Vom Lesen erzählen - Anton Reisers Initiation in die Bücherwelt

 

Ursula Renner

 

 

In ihrer Erscheinung ist Sprache deskriptiv. Wenn du deine Geschichte erzählst, erzählst du, wie es war [...] In ihrer Funktion ist Sprache konstruktiv, da keiner die Quelle deiner Geschichte kennt. Keiner weiß und wird je wissen, wie es war: denn was war, ist für immer verloren. 

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Bitte nie zu sagen, ,das ist langweilig, das kenne ich schon.‘ Das ist die größte Katastrophe! Immer wieder sagen, ,ich habe keine Ahnung, ich möchte das noch einmal erleben.‘ 

Heinz von Foerster[1]

 

 

Die vielleicht bewegendste literarische Lebensgeschichte des 18. Jahrhunderts, Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785-1790), ist ein in vieler Hinsicht hybrider Text. Weder Liebes-, Familien- noch Bekehrungs­geschichte erzählt sie den ins Leere laufenden Bildungsweg eines Melancholikers. Eingeschrieben ist ihr eine Lektüre- und Autorbiographie, in der Lesenlernen und die Initiation in die Bücherwelt eine Schlüsselfunktion haben.[2] Daß meine Darstellung dieser Initiation in einen so breiten Rahmen eingelassen ist, muß begründet werden. Er soll zeigen, wie die in den Vorreden geforderte Aufmerksamkeit für alltägliche Details über die Ordnung des Erzählens generiert wird; und zwar eines Erzählens, das Kontexten auf der Spur ist. Interessiert hat mich sowohl die Deskription wie auch die Konstruktion dieser Geschichte, und so ist mein Beitrag auf den Umfang von zweien angewachsen...

Als Werkzeuge des Verstehens setzt der Erzähler auf ,Wahrnehmung‘, ,Beobachtung‘ und ,Erinnerung‘. Er inszeniert und reflektiert sie als Medien der (Selbst-)Erkenntnis.[3] Damit wird einerseits das durch den Pietismus aktivierte (auto-)biographische Schreibprogramm aufgerufen, andererseits subvertiert der Reiser-Roman gerade dieses und nimmt es für einen Gegendiskurs – der Selbstsorge? - in Anspruch. Geht es doch nicht zuletzt darum, der durch den pietistischen Fundamentalismus, so jedenfalls ein Argument des Romans, (mit-)produzierten Melancholie nachzuspüren und deren (seit das Argument der Gottverlassenheit kein hinreichender Grund mehr ist) irritierende ,Grundlosigkeit‘ zu enträtseln.[4]

Wahrnehmen, Beobachten, Erinnern sind Themen und Handlungen, die die Aufklärung (wie schon der Pietismus) nachhaltig bewirtschaftet hat.[5] Sie hat sich damit nicht nur neue Perspektiven und Zugriffsmöglichkeiten auf ,den Menschen‘ geschaffen, sondern auch eine Fülle von Schwierigkeiten und ungelösten Problemen eingehandelt: Kardinal ist nicht nur die Frage, wie man der komplexen Suchfigur ,Individualität‘ analytisch und erzählerisch beikommt, ein Problem ist ebenso, wie das Innere beobachtbar ist oder – auch das beschäftigt Moritz – was man mit Dingen macht, die sich beobachten, aber nicht lehren lassen, wie z.B. – und das ist überraschend - der Stil.[6]

(Selbst-)Beobachtung ist eng verknüpft mit der Frage nach der Funktion von Erinnerung, woraus dieser „psychologische Roman“ ja seine Geschichte bezieht. Nicht das Geringste, was er entdeckt, ist, daß das Erzählen von ,Leben‘ – auch ,Lesen‘ – der Kontrolle durch eine affektive ,Einstellung‘ unterliegt (repräsentiert durch die Erzähler- bzw. Herausgeberstimme, die das Dargestellte rahmt, kommentiert, beurteilt, ordnet) und daß Introspektion immer eine Form der Retrospektion ist, die denselben Mechanismen von Selektion und Konstruktion unterliegt wie das Erinnern.[7] Die histoire ist – auch für Moritz schon – nur als discours zu haben; ,Lebensgeschichte‘, mit ihren beiden starken Referenten ,äußere Erfahrung‘ und ,innere Empfindung‘, erweist sich als ein komplexes narratives Geflecht aus Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung. Sie generiert die Erkenntnis, „daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden“ (I 120). Die Menge der anscheinend belanglosen Details bildet die Matrix, auf der sich – das meint wohl das Credo ihrer ,grundsätzlichen Wichtigkeit für einen einzelnen Menschen‘ (I 36) – Machtstrukturen, etwa im dynamischen Spiel von Anerkennung und Entwertung, einschreiben und beobachten lassen. Über das, was für das Wissen vom Menschen relevant ist oder was Ereignis wird, entscheidet also erst der nachträgliche Bearbeitungsprozeß, und ein solcher ist zweifellos das Erzählen.[8]

Der Blick auf Reisers Lesesozialisation zeigt, daß der Roman mit seiner narrativen Datenerhebung den diskursiven und disziplinarischen Praktiken, die ,Erziehung‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert ausmachen, auf der Spur ist. Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung werden dabei enggeführt, denn das Lesenlernen vollzieht sich an einer besonderen Schnittstelle von ,Außen‘ und ,Innen‘. Das Beobachten dieser Prozedur erscheint als eine intellektuell mächtige, wenngleich aporetische Strategie, die empirisch und hypothetisch etwas über den ,ganzen‘ schwierigen Menschen lesbar zu machen sucht.

Ein anderer Text, Moritz’ ABC-Buch, illustriert das Problem im 7. Bild, das den Buchstaben G mit dem Stichwort ,Geist‘ erläutert:

 

            Nachdenken / Ein Mann sitzt an einem Tische. / Auf dem Tische liegt ein Buch. / In dem Buche hat der Mann gelesen. / Der Mann denkt nach. / Ich lese in diesem Buche. / Nachher mache ich das Buch zu. / Dann muß ich nachdenken, was ich gelesen habe. / Das Buch liegt vor mir. / Das Denken ist in mir. / Das Buch kann man mir wegnehmen. / Das Denken kann man mir nicht wegnehmen. / Du weißt nicht, was ich denke. / Ich weiß nicht, was du denkst. / Ich kann dich wohl sehen. / Aber das Denken in dir kann ich nicht sehen. / Der Mann an dem Tische denkt nicht mit der Hand. / Er denkt nicht mit den Augen. / Er denkt nicht mit den Ohren. Er denkt mit dem Geiste. / Den Geist des Mannes kann ich nicht sehen. / Denn der Geist des Mannes ist in ihm. / Der Geist des Menschen in ihm denkt.[9] 

 

Ein Beobachter beobachtet, daß jemand in einem Buch liest und anschließend das Gelesene bedenkt. Der Beobachter vollzieht dieselbe Prozedur. Er stößt dabei auf das Problem, daß das Objekt der Außenwelt – das Buch, der Text – sich zwar gleich bleibt, die Signifikate und Vorstellungen aber, die der Text im anderen auslöst, individuell variieren und vom Beobachter nicht ,gewußt‘ werden können. Die Beobachtung zerfällt, so das Ergebnis von Moritz’ Exempel zum Intersubjektivitätsproblem, in etwas, was wahrgenommen werden kann („Der Mann denkt nach“), und etwas, das nicht gewußt werden kann, weil es sich im Innern des anderen abspielt (das Denken). Das psychische System von ,Alter‘ ist für ,Ego‘ unzugänglich. Die an der Kommunikation beteiligten psychischen Systeme sind füreinander ,schwarze Kästen‘.[10] Was das psychische System antreibt, ist nicht etwa ein Werkzeug im Sinne von Hand oder Ohr, sondern ein Medium, das als Subjekt selbsttätig in ihm agiert.[11] Im Rahmen dieser zwittrigen Denkfigur erscheint ,der Mensch‘ einmal „als Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt“,[12] allerdings bereits modifiziert dadurch, daß beides, Wissen und Erkennen, höchst eingeschränkt und unsicher sind. Wenn die Kluft, so die Konsequenz im Anton Reiser, schon nicht aufgehoben werden kann, so läßt sie sich aber an besonderen Schnittstellen, wie im ausgezeichneten Beobachtungsfeld des Buchstabieren- und Lesenlernens, ,dicht‘ beschreiben. Der Text bietet dabei Sinnhypothesen für Alltagserfahrungen an (oder sieht sich außerstande, welche zu erstellen) und präsentiert so Module für eine Analytik des ,gemeinen Lebens‘. 

 

 

I. Eine Geschichte erzählen und in der Geschichte sein

 

Die Geschichte(n), die der Roman erzählt, stammen aus dem Labor des Alltags; der Roman betreibt – avant la lettre – Alltagspsychologie. Indem er sie als Interpretation zu erkennen gibt, führt er sie einem kulturanthropologischen Programm zu, d.h. er lotet die „Fülle der Verknüpfungen des Außergewöhnlichen und des Gewöhnlichen“, wie sie Kultur produziert, am Fall einer Lebensgeschichte erzählerisch aus.[13] „Sein [K. Ph. Moritz’. U.R.] psychologischer Roman ist die Lebensbeschreibung eines Menschen, und so wir vom Verfasser mündlich gehört haben, wahr.“[14] Gegenstand des Romans also sind, worüber der Erzähler genaueste Auskunft geben kann, erlebte Erfahrungen, die das Gedächtnis gespeichert hat und die Erinnerung wiederholt. Sie haben aber einen Namen und – im doppelten Sinne – eine eigene Gestalt bekommen, ,Anton Reiser‘. Die Entscheidung für die 3. Person Singular ist ein performativer Akt des Erzählers, der die Anerkennung für eine Person fordert, die einem aus dem Sprechgestus der Oraliät – „Ich“ – sich nährenden, in Empfindsamkeit womöglich ertrinkenden Subjekt versagt werden könnte. Einsichten wie die, daß Erinnern mit einer Aktualisierung der Perspektive verbunden ist, entstammen dem Selbstversuch des Erzählers.[15] So konstruiert der Text das Selbst als einen Anderen, das Subjekt als Objekt der Beobachtung: In der Gestalt des Anton Reiser schildert er einen genauen Beobachter seiner Umwelt und Inspekteur seines Innern, mit dem Erzähler und Herausgeber entwirft er einen Beobachter zweiter Ordnung, der weiß, daß die ,äußeren‘ Ereignisse gleichzeitig auch mentale oder seelische Ereignisse im Innern des Protagonisten sind. Daraus ergeben sich Einsichten in die krisenträchtigen Differenzen von Selbsteinschätzung und Fremdwahrnehmung, Verstehen und Verstandenwerden. Sie kehren im Wechselspiel von Selbstbeobachtung der erzählten Figur und der Beobachtung des Erzählers wieder – trotz dessen Empathie für einen tief unglücklichen Menschen.

So könnte man sich zu der Annahme hinreißen lassen, daß hier jemand ,Lebensgeschichte‘ als „datengestützte Erfindung“[16] versteht, eine gestaltgewordene Konstruktion, die etwas darüber sagen will, in welchen Situationen auf welche Weise und aus welchen Gründen (nicht kausal, sondern psycholgisch, moralisch, sozial) etwas, ein individuelles Leben, so verlaufen ist.

Wenn es heißt, die ,innere Geschichte‘ des jungen Anton Reiser sei unauflösbar verknüpft mit seiner ,äußeren‘, so entspricht das zwar der zeitgenössischen Romantheorie Blanckenburgs (1774);[17] diese kalkuliert allerdings kaum das Risiko ein, auf das Moritz stößt: Was, wenn sich ,das diskrete Gebot‘ zum Kohärenz nicht herstellen läßt?

Das Dilemma, daß nicht nur Fremdbeobachtung, sondern auch Selbstbeobachtung dem erkenntnistheoretischen Diskurs der Zeit zufolge trügerisch oder mindestens (Re-)Konstruktion ist, mithin hier ein Zeichenproblem liegt, wendet Moritz höchst konsequent. Indem sich zeigt, daß erzählte Vergangenheit es mit der Frage zu tun hat, was im Augenblick des Erzählens damit angestellt werden soll, weist der Text auf das Stiften von Bedeutung im Akt der Retrospektion;[18] und zugleich auf die rekursive Endlosschleife, wenn es darum geht, das Individuum zu bestimmen. Kurz der Unterschied zwischen ,Mensch‘ und ,Medium‘ verliert dadurch seine Trennschärfe.

Schließlich wäre da noch die dem Leser überlassene Position; sie erscheint ebenfalls multipel. Zum einen wird sein Urteil herausgefordert, zum anderen ist er Mitleidsträger, der Reisers Opfergeschichte zu beglaubigen hat.[19] Für ein solches empathisches Engagement setzt Moritz später den (wirkungspsychologisch-poetologischen) Begriff des ,Interesses‘ ein. Im ersten Teil seiner Vorlesungen über den Stil von 1793 schreibt er:

 

            Das Wort Interesse bezeichnet eine so nahe Teilnehmung an etwas, daß man darüber gewissermaßen sich selbst vergißt, und sich in den Gegenstand selbst verwebt fühlt. [...] Wenn ich also z.B. sage: Dieser Roman gewinnt für mich Interesse – was heißt das anders, als, ich fühle mich in das Schicksal der Personen verwebt, ich bin gleichsam zwischen ihnen, als ob ich mit einer Person im Spiel wäre. / Das ist gewiß mehr als bloße Teilnehmung an dem Schicksal dieser oder jener Person. Eine der einzelnen Personen kann meine Teilnehmung im höhern Grade erregen, der ganze Roman aber erhält für mich Interesse.[20]

 

Die Bücherwelt ist eine Domäne, in der die „sich selbst gelassene Einbildungskraft“ und/oder „Urteilskraft“ aktiv werden; die eine „schweift umher“, die andere „geht Schritt vor Schritt [...] und unterscheidet“ (III 727). Was Moritz später in der binären erkenntnistheoretischen Opposition von Gefühl und Verstand um seine changierenden Grenzen bringt, erscheint in der dichten Beschreibung seines Romans weitaus facettenreicher, aber auch stärker mit der Erfahrung von Kontingenz verbunden. Der Roman läßt Ambivalenz, Kontingenz und Leerstellen des Wissens zu, aber er ordnet diese gleichzeitig in der retrospektiven Narration, während es in Moritz’ theoretischen Schriften die Ordnung des Systems ist, mit der er versucht, Zusammenhang herzustellen (was allerdings auch schon der Leser Reiser versucht; s.u.).

