman von Heinrich Anshelm von Zigler und
Kliphausen Die Asiatische Banise, Oder Das blutig-doch muthige Pegu/
Dessen hohe Reichs-Sonne bey geendigtem letztern Jahr-Hundert an dem Xemindo
erbärmlichst unter- an dem Balacin aber erfreilichst wieder auffgehet (...)
alles in Historischer/ und mit dem Mantel einer annehmlichen Helden und
Liebes-Geschichten bedeckten Wahrheit beruhende (...). Leipzig 1689
(Vollständiger Text nach der Ausgabe von 1707 unter Berücksichtigung des
Erstdrucks von 1689. Mit einem Nachwort von Wolfgang Pfeiffer-Belli. München
1965) wurde bis 1764 fünfzehnmal wiederaufgelegt. Zur Rezeption vgl. Werner
Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im
deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Teil 1.
Tübingen 1988 (Hermaea. 55), S. 25-73. Es scheint, als wenn das
Auslaufmodell des höfisch-heroischen Romans mit diesem auf theatralische
Effekte setzenden Text noch einmal triumphiert.
[81]
Zum Vorschlag, die kindliche Lesesozialisation nach psychischen Funktionen,
in die Typen des „symbiotisierenden“ und des „ödipalisierten
Lesens“, zu unterteilen s. Rüdiger Steinlein: Die domestizierte
Phantasie. Studien zur Kinderliteratur, Kinderlektüre und Literaturpädagogik
des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1987; zusammenfassend
Eggert und Garbe (Anm.26), Stuttgart und Weimar 1995, S. 97-100.
[82]
Dies ist auch die Grundlage von Reisers Theatromanie, was hier nicht weiter
ausgeführt werden kann: „Sein höchstes Glück aber war nun einmal der
Schauplatz; denn das war der einzige Ort wo sein ungenügsamer Wunsch, alle
Szenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befriedigt werden konnte. /
Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so
zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher
schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre, die Wut, Komödien
zu lesen und zu sehen. [...] / Es war also kein echter Beruf, kein reiner
Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Szenen des
Lebens in sich, als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das
alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.“ (I 336)
[83]
Denn auch sie verbindet narzißtische Inszenierung und soziales
Rollenspiel, was bedeutet, daß auch die von den Müttern gestifteten
„verbotenen Bücher“ – wie könnte es anders sein – eine väterliche
Ordnung repräsentieren und reproduzieren. – Johann Gottfried Schnabel,
der Schüler in den Franckeschen Stiftungen war, hat nicht zuletzt auch das
theologisch-religiöse Konzept des frühen hallischen Pietismus in seinen
Roman übernommen. Vgl. Juliane Jacobi: Der Blick auf das Kind. Zur
Entstehung der Pädagogik in den Schulen des Halleschen Waisenhauses.
In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung (Anm. 4), S. 47-60, 52.
[84]
Später werden die Gefahren klar: Die Lektüren stiften zwar Vorbilder und
mobilisieren Energien, andererseits droht die auktoriale Selbstauslöschung
im Plagiat („vor dem Plagiat hatte er die entsetzlichste Scheu“; I 269).
[85]
Daß seine ,literate‘
Kompetenz von den Eltern bestätigt wird, läßt eine Kindheitserinnerung
von Moritz’ Bruder vermuten. Der wollte zunächst „Laufer vor einer
Kutsche“, dann Kuhhirte und schließlich Schulmeister werden: „Diese
Idee, ein Schulmeister zu werden, verdrängte also die Idee, ein Kuhhirte zu
werden, und das umso stärker, da sie sowohl bei seinen Eltern, als auch bei
seinem Lehrer den größten Beifall erhielt.“
ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ (Anm.
43), Bd. VIII, S. 168.
[86]
Eremitisch-apostolische Weltenthobenheit (Paulus, Antonius) und der wie
„Abrahams Schoß“ bergende Schutzraum der Bibliothek bilden ein
Gegenmodell zu Reisers Familie wie auch zu Fleischbeins „kleiner
Republik“. Tischer, diese große Gestalt, kommuniziert, obwohl
abgesondert, zugewandt und warm: „Das Alter hatte ihn nicht danieder gebückt,
er war ein langer Mann, und sein Ansehn war groß und majestätisch. Die
schneeweißen Locken zierten seine Schläfe, und aus seinen Augen blickte
eine unnennbare sanfte Freundlichkeit hervor.“ (I 64)
[87]
Als möglichen Grund vermutet Reiser, daß der Schreibmeister „einige
Nachlässigkeit in Antons Schreib- und Rechenbuche [hatte] passieren lassen,
worüber sein Vater aufgebracht war“ (I 66); ein anderer wäre Reisers
geplante Lehre bei Lobenstein in Braunschweig (I 70).
[88]
„Er griff also zu einem Mittel, sich den Abschied aus dieser Schule
leichter zu machen, das man einem Knaben in seinem Alter kaum hätte
zutrauen sollen. Anstatt, daß er sich bemühete, weiter heraufzukommen, tat
er das Gegenteil, und er sagte entweder mit Fleiß nicht, was er doch wußte,
oder er legte es auf andre Weise darauf an, täglich eine Stufe
herunterzukommen, welches sich der Konrektor und seine Mitschüler nicht
erklären konnten [...] / Anton allein wußte die Ursache davon und trug
seinen geheimen Kummer mit nach Hause und in die Schule.“ (I 65)
[90]
Zur ,Sprechmusik‘
dieser mechanischen Übungen s. Bosse (Anm. 47), S. 181. – Heyse bemüht
im entsprechenden Abschnitt seiner Grammatik („Von den Buchstaben und
deren richtiger Aussprache“) vielfach die Metaphorik der Musik, um auf die
notwendige Schulung der „Sprachwerkzeuge“ und des Gehörs hinzuweisen.
Er beruft sich dabei auf einen ungenannten „große[n] Kenner“, der
angesichts des großen „Wohllauts“ der deutschen Sprache bedauere,
„,wie unverantwortlich man in den allermeisten Schulen dagegen sündigt.
– Die Hauptsache ist; daß der Lehrer selbst gut und schön spreche; daß
die Kinder Mund und Ohr an eine reine Sprache gewöhnen; daß jeder Fehler
gegen die gute Aussprache sogleich verbessert, und daß unter den Kindern
selbst ein Wetteifer im reinen und richtigen Sprechen erregt werde.
‘“
Über Vorbild, Konditionierung, Kontrolle und Konkurrenz soll die neu
entdeckte Artikulation in den Unterricht eingeführt werden. Die Begründung
bringt allerdings den ideologischen Impetus zum Vorschein: „Gewöhnlich
wird in deutschen Sprachlehren dieses Capitel von der richtigen Aussprache
der Buchstaben übergangen, weil man dasselbe für geborne Deutsche nicht für
nöthig erachtet. Daher mag es gekommen seyn, daß mancher Deutsche seine
Muttersprache, ungeachtet eines darin enthaltenen wissenschaftlichen
Unterrichts, unreiner und schlechter ausspricht, als der darin unterrichtete
Fremde.“ Heyse (Anm. 60), S. 77-106, 77.