 

 

II. Die Schlüsselqualifikation des Lesenlernens

 

Reisers hochproblematische Bildungsgeschichte mit ihrem Erfahrungsdoppel aus Anerkennung und Scheitern gründet, das war der Ausgangsbefund, auf der Dynamik und dem Dilemma einer Melancholikerbiographie. Krisenhaft verschärft erscheint sie durch die labile Situation eines potentiellen Aufsteigers an der Schwelle zum literatus.[21] Reiser sucht eine gesellschaftliche Position, aber seine Karriere ist glücklos.[22] Lesen, die Schüsselqualifikation für Aufstieg und soziale Differenzierung, ist zwar die Voraussetzung dafür, aber kein Garant.[23]

Versucht man im Gefolge van Genneps eine Typologie der Übergangsriten[24] für die Gelehrtenbiographie im ausgehenden 18. Jahrhundert aufzustellen, so ergeben sich die Schwelle des Übergangs in die Lateinschule, des Übergangs in die Universität,[25] des Einstiegs in den Beruf und die Heirat. Der Roman klammert die letzte Schwelle ganz aus und läßt den Beruf nur als nicht realisierte Möglichkeit erscheinen, die allerdings auf Reisers Verhalten zurückwirkt. Die Initiation in die Bücherwelt, die mit der Autorschaft endet, ist grundlegend. Sie läuft über ein persönliches, aber repräsentatives Netzwerk von Interaktionspartnern (auch Autorschaft vollzieht sich im Verbund mit verschiedenen Personen, Ausbildungssituationen und Orten mit jeweils ganz unterschiedlichen Schreibprojekten) – ist also wenig fixiert.

Auch die Wirkung von Lektüre erscheint instabil: wie ein Kippbild kann sie mal Lust und Trost, mal Sucht und Verdruß produzieren.[26] Beides bleibt im Roman unaufgelöst nebeneinander stehen, ja, diese Ambivalenzen setzen sich bis in Reisers spätere Autorschaft fort: Auch da ist Reiser verstrickt, und zwar, wenn man historisch argumentiert, in die epistemischen Turbulenzen am Übergang von einem Zeichenoptimismus rhetorischer Provenienz zu einer neuen Ausdrucks- und Erlebnisästhetik, wie sie die Goethezeit produziert hat.[27]

 

 

III. Die Bücherwelt ein magisch-medialer Raum mit Risiken und Nebenwirkungen

 

Lesen, entdeckt Reiser, ist machtvoll. Es kann die unbefriedigende Gegenwart punktuell außer Kraft setzen. Wenn „nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche“ (I 43). Den gelesenen Worten eignet eine magische Kraft.[28] Sie bewirken, daß Reiser in Pyrmont, noch krank, „im Lesen nach und nach seinen Schmerz vergaß und bald nicht nur auf der Bank in P[yrmont], sondern auf irgend einer Insel mit hohen Schlössern und Türmen, oder mitten im wilden Kriegsgetümmel sich befand“. (I 51) Die Magie der Worte liegt darin, daß sie Abwesendes in Anwesendes oder Anwesendes in Abwesendes verwandeln; sie versetzen Reiser imaginär an einen anderen Ort und verwickeln ihn in dramatische Szenen. Lesen bedeutet, schreibt Michel de Certeau, „in einem vorgegebenen System herumzuwandern“.[29] Es ist ein Handeln ohne konkreten Ort, es stiftet auch keine Ganzheit. Dennoch spielt es sich in ,Räumen‘ ab und ist voll mit (positiven und negativen) Ereignissen. Metaphorisch gesprochen wäre somit der lesende Knabe, als er zwischen dem achten und elften Lebensjahr die ersten Bücher zum Lesenlernen in die Hände bekommt, schon ein ,Reisender‘; gäbe es also eine unterschwellige Verbindung von der Initiation in die Bücherwelt zur ortlosen Wanderschaft, die ihn am Ende auf eine „zerstreuete Herde“ (I 399) stoßen läßt.[30] Innere und äußere Räume erscheinen wenig fest, insbesondere der eigenartige ,Zwischenraum‘, den die Bücherwelt schafft. Vor deren Risiko warnt die Erzählerstimme nachdrücklich: habe sie doch Reiser „schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können.“ (I 43) Was aber heißt „idealische Welt“? Sie ist offensichtlich der Raum, der die Vorstellungsbilder hervorbringt – Worte, Schrift und Text –, mithin die Medienwelt:

 

            Die Bücher machen einen so großen Teil der menschlichen Dinge aus, daß man sie beinahe nicht, als eine untergeordnete Klasse von Dingen in der Kunstwelt betrachten kann, sondern sich außer der großen Natur- und Kunstwelt, noch eine / Bücherwelt / denken muß. / Denn die Bücher sind gleichsam eine Welt außer den Menschen geworden, die nicht in ihm, sondern worin er lebt [...].[31]

 

Was Moritz in seinem 1786 erschienenen Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik als eigenes Reich der print-Medien in seiner Ordnung der Dinge installiert, hat eine Schlüsselrolle auch im Anton Reiser, dessen erster Teil im Jahr zuvor erschienen war. 1782, [b]ei der Jubelfeier des Werderschen Gymnasiums, war Moritz noch kritischer gewesen: „Anstatt Menschen, o Wunder! hört man jetzt Bücher reden, und siehet Bücher handeln. [...] Man lebt und webt jetzt in einer Bücherwelt, und nur so wenige Bücher führen uns noch auf unsre wirkliche Welt zurück.“[32] Problematisch wird diese Medienwelt, heißt das, wenn sie Diskurse (re-)produziert, anstatt – eine implizite narratologische Proposition – Aufmerksamkeit für ihren Referenten, die ,Wirklichkeit‘, zu wecken.

Von der „idealischen“ als Medien-Welt zu sprechen, legt auch die Schilderung eines idyllischen Mittagsspaziergangs nahe, den Reiser einmal unternimmt. Die Landschaft erscheint ihm „wie ein Bild in einem optischen Kasten“, und er wundert sich, „daß dies nun unsere wirkliche Welt ist, an die wir so oft als eine bloß idealische Sache denken“ (I 243), eine repräsentierte somit.[33]

Andererseits gibt der Roman auch Beispiele für einen produktiven Transfer von Erfahrungen in die Zeichenwelt. So betrachtet Reiser auf einer seiner Wanderungen, „den vor sich hinschlängelnden Weg [...] gleichsam wie einen Freund, der ihn leitete. – Dies wurde ihm denn zuletzt eine dichterische Idee – es wurde Bild, Vergleichung, woran er tausend Dinge kettete.“ (I 280f.) Hier wird ein kleines ,semiologisches Abenteuer‘ geschildert, der Prozeß vom Sehen zum bedeutsamen Zeichen: Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung eines Dings (Weg), das durch Kontakt zum Handlungsraum wird; das Vertrautwerden löst ein Wohlgefühl aus und stiftet das Bedürfnis nach Bedeutung. Der Weg wird einem „Freund“ verglichen, bekommt also einen Beziehungsaspekt. Dies führt zur Metaphernbildung und rhetorischen Strategie („dichterische Idee“, „Bild“, „Vergleichung“); der Weg wird mithin in einen ästhetischen Code überführt, was dichterischer Produktion zugrunde liegt. Das Vorstellungsbild bzw. der imaginäre ,Text‘ erweitert sich schließlich zu einer unendlichen Signifikantenkette („woran er tausend Dinge kettete“),[34] einer Art ortloser Reise.

Lesen, jedenfalls dort, wo es sich um ,Geschichten‘ handelt, hat dieselbe Struktur, verläuft jedoch in umgekehrter Richtung. Die Buchstaben mit ihrem graphischen Bild verwandeln sich in Signifikanten, die ein vielschichtiges Textgewebe produzieren, in das der Leser seine (Vorstellungs-)Bilder hineinträgt, mit denen er sich eine Szene oder Bühne schafft, auf der er selbst agiert.[35] Wie sehr der Roman eben diesem Phänomen der Konstruktion von Vorstellungsbildern im Akt des Lesens und ihrer performativen Kraft auf der Spur ist (und damit auch dem Schreibakt und der Genese von Autorschaft), soll nun die Rekonstruktion von Reisers Initiation in die Bücherwelt mit ihrer überraschenden Vielfalt von Lektüreerlebnissen vorführen.

 

 

IV. Die Ambivalenz der Schrift

 

Am Anfang des Reiser-Romans steht nicht, wie etwa in Rousseaus Confessions (dt. 1782)[36] oder Jung-Stillings Lebensgeschichte (1777ff.) die genealogische Ordnung der Familie, sondern das Tableau der ,kleinen quietistischen Republik‘ des Herrn von Fleischbein. Reisers Vater hatte sich erst in fortgeschrittenem Alter dieser sektenähnlichen Gruppe[37] mit dem Schriftmonopol Madame Guyons unterstellt. Ziel von deren papierenen Lehren metaphorisiert in der Anekdote vom ausgetrockneten Gehirn, das die Obduktion nach ihrem Tod zum Vorschein gebracht haben soll (I 38), ein szientistisches Ammenmärchen, an dem die Aggressionen des Erzählers offenkundig mitgeschrieben haben war es, den einzelnen in ein antiindividuelles „Nichts“ eingehen zu lassen (I 37). So figuriert der quietistische Diskurs, dessen mächtige Wirkung für den Erzähler außer Zweifel steht, als Gegenmodell zu dem, was er als allgemeines Sozialisationsziel implizit entwirft: Selbstachtung und Anerkanntwerden..[38]

Fleischbeins hierarchische, hoch ritualisierte häuslich-religiöse Enklave gründet auf einem Doppel von innerem und äußerem Wort. Das „innre Wort“ (I 37) wird als Stimme gehört und stiftet eine geheime Kommunikation mit Gott. Danach wird es ,äußeres Wort‘, denn es muß den anderen kundgetan werden. Die Anleitung zum ,inneren Wort wiederum kommt aus der Kommunikation mit Büchern, vornehmlich denen der Madame Guyon. Diese verordneten Schriften sind dergestalt zu verinnerlichen, daß alle vitalen Bedürfnisse ,abgetötet werden. Das (lustvolle) Redendürfen wird zum Gebot und unterliegt der Kontrolle und Disziplinierung, vornehmlich durch den ,Seelenführer Fleischbein.

Im Binnenraum funktioniert die quietistische Republik auf der Grundlage einer Kommunikation, die über Texte läuft, nach außen durch Abgrenzung. Fleischbein „wohnte von allen übrigen Einwohnern des Orts, und ihrer Religion, Sitten, und Gebräuchen, eben so abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war“ (I 37). Das stattliche Haus (in Oesdorf bei Pyrmont), dieser Staat im Staat, erscheint als eine Heterotopie.[39] Von der übrigen Welt getrennt, ist er zugleich mit ihr verbunden: ,Externe‘ etwa, wie Reisers Vater, haben Zugang, und umgekehrt verstreut Fleischbein, wenn er Guyons Texte übersetzt, drucken läßt und distribuiert, seine Glaubenssätze in die Welt.[40]

Trotz der gerade wegen ihrer forcierten Neutralität hier so gnadenlosen Erzählerstimme herrscht in Fleischbeins Domäne ein einträchtiger Diskurs, während der in Reisers Familie durch und durch zwieträchtig ist und seine Kindheit zersetzt. Verursacher sind beide Male Bücher. Denn zu Hause bedrohen Madame Guyons Anweisungen die für die Mutter zweifelsfreie und alleinige Autorität der Bibelworte; außerdem blockieren sie die Zuwendung ihres Mannes (I 39). Zwei konfligierende religiöse Diskurse, die noch nicht einmal hinlänglich verstanden werden, so argumentiert auch der Erzähler, verschulden die tiefe „Unverträglichkeit“ der Eltern: 

 

            So wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer Familie Jahre lang durch diese unglücklichen Bücher gestört, die wahrscheinlich einer so wenig wie der andere verstehen mochte. / Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward. (I 40)[41]

 

Reisers Kindheit im Zeichen eines in die Ehe der Eltern verlängerten Bücherkonfliktes behindert seine Entwicklung. Was fehlt, ist innere Sicherheit durch elterlichen Erziehungskonsens („Ob gleich er Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich halten sollte“; I 40), es fehlt hinreichender Körperkontakt durch die „Liebkosungen zärtlicher Eltern“, der Selbst- und Weltvertrauen stiften würde. Stattdessen gibt es jede Menge „erbauliche Reden“ (I 40), die Le(e/h)rformeln bleiben, weil sie keine spürbaren wohltuenden Folgen zeitigen. Innerhalb der Familie, so das kritische Erzählerresümé, zerstören die Gebote der religiösen Texte affektive Solidarität und legen den Grund für die Melancholie des Kindes: „Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.“ (I 41)

Für den Umgang mit Schrift in Reisers erster Lebensphase, so eine erste Bilanz, führt der Roman zwei Modelle vor: ein totalitäres, wofür Fleischbeins ,quietistische Republik‘ steht, und ein antagonistisches in der Familie, wo sich Harmonie nur einstellt, wenn miteinander die Lieder der Madame Guyon gesungen werden. Schrift kann also sowohl Eintracht als auch Streit provozieren. Mit diesem Janusgesicht setzt sie Reisers Kindheit unter Spannung. Die initiale zersetzende Macht der Diskurse provoziert einen Identifikationskonflikt, mehr noch, sie hinterläßt für alle Zeit Seelenspuren, die kein anderer Diskurs („keine Philosophie“) nachträglich zu löschen vermöchte.

Einen Ausweg sucht sich das Kind durch Rationalisierung, die eine Identifikation mit dem Vater voraussetzt: Es „schien ihm [...] sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr Recht habe, als seine Mutter, die er liebte. So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen“. (I 41) Warum der Vater „mehr Recht“ hat, wird nicht gesagt. Aber wenn die Mutter in einer Opferrolle erscheint – ein impliziter Liebesappell, dem sich das Kind nicht entziehen kann –, dann hat der Vater die Diskursmacht; er setzt die mystischen Schriften durch und spricht selbst eine „Art von Büchersprache“ (I 54). Das Kind versteht sie zwar nicht, sie wirkt aber autoritativ:

 

„Anton erinnerte sich noch sehr genau, wie er im siebten oder achten Jahre oft sehr aufmerksam zuhörte, wann sein Vater sprach, und sich wunderte, daß er von allen den Wörtern, die sich auf heit, und keit, und ung endigten, keine Silbe verstand, da er doch sonst, was gesprochen wurde, verstehen konnte.“ (I 54)[42]

 

In den Besitz dieser unverständlichen, abstrakten „Büchersprache“ zu gelangen, bezeichnet ein unbewußtes mimetisches Begehren.[43] Reden zu wollen wie der Vater, weist zum einen auf eine untergründige Rivalität;[44] Reiser sucht sich anzueignen, was den Vater „mehr Recht“ haben läßt, ihn im Wortsinne ,legitimiert‘, zum anderen ist es die Grundlage seiner späteren Autorschaft. Bereits der Neunjährige träumt davon, ein Buch zu schreiben (I 287f.). Wenn Anton Reiser schließlich nicht nur wie der Vater redet, sondern, indem er selbst Texte produziert, zum Autor wird, übertrifft er ihn am Ende sogar. Der Roman würde also, gegen die manifeste story, die sich nach Theaterdesaster und Rückschlägen in ein offenes Ende von deprimierender Perspektivelosigkeit narrativ auflöst, ja sein Telos geradezu durchstreicht, insgeheim auch eine Erfolgsgeschichte enthalten, die aber nicht erzählt werden kann. Selbst im katastrophischen Ende scheint sie noch durch, wenn man nämlich Reisers Geschichte an die seines Vaters zurückbindet:[45] „ohne eigentliche Erziehung“ habe der vor dem Tode seiner ersten Frau „immer ein ziemlich wildes herumirrendes Leben geführt“ (I 39), sich dann aber gewandelt. Reisers Geschichte endet, als er der „zerstreuten Herde“ (I 399) der Schauspieltruppe begegnet, der er sich hatte anschließenden wollen. Auf der Ebene des Erzähldiskurses zeigen diese reziproken Bezüge – Besserung vs. Abstieg – den Triumph des Vaters an.[46] Doch auch hier gibt es einen geheimen Überbietungsgestus: Das ehemals wilde Leben des Vaters hat eine deutlich andere Qualität als die gescheiterte Schauspielerei des Sohnes. Im ersten Falle drohen die privaten, aber gesellschaftlich degradierenden Mechanismen von The Rake’s Progress, im zweiten steht der Bereich der Kunst und der Einbildungskraft auf dem Spiel und die Frage von öffentlicher Wirkung.

Erreicht jedenfalls hat Anton Reiser sein – fragwürdiges, weil prinzipiell der Heuchelei verdächtiges – Ziel, die Büchersprache des Vaters zu sprechen, am Anfang des zweiten Buches; mit Hilfe des Pastors M. versucht er, sich auf diese Weise Anerkennung zu verschaffen:

 

            Da er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte, und sich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente er sich [...] der Büchersprache, die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel und dem Katechismus zusammengesetzt war, welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab, indem er z.B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, er habe den Trieb zum Studieren, der ihn unaufhaltsam mit sich fortgerissen, nicht überwältigen können, und wolle sich nun der Wohltaten, die man ihm erzeige, auf alle Weise würdig zu machen, und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein Leben bis an sein Ende zu führen suchen. (I 127; Herv. U.R.)

           

 

V. Anweisungen und Abhandlungen zum Lesenlernen

 

Wie beinahe alles verläuft auch Reisers Alphabetisierung im achten Lebensjahr ambivalent. Das Lesenlernen löst das Lernen durch das Hörensagen nicht ab, erweitert es aber um eine neue Kompetenz, das – zunächst weitgehend fremdbestimmte – Selbstlesen. Als Buchstabier- und Nachsprechprozedur, nicht, wie heute, in Verbindung mit dem Schreibenlernen, bleibt das Kind dabei abhängig von der väterlichen Autorität.[47]

Zum Lesenlernen kauft der Vater seinem Sohn zwei Bücher. Das eine enthält eine „Anweisung zum Buchstabieren“, das andere „eine Abhandlung gegen das Buchstabieren“ (I 42): Der durch den elterlichen religiösen Dissens ausgelöste Identifikationskonflikt wiederholt sich hier auf der Ebene eines widersprüchlichen pädagogischen Doppel-Diskurses. Der Vater lehrt Reiser das Lesen nach der traditionellen Buchstabiermethode, die, was das „Anti-Buchstabierbüchlein“ bezeugt, damals bereits umstrittene (und eine Generation später obsolet gewordene) Praxis ist. Die biblischen Namen, die Reiser buchstabieren muß – „Nebukadnezar, Abednego usw.“ – sind nicht nur schwierig, sie sagen dem Kind auch nichts. Für eine auf Verstehen gerichtete Pädagogik, für die der Erzähler eintritt, muß diese Methode zynisch erscheinen.[48]

Den bibliographischen Nachweis für Reisers Lesebücher hat die ansonsten akribische Moritz-Forschung bislang nicht erbringen können.[49] Zu überlegen wäre, ob das Anti-Buchstabierbüchlein nicht vielleicht jenes Lesebuch ist, an das der lutherische Pastor Adolph Georg Kottmeier aus dem Fürstentum Minden in der Bibliothek der pädagogischen Literatur von 1804 erinnert – und zwar als Beispiel dafür, daß bereits Mitte des 18. Jahrhunderts Argumente gegen das Buchstabieren vorgebracht worden seien, welche gegenwärtig – also um 1800 – in der Debatte um neue pädagogische (und das heißt das „Lautieren“ berücksichtigende) Lesemethoden diskutiert würden. Das von Kottmeier unter dem Titel

 

            Erleichtertes Lesebüchlein, Darinnen gezeiget wird, wie man einem das Lesen, ohne lautes Aussprechen der stummen Buchstaben leicht und balde beybringen könne. Gott zum Preise und allen denen, Die mit Anfängern im Lesen zu thun haben, zur Erleichterung, aus der Erfahrung verfertigt. Die zweyte verbesserte Auflage, nebst einer Vorrede Von dem schweren und unnöthigen Buchstabieren. Erfurth, gedruckt und verlegt von Carl Friedrich Jungnicol. 77 S. 8[50]

 

zitierte, anonym verfaßte Lesebuch ordnet Kottmeier aufgrund von Stil und Textauswahl in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ein.[51] Wörtlich und in Paraphrasen stellt er es seinen Lesern vor. Im Roman heißt es über das Anti-Buchstabierbüchlein, Reiser habe „zu seiner großen Verwunderung [gelesen], daß es schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch Buchstabieren lesen zu lehren. [...] In diesem Buche fand er auch eine Anweisung für Lehrer [...] und eine Abhandlung über die Hervorbringung der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge“. (I 43) Später wird Reiser im Schulunterricht noch einmal buchstabieren müssen und prompt versagen. Was sich im Roman geradezu dramatisch auswirkt,[52] nennt das Lesebüchlein schlicht überflüssig:

 

            Es ist bekannt, daß das Buchstabieren vor etwas schweres und doch auch zum rechten Lesen und Schreiben nothwendiges gehalten werde. Das erste ist wahr, das andere nicht. Eine schwere Arbeit ist es, und zugleich ein schweres Gericht Gottes über die Schulen. Denn erstlich wird denen die durch Buchstabieren sollen Lesen lernen, ein lauter Begriff des stummen Buchstaben beygebracht, welchen sie aber, wenn das Buchstabieren angehet, wieder müssen fahren lassen, sie müssen durch Zusammen=nennung der stummen und lauten Buchstaben gleichsam Vocabula machen, und sich dieselben auslegen lassen. Z.E. [zum Exemplum]: es, ce, hah, we, a, er, te, tsed, ist ein Buchstabier-Vocabulum, das soll auch Teutsch heißen: schwarz. So lange nun das das Vocabul-machen währet, behält man die laut=gelernten stummen Buchstaben, wenn das Vocabulum aber ausgeleget wird, so behält kein einziger seinen Namen, der Lernende muß mit einmal alle Buchstaben gleichsam vergessen, und weiß nicht wie ihm geschiehet, und wie es zugehet, daß er jetzt zu seinen Buchstaben ganz anders sagen muß, als da er sie gelernet hat. Dieses Vocabul-machen währet um die ganze Buchstabier=zeit durch, und es darf nun der Lernende keine Sylbe und kein Wort vorbringen, es muß durch Vocabuln geschehen.[53]

 

Der anonyme Verfasser des Lesebüchleins wendet sich vehement gegen diese Lernmethode; Buchstabieren sei „weder zum Lesen noch Schreiben nöthig“.[54] Hatte Reiser dieses Lehrbuch, konnte er auch lesen:

 

            Das Buchstabieren achtet man als ein schreckliches Zorngerichte Gottes, das der gerechte Gott um der Schulsünden willen über uns hat kommen und uns lange Zeit hat drücken lassen, und bittet Gott um Christi willen sehnlich, daß er sich unser erbarmen, solches Gericht wieder von uns nehmen, und denen, die es nicht davor erkennen können, die Augen öffnen wolle.[55]

 

Auch die Einwände der Befürworter der Buchstabiermethode werden genannt. Man fürchte, daß der Praeceptor nach der neuen Methode überfordert sei, „vor einen so großen Haufer Kinder die nöthigen Operationes mit der Kehle, mit der Zunge, mit den Lippen und Zahnen [zu machen], und zugleich Inspection auf die Kinder haben und sie regieren“. Im übrigen sei dieses – phonetische Lesenlernen „zu philosophisch“.[56]

Die Furcht vor unbequemen Konsequenzen für die Lehrroutine und vor der Mühe des eigenen (Um-)Lernens scheint zumindest ein praktisches Hindernis für eine methodische Wende im frühen 18. Jahrhundert gewesen zu sein.[57] Ein anderes wäre in den noch nicht zwischen Zeichen, Benennung und Artikulation des Buchstabens trennenden sprachtheoretischen Voraussetzungen zu sehen. Erst die volksaufklärerische Pädagogik-Debatte, die sich am Ausgang des Jahrhunderts um effizientere Lehrmethoden bemüht, bringt dann den entscheidenden Innovationsschub.[58]

Einen anderen frühen Gegner der Buchstabiermethode und weitere mögliche Referenz des Romans zitiert Johann Heyse in seiner Theoretisch-praktischen Grammatik: „Wer kann sich wundern, wenn ein so unnatürlicher und langweiliger Weg [wie die Buchstabiermethode. U.R.] die Meisten äußerst langsam, oft erst nach mehreren Jahren vom Buchstabieren zum fertigen Lesen führt!“ Und er merkt dazu in einer Fußnote an:

 

            Man hat erst seit etwa zehn Jahren angefangen, beym Unterricht im Lesen diese mehr, als sonst, zu beherzigen, obgleich schon im Jahr 1735 ein einsichtsvoller Schulfreund, unter dem Namen Nachsinner in seiner Lehrkunst, das Zorn erweckende Buchstabiren aus dem Wege zu räumen,'[59] sich darüber mit Recht spottend so ausdrückt: / [,] Wenn man hoch lesen will, spricht man ha o ce ha; / Man tönet zweymal ha, und ist darin kein a. / Klingt es nicht wunderlich, wenn man will spielen sagen, / Und kommt mit es pe i e el e en hervor? / Ein solch gezog’nes Spiel möcht’ mich vom Lernen jagen, / So kommt je allzuschwer der rechte Zweck hervor.[][60]

           

Da Reiser leicht lernt, begreift er trotz der umständlichen Methode schnell, daß Buchstaben nicht nur unverständliche Begriffe, sondern auch sinnvolle Zusammenhänge herstellen können. Lesen, heißt dies, kann das Bedürfnis nach Verstehenwollen ebenso blockieren wie fördern und befriedigen: „sobald er merkte, daß wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde von Tag zu Tag stärker“. Nach den für ihn semantisch leeren, referenzlosen Zeichen „Nebukadnezar“ und „Abednego“, kommen nun codierte Kontexte, d.h. „Welt“ als Ordnungs- und imaginärer Erfahrungsraum, ins Spiel. Kein Wunder, daß dies verführerisch wirkt („Begierde“) und das Lernen beschleunigt. Zum ersten Mal liest Reiser selbständig Abhandlungen und Geschichten, die das Buchstabierbuch nebst biblischen Sprüchen auch enthält. Obwohl sie nicht besonders interessant sind, liest er sie „mehr wie hundertmal“. Insgeheim gewirkt haben müssen sie doch, denn an zwei der Geschichten wird ausdrücklich erinnert – die eines sechsjährigen Knaben, der zusammen mit seiner Mutter ein Martyrium erleidet, und die eines bösen Buben, der im zwanzigsten Lebensjahr bekehrt wird und dann stirbt. Beide, Verschmelzungsphantasie mit der Mutter wie Größenphantasie, erzählen von einem Heroismus mit masochistischen Zügen. (I 43)

Das Antibuchstabierbuch ist äußerst trocken und bringt eine Metareflexion über das Lesen an die Adresse der Erwachsenen. Obwohl die Textsorte ,Lehrbuch als unattraktiv beschrieben wird, widmet Reiser sich ihr beharrlich und wiederholt. Mehr noch, er wird darüber zum ,Reisenden im Sinne Certeaus. Er entwickelt eine Lesewut, die der Erzähler, ambivalent auch er, sowohl als Eskapismus verurteilt wie als bereichernd anerkennt: Sie habe Reisers ,natürliche, vitale Entwicklung gehemmt, aber auch „eine neue Welt“ eröffnet, welche ihn für alles „Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte.“ (I 43) Lesen führt neue Perspektiven ein[61] und erweitert phantasmatisch seine begrenzte Realität, was er genießt.

Der Knabe bleibt dabei an die Autorität des Vaters gebunden, der aussucht oder beurteilt, was er liest und was er mit dem Gelesenen tun soll (etwa Auswendiglernen).[62] Lesen wertet ihn aber auch auf und trägt zu seiner Selbstbehauptung bei: Er bringt die Erwachsenen durch seine Lese- oder Zitierkünste zum Staunen, überflügelt sie gar. Hier entsteht eine jener glücklichen Situationen, bei denen das Selbstbild vom anderen ,Bewußtsein‘, von dem Reiser sich so sehnlich wünscht, darin eine tragende Rolle zu spielen, bestätigt wird.[63] Dieser Wunsch läßt den Lesekundigen nach Möglichkeiten öffentlicher Selbstinszenierung suchen, und er findet sie im Gottesdienst:

           

            Sobald Anton lesen gelernt hatte, fand er ein unbeschreibliches Vergnügen darin, in die Kirche zu gehen; seine Mutter und seine Base konnten sich nicht genug darüber freuen. Was ihn aber in die Kirche trieb, war der Triumph, den er allemal genoß, wenn er nach dem schwarzen Brette, wo die Nummern der Gesänge angeschrieben waren, hinsehen, und etwa einem erwachsenen Menschen, der neben ihm stand, sagen konnte, was es für eine Nummer sei: und wenn er denn eben so, und oft noch geschwinder, als die erwachsenen Leute, diese Nummer in seinem Gesangbuche aufschlagen und nun mitsingen konnte. – (I 79)

           

Hier mündet Lesen in die theatrale Gebärde und in eine Dramaturgie der Aufmerksamkeitserregung.

 

 

VI. Text(-Welt): Lebenswelt

 

Was liest der Knabe? Erwartungsgemäß sind es zunächst die Bücher, die sich im Haus befinden oder die er geschenkt bekommt. Sodann liest er, was Fleischbein ihm gibt, und schließlich jene sprichwörtlichen, über Frauen vermittelten ,verbotenen Bücher‘, ohne die kaum eine Lektürebiographie auskommt. Daß auch die zufällige Lektüre (I 60) nicht unterschlagen wird, spricht dafür, daß Kontingentes in der Ordnung des Alltags wahrgenommen und im Erzählen situiert wird. Durch die über verschiedene Zuträger oder zufällig ins Haus gekommenen Bücher lernt Reiser unter der Hand ein Repertoire von Textsorten kennen, das ganz unterschiedliche Leseerfahrungen ermöglicht.

 

 

1. Bücher im Hause

 

Nachdem Reiser mit acht Jahren lesen gelernt hat, fesselt ihn eine schwere Krankheit für viele Wochen ans Bett. Sie bindet ihn noch stärker an die Bücherwelt, denn sie muß ihm nun umso mehr menschlichen Kontakt ersetzen: „das Buch mußte ihm Freund, und Tröster, und alles sein.“ (I 44). Reiser liest, was er im Haus findet. Er liest unsystematisch, aber er benutzt die Bücher als Lebenshilfe. Zunächst die Bibel, das Buch der Mutter, in der er „alles“ liest, „was Geschichte in der Bibel ist“ (I 44). Er liest identifikatorisch: trauert, wenn Moses, Samuel oder David sterben, ist begeistert, wenn seine ,Helden‘ ruhmhaft und großmütig sind. Dann kommen die Viten der Altväter dran,[64] wie die Schriften Madame Guyons „Autoritäten“ (I 45) des Vaters, die er als Muster zur imitatio benutzt.

Anschließend liest er ein geschenktes Buch, Unterweisungen für Kinder, die er sklavisch zu befolgen sucht (I 45f.). Als ,Ratgeber‘-Texte formulieren sie einen Imperativ, der eine Normierungsfunktion hat. „Die Abhandlungen in diesem Büchelchen hießen also: für Kinder von sechs Jahren, für Kinder von sieben Jahren usw. Anton las also den Abschnitt für Kinder von neun Jahren, und fand, daß es noch Zeit sei, ein frommer Mensch zu werden, daß er aber schon drei Jahre versäumt habe.“ (I 45) Anders als die biblischen Geschichten zielen diese „Abhandlungen“ direkt auf den kindlichen Adressaten, und Reiser entwirft für sich, indem er sie minutiös befolgt, eine Erfolgsgeschichte, die auf Gehorsam gründet.

Der kindliche Nachahmungsgestus birgt die Sehnsucht, die papierenen Vorbilder in ihrem Reichtum an Geschichten und Abenteuern zu beerben, identifikatorisch etwas von ihrer Erlebnisfülle zu nutzen, sich lesend in verschiedenen Rollen zu erproben und darin das eigene Selbst zu profilieren. Die magisch-mediale Bücherwelt erlaubt eine Choreographie, bei dem der Lesende mit im Spiel ist; sie ist mehr als nur Flucht- und Kompensationsraum, Charaktermaske oder Tarnung. Vielmehr erlaubt sie, immer auch das Andere der Rolle sein zu können: in ihrem temporären phantasmatischen Gebrauch liegt als psychischer Gewinn das Versprechen, der andere und dadurch auch wieder man selbst sein zu können. Diese Form der Rückversicherung der eigenen Existenz scheint auch das movens von Reisers späteren Schauspielerträumen zu sein.

Eine Wiederbegegnung gibt es mit den Liedern der Madame Guyon.[65] Er bekommt sie vom Vater zum Auswendiglernen. Gebot und eigener Wunsch, Lernenmüssen und Lesenwollen, gehen hier konfliktfrei zusammen. Denn wie einst bei den wenigen harmonischen Stunden gemeinsamen Singens mit den Eltern, haben die Lieder „immer noch so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche Zärtlichkeit im Ausdrucke [...] und so viel unwiderstehlich Anziehendes für eine weiche Seele, daß der Eindruck, den sie auf Antons Herz machten, bei ihm unauslöschlich geblieben ist.“ (I 47) Lektüre und wiedererinnerter Gesang machen dieses Leseerlebnis so intensiv. Der poetische Reiz der Lieder (in ‚teutscher Odenform’ womöglich) und die begleitenden Phantasien der „süßen Vernichtung“ helfen Einsamkeit und Schmerz ertragen und verschaffen ihm „oft eine Art himmlischer Beruhigung.“ (Ebd.)

Mit Madame Guyons Anweisung zum innern Gebet[66] erfährt Reiser, was der Vater als Dogma in der Familie verkündet, und was er wenig später in Fleischbeins Republik selbst erlebt: die Regeln, wie man die Stimme Gottes in sich zum Sprechen bringen kann.[67] Seine eigenwillige Interpretation der Guyonschen Gebote[68] veranlaßt Reiser, sich einen göttlichen Gesprächspartner zu imaginieren, mit dem er „ohngefähr wie mit einem seinesgleichen spricht“. (I 48) Bei diesem inneren Dialog gibt er den Ton an, lobt oder tadelt, bestätigt oder kritisiert. Die Vorschrift, das ,innre Wort‘ zu vernehmen, wendet er somit ebenso subversiv wie souverän um in ein kreatives Rollenspiel.[69] Er empfindet sich so erfolgreich, daß er sich vorstellt, er komme bei Fleischbein in Pyrmont in „eine Art Tempel [...], worin er auch als Priester eingeweiht, und als ein solcher zur Verwunderung aller, die ihn kannten, zurückkehren würde.“ (I 49) Die priesterliche Erwartung erfüllt sich zwar nicht, gleichwohl macht er mit seinen Übungen weiter und übersetzt den inneren Dialog ins Spielszenario. Sein (dubioses) Vergnügen,[70] wenn er mit einem Schiebkarren durch den Garten prescht, legitimiert er dadurch, daß er „das Jesulein“ aus den Schriften der Guyon und von „andernorts“[71] zum virtuellen Mitspieler macht:

 

            Er hatte [...] viel von dem Jesulein gelesen, von welchem gesagt wurde, daß es allenthalben sei, und man beständig, und an allen Orten mit ihm umgehen könne. / Das Diminutivum machte, daß er sich einen Knaben, noch etwas kleiner wie er, darunter vorstellte, und da er nun mit Gott selber schon so vertraut umging, warum nicht noch vielmehr mit diesem seinem Sohne, dem er zutraute, daß er sich nicht weigern werde, mit ihm zu spielen, und also auch nichts dawider haben werde, wenn er ihn ein wenig auf dem Schiebkarrn herum fahren wollte. / Nun schätzte er es sich aber doch für ein sehr großes Glück, eine so hohe Person auf dem Schiebkarrn herum fahren zu können, und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen; und da diese Person nun ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so machte er auch mit ihr, was er wollte, und ließ sie oft kürzer, oft länger an dem Fahren Gefallen finden, sagte wohl auch zuweilen mit der größten Ehrerbietigkeit, wenn er vom Fahren müde war: so gern ich wollte, ist es mir doch jetzt unmöglich, dich noch länger zu fahren. / So sahe er dies am Ende für eine Art Gottesdienst an, und hielt es nun für keine Sünde mehr, wenn er sich auch halbe Tage mit dem Schiebkarrn beschäftigte. (I 50)

 

Ebenso wie hier eine Textgestalt zum imaginären Mitspieler wird – dasselbe tut Reiser, wenn er mit Blumen und Obstkernen militärische Vernichtungskämpfe führt oder sich Papiersubstitute aus dem Figurenarsenal des Telemach schafft (I 51f.) –, ebenso wird umgekehrt der Leser Reiser Aktant im Lektüre-Raum der Textwelt.

Resümiert man die erste Etappe von Reisers Leseinitiation, so sucht er in den Lektüren das, was sein Elternhaus nur diffus, konfliktbesetzt oder gar nicht zu bieten hat: Aufmerksamkeit, Vorbilder und Freunde, ein ,Programm‘ und die Kraft der Empfindung; zusammengenommen: Anerkennung der eigenen Existenz.[72] Dabei erscheinen die Bücher erstaunlich individuell, und entsprechend vielfältig sind die Leseerfahrungen. Da gibt es 1. das Lesen ohne Identifikationsangebot (Buchstabierbücher), 2. das ,trockene Lesen‘, 3. das identifikatorische Lesen (biblische Geschichten), 4. das Lesen als Muster zur Imitatio (die Viten der Altväter), 5. das Lesen von Gehorsamsappellen, 6. verordnete Lektüre mit eigenem Genuß (Lieder und Gebete), 7. Lesen als Impuls für Rollenspiel, 8. Lesen als Selbstinszenierung.

 

2. Fleischbeins Bücher: Fénelons Telemach und die Acerra philologica

 

Als Neunjähriger erhält Reiser von Fleischbein die Acerra philologica, jenes populäre mythologische Lesebuch, welches Moritz selbst mit seiner Götterlehre (1791) erneuert hat,[73] und Die Abenteuer des Telemach von Fénelon,[74] dem Freund und Apologet der Madame Guyon. In Pyrmont lernt Reiser somit erstmals etwas aus dem Kanon humanistischer Bildung. Der Telemach, dieser Staatsroman, der die Odyssee im pädagogischen Programm einer Fürstenerziehung um 1700 fortschreibt, beeindruckt ihn aber nicht deswegen, sondern weil er hier mit einem kohärenten Erzählkosmos in Berührung kommt: Zum ersten Male ,schmeckt‘ Reiser „die Reize einer schönen zusammenhängenden Erzählung“ (I 50). In seiner Lieblingspassage geht es um einen Freundschaftsbeweis: Der weise Mentor taucht im Reich der Venus auf, um Telemach in einer Situation der (erotischen) Krise beizustehen. Reiser bewegt vor allem jene „rührende Anrede des alten Mentors an den jungen Telemach, als [...] ihm nun sein getreuer lange von ihm für verloren gehaltener Mentor plötzlich wieder erschien, dessen trauernder Anblick ihn bis in seine Seele erschütterte.“ (I 50f.) Es ist ein Moment des Jubels, in dem die Trauer um den geliebten väterlichen Freund und Lehrer in Wiedersehensglück umschlägt:

 

            „Bist du es wirklich“, rief ich aus, „o mein treuer Freund, du meine einzige Hoffnung? Bist du es? Wie? Bist du es selbst? Täuscht nicht ein trügerisches Bild mein Auge? [...] Sprich, Mentor, lebst du noch? Habe ich wirklich das Glück, dich zu besitzen, oder ist es nur ein Schatten meines Freundes?“ Indem ich diese Worte sprach, eilte ich auf ihn zu; die Sehnsucht beflügelte meine Schritte: ruhig, ohne einen Schritt mir entgegenzukommen, erwartete er mich. O Götter, ihr wißt es, wie groß meine Freude war, als meine Hände ihn berührten! „Nein, nicht nur ein leerer Schatten ist es! ich halte ihn, ich umarme ihn, meinen lieben Mentor.“ So rief ich. Ströme meiner Tränen benetzten sein Antlitz, lange hielt ich ihn umarmt, ohne ein Wort sprechen zu können. Traurig, aber mit innigem Mitleid betrachtete er mich.

 

Nachdem Mentor seinem Schützling die Flucht empfohlen hat, weil nur so die „erbärmliche und verderbliche Wollust“ besiegt werden könne („verwische aus deinem Gedächtnis selbst die kleinste Erinnerung an diese Insel“), verläßt er ihn wieder: „Die Götter gestatten mir nicht, daß ich über mich selbst verfügen kann; wäre ich mein freier Herr, so würde ich nur – die Götter sind meine Zeugen – für dich leben.“[75]

Diese dramatische Wechselrede ist gekennzeichnet durch eine doppelte Peripetie. Bedrängnis schlägt um in Glück, das sich sogleich wieder entzieht. Reiser hält sich lesend (erinnernd der Erzähler) an einer Passage fest, welche das Muster eigener Erfahrungen wiederholt und das da lautet, daß es Glück nur um den Preis von Enttäuschung geben kann. Die Wunscherfüllungsstruktur, den Wandel von Bedrängnis und Enge in Entlastung, bilden rhetorisch-grammatikalisch die Fragesätze ab, die in befreiende Aussagesätze münden. Da aber das „Für-dich-Leben“ nicht sein darf, muß Mentor wieder verschwinden ...

Es ist leicht einzusehen, warum diese Episode jemanden mit einem „sehnlichen Verlangen nach einer liebreichen Behandlung“ (I 41) tief „erschüttert“ und „anzieht“ (I 51).[76] Aber erst eine intertextuelle Spurensicherung bringt das zarte Echo dieser Geschichte im einzigen Prosatext Reisers, den der Roman zitiert, zu Gehör: Reisers empfindsam-poetischer Brief an Philipp R[eiser] mündet am Ende in eine Fénelonsche Vision gepaart mit einer empfindsamen Klopstockschen Schlußapotheose:

 

„finsterer Gram erfüllte meine Seele – / Als plötzlich ein Jüngling vor mir stand – den Freund verkündete sein Blick – Empfindung sprach sein sanftes Auge – schleunig wollt’ ich entfliehen – aber er faßte so vertraulich meine Hand – und ich blieb stehn – er umarmte mich, ich ihn – unsre Seelen flossen zusammen – / Und um uns ward’s Elysium. – “ (I 230)[77] 

 

Das erotische Begehren, das bei Fénelon ebenso wie in den Texten und Liedern Mme Guyons sublimiert wird – durch politische Führungsaufgaben (Telemach) oder die „reine Liebe“ zu Gott (Quietismus) –, bleibt für Reiser resonanzlos im Wortsinne: Philipp beantwortet seinen Liebesbrief nicht, d.h. er versagt ihm jene Anerkennung, die er sich so inständig wünscht. Aber der Brief dokumentiert ein Stück Lesergeschichte. Seine Hypotexte zeigen den Schreiber als produktiv gewordenen Leser, wenngleich als einen – hier sitzt das krisengeladene Autorproblem –, der seine Liebesbotschaft nur als remake (Fénelon/Klopstock) kommunizieren kann. Oder anders: Als Autor formuliert er in der väterlichen Büchersprache präfabrizierte Muster, die die Medienwelt bereitstellt für das, was als „Empfindung“ rhetorisch codiert ist. Jenseits dessen hat er (noch) keine eigene Sprache. Für die Argumentation des Erzählers bestätigen die Telemach-Episode und allem voran seine Kontaminationen aus christlicher und antiker Vorstellungswelt Reisers mangelnde pädagogische Führung:

 

            [D]a ihm nie eigentlich gesagt worden war, daß jenes [die religiösen Schriften] wahr, und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnische Göttergeschichte mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben. / Ebensowenig konnte er aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen; um so vielmehr, als dies die ersten Eindrücke auf seine Seele gewesen waren. Er suchte also, welches ihm allein übrig blieb, die verschiedenen Systeme, so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen, und auf diese Weise die Bibel mit dem Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologica, und die heidnische Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen. (I 51)

 

Reiser sucht das Gelesene in einem System für sich zu ordnen: „Die erste Person in der Gottheit und Jupiter, Calypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel, machten bei ihm die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn existiert haben.“ (I 51)

Trotz seines vom Erzähler so mißbilligten ,sonderbaren‘ Umgangs mit den ganz unterschiedlichen Textwelten hat Reiser etwas verstanden: Systematik in der Ordnung des Mythos. Was für den Erzähler Auswuchs eines ungeschulten Kopfes ist,[78] vermittelt Reiser den Eindruck, daß seine „Ideenwelt um ein Großes bereichert“ worden sei (I 54). Das ,Große‘ an Reisers Operation ist, daß er es geschafft hat, zwei heterogene sprachlich-ideologische Felder durch Beobachtung mit einer semantischen Brücke zu verbinden. Das liefert noch keine Erklärung, ist aber ein selbsttätiger Verstehensakt jenseits von aufgeklärtem Wissen (womit die Erzählerironie operiert).

 

 

3. Verbotene Lektüre

 

Während alle Bücher zunächst väterliche Handreichungen sind, genießt der elfjährige Reiser – heimlich in seiner Kammer – „zum ersten Male das unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre“. Die verbotene Lektüre, nach heutigem Verständnis Belletristik, wird „mit unersättlicher Begierde“ (I 55) verschlungen. „Verboten“ und „geheim“ ist sie deshalb, weil das väterliche Erziehungsprogramm, das religiöse Texte und solche, die nach aufklärerischem Ethos vernünftig sind, propagiert, sie nicht vorsieht. Das „wilde Lesen“[79] von Romanen gehört zur Gegenordnung der Frauen: Die schöne Banise,[80] die Märchen aus Tausendundeiner Nacht und die Insel Felsenburg (1731) – allesamt Geschichten mit phantastisch-dramatischen Zügen – bekommt Reiser von seiner Base, wobei seine Leselüste von der Mutter gedeckt werden: „Sooft seine Mutter hereintrat, drohete sie ihm bloß mit der Ankunft seines Vaters, ohne ihm selbst das Lesen in diesen Büchern zu verbieten, worin sie ehemals ein eben so entzückendes Vergnügen gefunden hatte.“ (I 55)[81]

Reiser macht im Lesen eine Reihe von polymorphen, komplexen Erfahrungen. Ebenso wie der Knabe in den vom Erzähler abqualifizierten und vom Vater instrumentalisierten Vorschriften der Madame Guyon ein anziehendes poetisches Element entdeckt, ebenso enthalten umgekehrt die Märchen von Mutter und Base Elemente, die in dem Kind Ängste und „höllische [] Qualen“ auslösen (I 56). Die Väter verordnen Texte, die weibliche Phantasien transportieren und Verschmelzungswünsche bedienen, die Mütter geben Texte weiter, die ein patriarchales Muster reproduzieren, wofür paradigmatisch die von der Mutter einzig akzeptierte Urschrift der Bibel, aber auch die Märchen und die verbotenen Romane wie die Insel Felsenburg stehen, in denen das Modell väterlicher Ordnung Triumphe feiert. Und selbst der scheinbar distant-souveräne Erzähler steht im Dienste eines solchen Doppelspiels, wenn er Reisers Dilemma zwar mitfühlend analysiert, ihn gleichzeitig aber auch infragestellt oder entwertet, d.h. seine melancholisch-depressive Struktur sowohl entlarvt wie bestätigt. Noch im Zauber etwa, den die „Shakespearenächte“ besitzen, und im selbstzerstörerischen Exzeß, wenn die Bücher zur Droge, zum „Opium“, werden, findet sich diese dominante Muster der Ambiguität. Auch Reisers schließliche Rollen- und Ratlosigkeit und der weiterwirkende Wunsch, mittels der „Büchersprache“ des Vaters öffentlich anerkannt zu werden, trägt ihr Zeichen. Bis zu seinem Ende eignet dem Romanverlauf eine ähnliche Kernlosigkeit und Dezentriertheit wie der Figur Reisers selbst.

Für den elfjährigen Knaben bereitet die fiktive Welt der „verbotenen Lektüren“ mit ihren imaginären Schauplätzen dieselben Gratifikationen wie Tagträume. Beide helfen dem phantasierenden Ich, die Welt umzubauen und sich halluzinatorisch Wünsche zu erfüllen. Dabei sucht es immer wieder jene Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihm die Realität versagt:[82]

 

            Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringeres, als einmal eine Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen, denn immer größeren Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen, und leblose Kreaturen, kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen, bis ihm schwindelte.

            Dieses Spiel seiner Einbildungskraft machte ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je nachher wieder genossen hat. (I 55f. Herv. U.R.)

 

Die „verbotenen Bücher“ dienen also nicht nur der narzißtischen Selbstinszenierung, sie ermöglichen auch, phantasievoll soziale Rollen zu ergreifen. So bietet etwa Schnabels Insel Felsenburg mit ihrer zentralen Gestalt, Albertus Julius, ein Paradebeispiel sozialer Anerkennung; er wird durch eine Gruppe bestätigt und bekommt durch sie einen Status zugewiesen. Was hier im Raum der Utopie beschrieben wird, besitzt dieselbe Struktur wie die Heterotopie von Fleischbeins ,quietistischer Republik‘.[83] Und nichts anderes phantasiert Reiser später, wenn er sich in den Shakespearenächten mit Philipp Reiser der ,Weltbrüderschaft‘ aller Shakespeareleser zugehörig fühlt.

 

VII Imitatio und Urteilsfähigkeit – Lektüre und Ausbildung

 

Eine Zäsur, die man als das Ende von Reisers Leseinitiation bezeichnen kann, bildet der Exkurs über die „frühesten Empfindungen“ des Kindes. Als der Erzähler den chronologischen Faden wieder aufnimmt, beim elfjährigen Schüler, fängt dessen Schreibmeister gerade an, „ihn eigne Briefe und Ausarbeitungen machen zu lassen“ (I 60). Der seit dessen achtem Lebensjahr mit Reisers Ausbildung betraute Schreibmeister gibt ihm noch mehr von Fénelon, die Totengespräche und seine Erzählungen. Der private Schreibmeister ist demnach nicht nur für das Schreiben, son­dern auch für das Lesen zuständig. Reiser beginnt, „seine Lektüre zu nutzen, und hie und da Nachahmungen von dem Gelesenen anzubringen.“ (I 60) Gelesenes wird zum Vorbild für eigenes Schreiben.[84]

Eher zufällig, durch die Lektüre von Ramlers Kantate Der Tod Jesu (1756), die sein Vater in einem Konzert aufgeführt hatte, kommt Reiser mit Poesie in Berührung. Sein „Geschmack in der Poesie“ erhält auf diese Weise „eine gewisse Bildung und Festigkeit, die er seit der Zeit nicht wieder verloren hat; so wie in der Prose durch den Telemach“ (I 60). Schließlich lernt er mit Carl von Mosers Daniel in der Löwengrube (1763) nochmals eine neue Textsorte kennen, poetische Prosa.

Damit ist das Fundament gelegt für zukünftige Autorschaft: Reiser hat Muster zur Nachahmung, und durch sein Lesen ist er urteilsfähig geworden. Sein teils nach dem Modell des autodidaktischen Vaters selbst gebasteltes, teils über die Supervision des Schreibmeisters gesteuertes Leseprogramm hat ihn kritisch gemacht: In den ,verbotenen‘ Romanen der Mütter nimmt er nun, „ohngeachtet des Vergnügens, das er darin fand, doch sehr lebhaft das Abstechende und Unedlere in der Schreibart“ (I 60) wahr.

Als Reiser für einzelne Fächer, insbesondere für den Lateinunterricht, in die Stadtschule geschickt wird (I 61), muß er zunächst „den Donat“, die lateinische Standardschulgrammatik, auswendig lernen. Hier wird er erstmals öffentlich beachtet. Da er das Pensum – Deklinieren, Konjugieren, Vokabellernen – beherrscht, rückt er „in kurzer Zeit von einer Stufe zur andern empor“ (I 62). Lustvoll phantasiert er daraufhin seine zukünftige Rolle als literatus: „Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum erstenmale in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sahe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte.“ (I 62) Reisers öffentliche Anerkennung wirkt zurück in die Familie:

 

Auch zu Hause brachte er diese kurze Zeit ziemlich vergnügt zu, indem er alle Morgen, während daß seine Eltern Kaffee tranken, ihnen aus dem Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi vorlesen mußte, welches er sehr gern tat. / Es ward alsdann darüber gesprochen, und er durfte auch zuweilen sein Wort dazu geben. (I 62)

 

Endlich bringt seine wachsende literate Kompetenz ihm auch die ersehnte Geltung in der Familie. Noch immer verordnet, steht die Lektüre für einmal im Zeichen von elterlichem Konsens. Sie bindet Reiser horizontal in die Familie ein: Den Eltern vorlesen und sich äußern zu dürfen, bedeutet einen Umbau von Autoritätsverhältnissen, gestattet ihm im Wortsinne, ,eine Stimme zu haben‘ und ,eine Rolle spielen‘ zu dürfen.[85]

In diese glückliche Phase fällt auch die Begegnung mit dem 105jährigen Tischer, die der Vater herbeiführt: „ich will dich zu einem Manne führen, in dem du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst“ (64). Tischer ist ein Patriarch, der im Kokon seiner Bücherwelt abgeklärte Weisheit verkörpert, ein leibhaftiges Pendant zur Gestalt Mentors und eine positive Gegenfigur zu Fleischbein.[86] Der eine – Mentor – greift aktiv in das Leben seines Schützlings ein, der andere – Tischer – bleibt asketisch-zurückgezogen in seinem Gehäuse, wo man ihn auf labyrinthischem Wege suchen und finden muß. Beide Erziehergestalten sind charismatische Vaterfiguren, Repräsentanten jener affektiven Solidarität, für die der Erzähler eintritt. Tischer fördert Reisers Lernfortschritte in der Schule und bei seinem Schreibmeister, indem er ihm seine umfangreiche Sammlung theologisch-mystischer Schriften zur Verfügung stellt. Beiläufig führt er ihn so in die Bibliotheksbenutzung ein, der erste Schritt zur Lektüremündigkeit. Wie keine Figur im Roman (be)hütet und ermöglicht er den Zugang zu einer Schrift- und Bücherwelt, die nicht für Verabreichung oder Zensur, sondern für einen souveränen Umgang mit der Medien-Welt steht.

Das Glück dieser Lese-, Lern- und Lebenserfahrung findet ein abruptes Ende im Beschluß des Vaters, Reisers Lateinstunden zu beenden und den geliebten Schreibmeister zu wechseln.[87] Die Reaktion des Knaben spricht eine deutliche Sprache: Er verweigert das Lernen (I 65).[88] Sein masochistisches Abwehrverhalten („freiwillige Aufopferung“, I 66), findet, wie beim zweiten Pyrmonter Aufenthalt, ihre aggressive Kehrseite in den Prügeleien mit „gemeinen Gassenbuben“ (I 69), mit denen er sich nunmehr identifiziert. Gleichzeitig wird die „Bücherwelt“ überdimensional idealisiert: „er hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen alles, was studiert hatte und einen schwarzen Rock trug, so daß er diese Leute beinahe für eine Art übermenschlicher Wesen hielt“ (I 70). Hier scheint noch einmal das große Ziel, ein literatus sein zu wollen, auf; im Zeichen des Wunsches und der Enttäuschung wird der Gelehrte zum Idol.

Reisers tiefe Kränkung spiegelt sich in einem neuen Leseverhalten. Die (religiösen) Lektüren und Gebete absolviert er heuchlerisch und ohne Empfindung. Die väterliche Willkür und Herabsetzung verschärfen einen seelischen Dissoziationsprozeß, der das Ziel, zu reden wie der Vater, einerseits immer dringlicher werden läßt und andererseits den Zugang zu ,authentischen‘ inneren Gefühlen nur um so stärker blockiert bzw. diese abspaltet.   

 

 

 

VIII Leseversagen

 

Beschlossen wird der erste Band des Romans mit Reisers vierzehntem Lebensjahr. Reiser ist jetzt Schüler einer Freischule für Lehrerausbildung (I 110f.) und glänzt durch seinen Vorsprung im Nachschreiben. Damit sticht er sogar die Lehrer aus und zieht die Aufmerksamkeit des Inspektors auf sich. Allein, auch hier kippt der Erfolg um: Reiser ist zu gut. Die Buchstabierübungen unterfordern ihn:

 

            Es wurde [...] eine Buchstabierübung angestellt, wo einer der Knaben immer eine Silbe erst allein buchstabieren und vorschreien, und dann die andern alle, wie aus einem Munde, nachschreien mußten. [...] diese ganze Übung kam Anton wie toll und rasend vor, und er schämte sich nicht wenig, da er sich schmeichelte schon mit Ausdruck lesen zu können. (I 111)

 

Reiser kann längst nicht nur mechanisch Buchstaben reproduzieren, sondern den Inhalt begreifen und entsprechend vortragen, d.h. Schrift und Semantik verbinden. Nach der zeitgenössischen Klassifikation ist eben dieses – „Fertigkeit, Verstand und Ausdruck“ – die höchste Stufe der Lesekunst.[89] Als es gilt, sein Können unter Beweis zu stellen, versagt er jedoch: „die Reihe vorzuschreien kam bald an ihn, denn dies ging wie ein Lauffeuer herum; und nun saß er und stockte, und die ganze schöne Musik geriet auf einmal aus dem Takt.“ (I 111) „Takt“ und „Musik“ bezeichnen die akkustische Seite dieses konzertierten Schüler-Drills.[90] Reisers Versagen äußert sich also als deutlich wahrnehmbare Störung innerhalb der Gruppe. Aber erst die demütigende Kurzformel des Inspektors – „dummer Knabe“ – bedeutet für Reiser die ultimative Katastrophe: „Anton glaubte in dem Augenblick vernichtet zu sein, da er sich plötzlich in der Meinung eines Menschen auf dessen Beifall er schon viel gerechnet hatte, so tief herab gesunken sahe, daß dieser ihm nicht einmal mehr zutrauete, daß er buchstabieren könne.“ (Ebd.) In Reisers Erinnerung verbindet sich diese Erfahrung mit ähnlichen anderen zu einer Serie von niederschmetternden Kränkungen. Sie lassen ihn – der Mechanismus ist bekannt – eben jene Eigenschaften annehmen, welche ihm zugesprochen, erst eigentlich aber durch diese Zuschreibungen produziert werden:

           

            „Durch tausend unverdiente Demütigungen kann jemand am Ende so weit gebracht werden, daß er sich selbst als einen Gegenstand der allgemeinen Verachtung ansieht, und es nicht mehr wagt, die Augen vor jemand aufzuschlagen – er kann auf die Weise in der Unschuld seines Herzens alle die Kennzeichen eines bösen Gewissens an sich blicken lassen [...]“. (I 154)

 

Aus verlorener Ehre wird er zur Schreib-Maschine: Um die erlittene Kränkung zu kompensieren und weil er den Inspektor wegen seines Irrtums mit Reue strafen will, d.h. weil er ohne Anerkennung sein verletzliches Selbst nicht schützen kann, füllt Reiser Seiten um Seiten mit Nachschriften wie der einer „vollständige[n] Dogmatik mit allen Beweisstellen aus der Bibel, und einer vollständigen Polemik gegen Heiden, Türken, Juden, Griechen, Papisten“, „unnützes Zeug“, so der Erzähler, das Reiser dazu bringt, „nun auch wirklich wie ein Buch von allen diesen Sachen“ (I 112) zu reden.

Hier nun mündet die Lesergeschichte in die Autorgeschichte. Sie könnte den Titel tragen: ,ein Autor kann werden, wer wie ein Buch redet‘, und auch sie folgt dem janusköpfigen Erfahrungsdoppel aus Scheitern und Erfolg. Und zwar deshalb, weil der „geschärfte Befehl zum Selbstdenken“ (und –wahrnehmen) das Wie-ein-Buch-Reden durchkreuzt.

 

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    [1] Heinz von Foerster: Ethics and Second-order Cybernetics. Vortrag gehalten auf dem Internationalen Kongreß Système et thérapie familiale, Paris 4.10.1990 (übers. von Birger Olrogge), und ders. in: You can’t Judge a Book by it’s Cover. Arrang. von Hans Peter Kuhn und Hanns Zischler. Berlin 1995. Begonnen wurde mein Beitrag vor vielen Jahren: Ohne Heinrich Bosses Texte und seine Geschichten zum 18. Jahrhundert wäre ich nicht auf die Idee gekommen, über die Anfänge von Autorschaft im Anton Reiser nachzudenken.

    [2] Die Texte von Karl Philipp Moritz werden, wenn nicht anders angegeben, zitiert nach der Ausgabe: Werke, hrsg. v. Horst Günther. Frankfurt am Main 1981, mit Band- (röm.) und Seitenangabe (arab.), und nach der Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag: Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt am Main 1997, mit Band und Seitenabgabe (röm./arab.) und der Sigle DKV.

    [3] Wie sehr Moritz die autopoietische Schleife (als Individualisierungsverfahren) reflektiert, zeigt sein Kommentar zu Werthers Brief vom 10. Mai: „Man wird nicht leicht ein Werk der Poesie finden, wo der Darstellungstrieb selber sich so getreu mit dargestellt hätte, als in diesem poetischen Gemälde, in welchem gleichsam das Innerste der Seele sich darzulegen strebt.“ Über ein Gemälde von Göthe. In: Werke II (DKV) 911-918, 916.

    [4] Zur Sinnkrise der melancholischen ,Grundlosigkeit vgl. Uwe Hebekus: „Practicus des Indecori“. Die Zeichen der Melancholie in Aufklärung und Empfindsamkeit. In: DVjs 72, 1998, S. 56-80. Der Bezug des Reiser-Romans zum Pietismus ist entlang von Robert Minders Argumenten (Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz. Frankfurt am Main 1974) immer wieder betont worden; vgl. zuletzt Werner Loch: Die Darstellung des Kindes in pietistischen Autobiographien. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung, hrsg. v. Josef N. Neumann und Udo Sträter. Tübingen 2000 (Hallesche Forschungen. Bd. 5), S. 143-182, 179-182.

    [5] Zum Beobachter vgl. Johann Caspar Lavaters Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst (1771) und sein Plädoyer für das Beobachten in der Abhandlung Von der Physiognomik (1772) und in den Physiognomischen Fragmenten. Lichtenberg nennt in seiner Streitschrift Über Physiognomik (1778) einen „sich über alles erstreckenden Beobachtungsgeist[]“ das Merkmal des Zeitalters (Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies. Bd. III. München 1972, S. 256-308, hier S. 259). Nach Christoph Martin Wieland ist alles, was „über die Beschaffenheit der Staatswirthschaft, Polizey, bürgerlichen und militarischen Verfassung, Religion, Sitten, öffentlichen Erziehung, Wissenschaften und Künste, Gewerbe, Landwirthschaft, u.s.w. in jedem Theile unsers gemeinsamen Vaterlandes [...] einiges Licht verbreitet [...]“, wert, dargestellt zu werden. Dazu wiederum komme man nicht anders, „als indem man die Augen aufmacht und sieht, und indem diejenigen, welche mehr Gelegenheit als andere gehabt haben zu sehen was zu sehen ist, ihre Beobachtungen den andern mittheilen.“ Über die Rechte und Pflichten der Schriftsteller (1785). In: Wielands Werke. Bd. 15: Prosaische Schriften II. 1783-1794, hrsg. v. Wilhelm Kurrelmeyer. Berlin 1930 (Akademie Ausgabe. 1. Abt. 15.), S. 67f. Für Moritz ist das „Beobachten sich über die Dinge erheben, wodurch man sonst mit ins Spiel gezogen wird [...] Ersatz für jede Entbehrung“ und „[d]ie letzte Freistatt des Weisen“, Werke II [DKV], S. 43; andererseits – die Figur ist also komplex - kann man an seinen Worten über das Leben in Italien den Streß ablesen, den das ständige selbstreflexive Beobachten bereitet: „man gewöhnt sich nach und nach, die Sachen bloß anzusehn [...], ohne Reflexionen darüber anzustellen, die nichts nützen. Man beschränkt sich immer mehr auf den Moment und hört auf, das Leben im Ganzen zu betrachten und sich vergebliche Mühe zu geben, seine labyrinthischen Verwicklungen zu enträtseln.“ Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien. In: Werke II 300. Wie schwer Moritz der Verzicht auf ,Tiefenforschung fällt, bezeichnet das abwertende „bloß“; und in den „labyrinthischen Verwicklungen“ schwingt noch der pietistische Diskurs nach (vgl. etwa Johann Amos Comenius: Das Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens. Amsterdam 1663); Hamann wird gut pietistisch sein Leben als „Labyrinth“ bezeichnen und den Grund im unsystematischen Unterricht einer „Winkelschule“ sehen. Johann Georg Hamann: Gedanken über meinen Lebenslauf. In: Hauptschriften, hrsg. v. Otto Mann. Leipzig o.J., S. 2f.

    [6] Vgl. Moritz: Vorlesungen über den Stil. Werke III 629.

    [7] Vgl. dazu Jerome Bruner: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns (engl. Acts of Meaning, 1990). Heidelberg 1997, S. 109, und ders.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. [...], hrsg. v. Jürgen Straub. Frankfurt am Main 1998, S. 46-80, sowie Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München und Wien 1994, hier insbes. der sechste Streifzug Fiktive Protokolle.  

    [8] Vgl. dazu Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt am Main 2000, hier insbes. S. 296ff.

   [9] Karl Philipp Moritz: Neues ABC-Buch. Illustrationen von Wolf Erlbruch. Nachwort von Heide Hollmer. München 2000, o.S.

    [10] Bündig dazu Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk. 2., vollst. überarbeitete, erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart 1999, S. 25-32.

    [11] Vgl. dazu Niklas Luhmann: Wie lassen sich latente Strukturen beobachten? In: Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster. Hrsg. v. Paul Watzlawick und Peter Krieg. München und Zürich 1991, S. 61-74.

    [12] Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (frz. 1966). Frankfurt am Main 1974, S. 377.

    [13] „[Erzählen] ist spezialisiert auf das Schaffen von Verbindungen zwischen dem Außergewöhnlichen und dem Gewöhnlichen. [...] Die Alltagspsychologie ist Träger des Kanonischen. Sie konzentriert sich auf das Erwartbare und/oder das Gewöhnliche der menschlichen Existenz. Sie verleiht diesem Legitimität und Macht. Sie verfügt aber über zweckmäßige und wirkungsvolle Mittel, das Außergewöhnliche und das Ungewöhnliche in eine verständliche Form zu bringen. Denn [...] die Viabilität einer Kultur [liegt] in ihrer Fähigkeit, Konflikte zu lösen, Differenzen zu erklären und gemeinschaftliche Bedeutungen immer wieder neu auszuhandeln. Die ,ausgehandelten Bedeutungen [...] werden möglich gemacht durch das Instrumentarium des Erzählens, das gleichzeitig mit dem Kanonischen und dem Außergewöhnlichen umgehen kann.“ Bruner (Anm. 7), S. 64. Moritz, so scheint es, hat diese ,unmögliche Logik erfaßt, dem ,gewöhnlichen Menschen eine Stimme verliehen und ihn mit der Aufmerksamkeit für das Außergewöhnliche bedacht. So jedenfalls lassen sich die vielzitierten Sätze der Vorrede lesen: „Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannichfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen.“ (I 36) Ein solches Erzählprojekt arbeitet daran, die Grenzen des literarisch Sagbaren auszuweiten und Subjektivität zu objektivieren.

    [14] Ephemeriden der Litteratur und des Theaters. 39. Stück, Berlin 24. September 1785, S. 205-208; zit. nach Moritz: Werke I (DKV) 965. Das Paradox von Realismusanspruch und Selbstbeobachtungsaporie löste die in der Forschung immer wieder gestellte Frage nach der Positionierung des Romans zwischen Autobiographie und Fiktion aus. Den aktuellen Stand der Moritz-Biographik referiert Albert Meier: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 2000, S. 12-67. Aus kommunikationswissenschaftlicher Warte analysiert Birgit Nübel: Autobiographische Kommunikationsmedien um 1800. Studien zu Rousseau, Wieland, Herder und Moritz. Tübingen 1994, das komplexe Erzählgeflecht des Textes.

    [15] „Wenn Erinnern immer auch einhergeht mit neu Einschreiben, dann muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß bei diesem erneuten Konsolidierungsprozeß auch der Kontext, in dem das Erinnern stattfand, mitgeschrieben und der ursprünglichen Erinnerung beigefügt wird. Es ist dann nicht auszuschließen, daß die alte Erinnerung dabei in neue Zusammenhänge eingebettet und damit aktiv verändert wird. Sollte dies zutreffen [...], so könnte durch Erzählen und Wiedererzählen das ursprünglich Erinnerte ständig neue Modifikationen erfahren [...] und da der Erzähler nicht merkt, daß seine Erinnerung beim Erinnern labil wurde [...], nimmt er seine Erinnerungen immer als authentische Ersterinnerungen wahr, obgleich sie sich gewandelt haben [...].“ Wolf Singer: Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags am 26.9.2000 in Aachen (www.mpih-frankfurt.mpg.de/global/np/vortrag.htm), S. 8. Aufschlußreich ist, daß sich Moritz im Anton Reiser der Konstruktion von Wahrnehmungen und Erinnerungen durchaus bewußt ist (vgl. eindrücklich I 98f). Wenn Reiser darauf verfällt, daß die Erinnerungen des Knaben vielfach nur Erinnerungen an Erinnerungen sind, dann schreibt der Text den dargestellten Erfahrungen den Mechanismus der Retrospektion mit ein. Daran wird nicht durchgängig, aber immer wieder erinnert, so daß der Leser zum Beobachter dritter Ordnung wird; meistens ist er aber das, was Moritz sich wünscht, nämlich ein empathischer Teilnehmer (s.u.).

    [16] Dies Wolf Singers Definition von Wahrnehmung und Erinnerung, a.a.O. (Anm.15); und so entdeckt die anthropologische Wende der Goethezeit den Menschen als Medium: „Die anthropologische Implikation ist massiv. Ein Mensch als Objekt nicht von Produktion, sondern von Reproduktion, nicht von Aktion, sondern von Reaktion, nicht von Bewußtsein, sondern von Unbewußtsein, wird Gegenstand des Wissens. Ob in den Labors der Experimentalpsychologie, ob in ästhetischen, kriminalistischen, pathologischen oder sonstigen modernen Kontexten wird er präsent sein als Medium.“ Rieger (Anm. 8), S. 299.

    [17] Vgl. dazu zusammenfassend Meier(Anm. 14), S. 226f. 

    [18] Eine Passage über Reisers Mutter zeigt das besonders eindrücklich und in der Figur einer Metalepse (im Sinne Genettes), der Grenzüberschreitung zwischen der erzählten Welt und der Welt des Erzählers. Sie habe das „Unglück“ gehabt, heißt es, „sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt zu halten [...], um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben [...]. Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.“ (I 55; 2. Herv. U.R.)

    [19] Vgl. dazu Heide Rohse: Unsichtbare Tränen. Effi Briest Oblomow Anton Reiser Passion Christi. Würzburg 2000, S. 12f.

    [20] Wie Reisers Schauspielleidenschaft nachträglich kommentierend, fährt der Text fort: „Eben dies ist der Fall bei einem Schauspiel: es gefällt mir, wenn es mit meiner Empfindung harmonisch ist; es rührt mich, wenn etwa Erinnerungen von ähnlichen Szenen bei mir erweckt werden; aber es interessiert mich erst, wenn ich mich selbst gleichsam darüber vergesse, und mit allen meinen Gedanken und Empfindungen selbst zwischen den spielenden Personen bin.“ (Werke III 664)

    [21] Zum Facettenreichtum dessen, was unter dem Begriff des „Gelehrten“ im 18. Jahrhundert verstanden wird, s. das Kapitel Von den Gelehrten und Bücherschreibern überhaupt in Johann Andreas Fabricius’ Geschichte der Gelehrsamkeit. Der banalste, für Reiser durchaus einschlägige Grund-Satz lautet: „Das Bücherschreiben ist ein Mittel berühmt zu werden“. Ders.: Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit. Bd. 1 (Leipzig 1752). Reprint Hildesheim und New York 1978, S. 692.

    [22] Nach Luhmann ist der Begriff der „Karriere“ im 18. Jahrhundert an den der Individualität geknüpft: Das Individuum konstituiert sich nicht mehr ,intern durch Geburt und vorgegebenen Stand, sondern ,extern durch soziale Differenzierung, „durch Bezug auf das, was es [das Individuum] von allen anderen unterscheidet.“ Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3. Frankfurt am Main 1989, S. 215. S. auch S. 216-236. Wie hoch gleichwohl die Schwelle für soziale Außenseiter war, in akademische Berufe zu gelangen, andererseits dort, wo die Väter schon Akademiker waren, Aufsteiger die Regel waren, zeigt Stefan Brakensiek am Beispiel von kleinstädtischen Beamten. Ders.: Fürstendiener Staatsbeamte Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830). Göttingen 1999 (Bürgertum Bd. 12), hier bes. S. 194ff.

    [23] Nicht zuletzt durch die Bemühungen der Volksaufklärer konnten 1770 ca. 15 % der Bevölkerung lesen, 1800 25% und 1830 schon 40%. Vgl. Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1986, S. 269. Indirekt reflektiert diesen Befund eine Rezension zum Anton Reiser: „Da Hr. Moritz doch für Leute schreibt, die lesen, das heißt nicht für Handwerker u. dgl. so hätte er sich auch für Scenen hüten sollen, deren Details seinen Lesern statt der Theilnahme, Langeweile erregen müssen.“ Gothaische gelehrte Zeitungen. 68. Stück, 24. August 1785, S. 557f., zit. nach: Moritz: Werke I (DKV) 964.

    [24] Arnold van Genneps Typologie unterscheidet drei Phasen – ,Trennung, ,Schwelle bzw. ,Umwandlung und ,Angliederung. Ders.: Übergangsriten (zuerst frz. 1909). Frankfurt am Main und New York 1986.

    [25] Als Anton Reiser sich vorübergehend zum „noch [...] seltene[n]“ Studium der schönen Wissenschaften an der Erfurter Universität einschreibt, heißt es: „Er stand nun wieder in Reihe und Glied, war ein Mitbürger einer Menschenklasse, die sich einen höhern Grad von Bildung vor allen übrigen auszuzeichnen streben. Durch seine Matrikel war seine Existenz bestimmt [...].“ (I 359) Hier wird die psychosoziale Doppelfunktion von Reisers Studierwunsch sichtbar: als Besonderer ausgezeichnet und zugleich sozial integriert zu sein.

    [26] Ein literarischer Topos seit der platonischen Aufspaltung von Schrift in Heilmittel und Droge. Zu Reisers Lektüren vgl. u.a. Dietrich Weber: Lektüre im „Anton Reiser“. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle Achtzehntes Jahrhundert. Gesamthochschule Wuppertal 1975. Heidelberg 1977, S. 58-61; Hans-Georg Pott: Was heißt: Sich im Lesen orientieren? Der Fall ,Anton Reiser. In: Literatur. Verständnis und Vermittlung. Wilhelm Gössmann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Joseph A. Kruse u.a. Düsseldorf 1991, S.131-146; Robert Stockhammer: Leseerzählun­gen. Alternativen zum hermeneutischen Verfahren. Stuttgart 1991 (zu K.Ph. Moritz S. 193-210); Peter Cersowsky: Nicht nur ein Span aus Stratford. Shakespeare-Lektüre bei Karl Philipp Moritz. In: Karl Philipp Moritz. Text und Kritik 118/119, 1993, S.76-85; Armin Henry Polster: On the Use and Abuse of Reading. Karl Philipp Moritz and the Dialectic of Pedagogy in Late-Enlightment Germany. In: Impure Reason. Dialectic of Enlightment in Germany, hrsg. v. W. Daniel Wilson. Detroit 1993, S. 465-484; Karl Pestalozzi: Anton Reiser als Leser. In: Karl Philipp Moritz. Literaturwissenschaftliche, linguistische und psychologische Lektüren, hrsg. v. Annelies Häcki Buhofer. Tübingen und Basel 1994, S. 115-128, zuletzt Wolfgang Martens: Zur Einschätzung von Romanen und Theater in Moritz’ „Anton Reiser“. In: Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert. Bestandsaufnahme Korrekturen Neuansätze, hrsg. v. Martin Fontius und Anneliese Klingenberg. Tübingen 1995, S. 101-109. Zum Thema Lektüre und Lesergeschichte insgesamt s. Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland. 1500-1800. Stuttgart 1974; Ralph-Rainer Wuthenow: Im Buch die Bücher oder Der Held als Leser. Frankfurt am Main 1980; Lesen historisch, hrsg. v. Brigitte Schlieben-Lange. Göttingen 1985 (LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 15, H. 57/58, 1985); Erich Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800 (1987). Stuttgart 1993; Hartmut Eggert und Christina Garbe: Literarische Sozialisation. Stuttgart und Weimar 1995; Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ,inneren‘ Geschichte des Lesens. Tübingen 1999 (Communicatio. 20).

    [27] Vgl. dazu Foucaults Ordnung der Dinge (Anm. 12); zu Moritz im besonderen s. Sabine M. Schneider: Die schwierige Sprache des Schönen. Moritz’ und Schillers Semiotik der Sinnlichkeit (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft. 231) Würzburg 1998.

    [28] Vgl. Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Bücher: Lesen lernen durch Faszination. Stuttgart 1982, S. 58.

    [29] Jede Lektüre verändere ihren Gegenstand: „Wenn somit ,das Buch ein Resultat (eine Konstruktion) des Lesers ist, muß man die Vorgehensweise dieses letzteren als eine Art von lectio betrachten, als eine dem ,Leser eigene Produktion. Dieser nimmt weder den Platz des Autors noch einen Autorenplatz ein. Er erfindet in den Texten etwas anderes als ihre ,Intention war. Er löst sie von ihrem (verlorenen oder nebensächlichen) Ursprung. Er kombiniert ihre Fragmente und schafft in dem Raum, der durch ihr Vermögen, eine unendliche Vielzahl von Bedeutungen zu ermöglichen, gebildet wird, Un-Gewußtes.“ Michel de Certeau: Kunst des Handelns (frz. 1980). Berlin 1988; hier zit. nach der leicht veränderten Fassung u.d.T. Die Lektüre: Eine verkannte Tätigkeit. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. v. Karlheinz Barck u.a. Leipzig 1991, S. 295-298, 295. Certeaus Zitate beziehen sich auf Michel Charles: Rhétorique de la lecture. Paris 1977, S. 83 und S. 61.

    [30] „Weit davon entfernt, Schriftsteller, also Gründer eines eigenen Ortes oder Erbe früherer Pioniere zu sein, sind Leser Reisende [...]. / Sie [die Lektüre] hat tatsächlich keinen Ort. [...] Ebenso ist es beim Leser: sein Ort ist nicht hier oder dort, der eine oder der andere, sondern weder der eine noch der andere, gleichzeitig innen und außen [...].“ Certeau: Die Lektüre (Anm. 29), S. 297.

    [31] Karl Philipp Moritz: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. In: Werke II (DKV) 107.

    [32] Moritz: Aussichten zu einer Experimentalseelenlehre an Herrn Direktor Gedike. (Bei der Jubelfeier des Werderschen Gymnasiums). Berlin, bei August Mylius 1782, S. 24; hier zit. nach Schneider(Anm. 27), S. 21.

    [33] Auf ganz andere Weise und doch mit demselben Effekt beschreibt Lenz die „idealische Welt“ in seinem Waldbruder-Fragment (1776). Es ist die in in der „wilden taumelnden Einbildungskraft“ eingenistete Medienwelt. Das geht aus Rothes Charakteristik des „von den empfindlichsten Leiden und Plagen“ gequälten Herzens hervor: „Er hat sich nun einmal eine gewisse Fertigkeit gegeben, die seine andere Natur ist, alle Menschen und Handlungen in einem idealischen Lichte anzusehen.“ So verliebt er sich in das „Gegenbild zu dem Ideal [...], das er sich von der Nymphe des Telemachs, den sein Hofmeister mit ihm exponierte“, macht, oder er sehnt sich nach Deutschland zurück, „um aus Goethes oder Wielands Romanen und aus Klopstocks Cidli sich ein Ideal zusammen zu schmelzen, das seinesgleichen noch nicht gehabt.“ Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Waldbruder. In: Ders.: Werke und Briefe, hrsg. v. Sigrid Damm. Bd. 2. München 1987, S. 409f.

    [34] Vgl. dazu auch die 8. und 9. der Vorlesungen über den Stil. In: Werke III 636-647. Zum Komplex der Semiose s. Schneider (Anm. 27).

    [35] Certeau hat das Lesen deshalb vor dem Verdikt der Passivität in Schutz genommen und als eine besondere Form des Handelns beschrieben, eben eine Reiseveranstaltung: „der Leser ist ein Produzent von Gärten, in denen eine Welt zusammengetragen und verkleinert wird; er ist ein Robinson einer zu entdeckenden Insel [...]. Er ist somit ein schwärmerischer Autor. Er hat keinen festen Boden unter den Füßen und schwankt an einem Nicht-Ort zwischen dem, was er erfindet, und dem, was ihn verändert. Mal [...] kommt er vom Weg ab, lacht und landet einen ,Coup [....]. Mal verliert er die fiktiven Sicherheiten der Realität.“ Certeau: Die Lektüre (Anm. 29), S. 297.

    [36] Anonym: Bekenntnisse. Berlin 1782; im selben Jahr zwei weitere Übersetzungen unter dem Titel Geständnisse in Berlin, Riga und Leipzig. Arnold von Knigge gab sie neu in einer vierbändigen Ausgabe, Berlin 1786-1790, heraus. Bereits die zeitgenössischen Rezensionen stellten einen Bezug von Moritz’ „psychologischem Roman“ zu Rousseau her.

    [37] Zum Hintergrund dieser „Separatisten“ (I 85) und zu Johann Friedrich von Fleischbein (1700?-1774) siehe den Artikel von Hans-Jürgen Schrader in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3. 4., völlig neubearb. Aufl. Tübingen 2000. Eine Auswahl von Briefen Fleischbeins, hrsg. v. Johannes Burkardt und Michael Knieriem, wird demnächst im Brunnen-Verlag erscheinen (frdl. Mitt. von Hans-Jürgen Schrader). Neues Material zu Fleischbein und Moritz bringt die von Christof Wingertszahn hrsg. kritische Ausgabe des Anton Reiser (vorauss. Tübingen 2002).

    [38] Vgl. dazu Tzvetan Todorov: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie. Berlin 1996, S. 95-133 (zu Anton Reiser s. S. 101), und Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München 1998.

    [39] Vgl. Michel Foucault: Andere Räume (frz. 1967). In: Aisthesis. Wahrnehmung heute (Anm. 29), S. 34-46, 39.

    [40] Zu Fleischbeins Übersetzungen s. Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 (Palaestra Bd. 283), und ders.: Madame Guyon. Pietismus und deutschsprachige Literatur. In: Jansenismus Qietismus Pietismus, hrsg. v. Hartmut Lehmann u.a. Göttingen 2001 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus). Weiteren Aufschluß verspricht die Ausgabe der Briefe Fleischbeins und die kritische Reiser-Ausgabe (s. Anm. 37).

    [41] Vgl. Rousseaus initiales Bekenntnis seiner Unglücksexistenz („Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück“) und dagegen den Selbstentwurf des Glückskinds Goethe zu Beginn von Dichtung und Wahrheit.

    [42] August Langen hat darauf hingewiesen, daß solche Abstraktionsbildungen Merkmal der aus der Mystik übernommenen Sprache des Pietismus sind; ders.: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954, S. 382-384. Vgl. auch den Kommentar in Werke I (DKV) 1000.

    [43] Dieser im Anschluß an René Girard gebildete Begriff impliziert hier, daß Reiser nicht reden will wie die Mutter; sie hat, liest man den Text autobiographisch, Dialekt gesprochen: „Sein Vater sprach hochteutsch und seine Mutter plattdeutsch“, so die Erinnerungen aus den Jahren der Kindheit, von K.St., hinter dem sich Moritz’ Bruder verbirgt. In: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 8, 1791; zit. nach Karl Philipp Moritz: Die Schriften in dreissig Bänden, hrsg. v. Petra und Uwe Nettelbeck. Nördlingen 1986, Bd. 8, S. 170. Vgl. auch Moritz’ Kommentar zum Differenzen begründenden Code der Büchersprache in seiner Abhandlung Über den märkischen Dialekt: „Jemehr der Dialekt, oder die gemeine Volkssprache [...] von der verfeinerten oder Büchersprache, verschieden ist, desto besser ist es für die letztere, desto reiner und richtiger wird dieselbe gesprochen, weil dasjenige, was sich, aus dem Dialekt, in dieselbe einmischen könnte, viel zu auffällig seyn würde, als daß man es nicht sogleich, als fehlerhaft, aus derselben wieder verwerfen sollte.“ Berlin 1781, S. 15; zit. nach Hartmut Schmidt: Karl Philipp Moritz über Sprache, Hochdeutsch, Berliner Umgangssprache und märkischen Dialekt. In: Karl Philipp Moritz und das 18. Jahrhundert, S. 61-74, S. 68.

    [44] Diese mimetische Aneignung ist, psychologisch gesprochen, die wohl am stärksten gebändigte Form der Aggression gegen den Dritten. Eine andere, nur in der Phantasie oder im Spiel zugelassenene, sind Reisers kriegerische Vernichtungsspiele. Eine dritte Form der Aggression ist das gegen das eigene Selbst gerichtete Melancholiesyndrom. Selbst Reisers Theateromanie, die kreative Übernahme von Rollen, hat die psychische Funktion geschützt praktizierbarer Aggression. Der Simulationsraum der Bühne substituiert zugleich auch den in der sozialen Praxis verweigerten Handlungs(spiel)raum. Deshalb erscheint er dem schauspielerisch unbegabten Reiser so zunehmend begehrenswert. Schrift Spiel Symptom Rolle wären, also die im Roman ausgestellten ,Medien, in denen sich die aus dem familialen Spannungsfeld und dem fehlenden sozialen Integrationsfeld generierten Aggressionen Reisers ihre Ventile suchen.

    [45] Der Text tut das explizit, wenn es heißt: „Dies beständige Hin- und Herschwanken ist zugleich ein Bild von dem Lebenslaufe seines Vaters [...]“ (I 68).

    [46] Bei Reisers schließlichem Verzicht auf eine Universitätskarriere könnte man jenes paradoxale Muster in Betracht ziehen, das Freud in seiner Erinnerungsstörung auf der Akropolis (1936; in: Studienausgabe. Bd. IV, S. 283-293) beschreibt: „Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was unrecht, was von alters her verboten ist. Das hat mit der kindlichen Kritik am Vater zu tun, mit der Geringschätzung, welche die frühkindliche Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesentliche am Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen.“ (Ebd., S. 292) Auch der Aufklärer Freud ist noch darum bemüht, das irritierende Phänomem der ,Grundlosigkeit der Melancholie, die daran gekoppelt ist, epistemisch zu tilgen.

    [47] Zum folgenden Heinrich Bosse: „Die Schüler müßen selbst schreiben lernen“ oder Die Einrichtung der Schiefertafel. In: Schreiben  Schreiben lernen. Rolf Sanner zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Dietrich Boueke und Norbert Hopster. Tübingen 1985 (Tübinger Beiträge zur Linguistik. 249), S. 164-199. Noch 1819 kritisiert der Schellingschüler Johann Baptist Graser die Trennung von Lesen/Buchstabieren- und Schreibenlernen in der Elementarschule: „Der Schreibunterricht steht mit dem Leseunterricht in der engsten Verbindung, so zwar, daß eigentlich der erste den zweiten in sich schließt, und daher der eine den andern auf eine ganz natürliche Weise unterstützt. / Allein die Buchstabirschule ahnet nicht einmal diesen Zusammenhang und ertheilet daher den Schreibunterricht ganz abgesondert von dem Leseunterricht gewöhnlich erst, wann der Leseunterricht etwas voran geschritten ist. / Auch bey diesem wird eben so geistlos, wie beym Leseunterricht verfahren.“ Ders.: Der erste Kindes-Unterricht, die erste Kindes-Qual. Eine Kritik der bisher üblichen Leselehrmethoden und eine nöthige Beilage zu der Elementarschule fürs Leben. Schulaufsehern, Lehrern und Müttern, welche die Kinder lieben und ihre Bildung wollen, zur Beherzigung mitgeteilt. Bayreuth und Hof: Grau 1819, S. 24f.

    [48] Vgl. dazu Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme. 1800/1900. München 1985, S. 54; s. dort a. Herders Kritik. Zur Buchstabiermethode im einzelnen Bosse (Anm. 47) S. 174-184 (mit Hinweisen auf die entsprechenden pädagogischen Quellentexte und Forschungsliteratur). Zur Didaxe von Nebukadnezars Wahnsinnsgeschichte s. Daniel 4,34f.

    [49] Vgl. dazu die auf den Kommentaren und Forschungen von Wolfgang Martens (Stuttgart 1972), Jürgen Jahn (Berlin und Weimar 1973) und Horst Günther (Frankfurt am Main 1981) aufbauenden Erläuterungen der Reiser-Ausgabe von Ernst-Peter Wieckenberg (Leipzig 1987) und zuletzt Heide Hollmer und Albert Meier in Werke I (DKV).

    [50] A[dolph] G[eorg] Kottmeier: Die Oliviersche Lehrmethode ist im Wesentlichen nicht neu. In: Bibliothek der Pädagogischen Literatur. Gotha 1804, S. 107-112, 108. (den Hinweis verdanke ich Heinrich Bosse). Kottmeier (1768-1842) wurde später Domprediger zu Bremen.

    [51] „Der Verf. hat sich nicht genannt: auch ist nirgends die Jahreszahl des Drucks anzutreffen. Aber der Druck selbst, so wie der Styl des Verf. und die von ihm getroffene Auswahl der zu den ersten Leseübungen bestimmten Materialien beweisen offenbar, daß dieß Büchlein der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts [also des 18.] angehört.“ Ebd. S. 108.

    [52] Vgl. dazu u. den Abschnitt „Leseversagen“.

    [53] Zitat aus dem Lesebüchlein (Anm. 50), S. 109.

    [54] Ebd.

    [55] Ebd. S. 111. Die Diktion klingt pietistisch.

    [56] Ebd.

    [57] Noch Graser unterstellt, daß diese Schullehrer, auch wenn sie „einen Bildungskurs im Seminar genossen“ hätten, „nur zu der Klasse der Halbgebildeten“ gehörten, und daß diese Art des Leseunterrichts sie von der Vorbereitung befreie: „Wenn er auch des Morgens so eben der Federhülle entwunden, und nothdürftig bekleidet, in die Schule tritt, so vermag er sein Geschäft eben so leicht zu betreiben, als der Professor, der sich Stunden lang auf eine Vorlesung vorbereitet; denn das A B C, bleibt immer dasselbe, so wie das Buchstabiren und Syllabiren immer denselben Gang behält.“ Graser (Anm. 47), S. 22f.

    [58] Die Titelliste bei Johann Samuel Ersch: Bibliographisches Handbuch der philologischen Literatur. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis auf die neueste Zeit. 3. Aufl. Leipzig 1845 (Reprint Darmstadt 1974), nennt eine Fülle von (Lese-)Lehrbüchern im frühen 19. Jahrhundert. Sie zeigt, daß die Lautiermethode um sich greift; einige Lesebücher bieten noch beide Methoden parallel. Verboten wurde die alte Technik erst durch die Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872 mit dem Satz: „Die Buchstabiermethode ist ausgeschlossen“. (Wilhelm Sieverts: Die begriffliche Methode im Leseunterricht). Leipzig 1903, S. 50. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß die rückwirkende bibliographische Ermittlung von Schulbüchern immer schon schwierig war, kann man vermuten, daß die Fülle der Titel bei Ersch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts nicht nur mit seiner Zeitgenossenschaft, sondern auch objektiv mit der explosionsartigen Zunahme von Lesebüchern durch die neue Methode zu tun hat. Zur historischen Darstellung und Kritik der Buchstabiermethode s. Graser (Anm. 47), S. 11, 31, 46.

    [59] „Nachsinners Lesekunst, in welcher das hinderlichfallende und zornerweckende Buchstabiren aus dem Wege geräumt und ein bequemer Weg zum Lesen gezeiget wird wird“ (Joh. Friedr. Regelein: Büdingen 1735; 2. Teil u.d.T.: Nachsinners Lese-Kunst, zweytes Stück, bestehend in bequemen Handleitungen für Lernende), nennt auch Johann Julius Hecker in seinem Schulprogramm Ob das Buchstabiren zum Lesenlernen nöthig sey? Geschrieben zu Berlin den 7ten April 1750 (in: Briefwechsel einiger Schullehrer und Schulfreunde. Hg. von B.C.L. Natorp. Bd. III, Duisburg 1816, S. 300-311). Hecker verwirft die nur unter „Verläugnung des Verstandes“ (ebd. S. 304) praktizierbare und deshalb ineffiziente Buchstabiermethode und beruft sich über „Nachsinners Lesekunst“ hinaus auf die beiden Initiatoren der Antibuchstabiermethode: „Die Methode, ohne Buchstabiren das Lesen zu erlernen, hat, was unsere Sprache anbetrifft, soviel wir wissen vor dem Prediger in Barby Herrn Ernst Bogislaus Ventzky keiner bekannt gemacht; welcher zu der Zeit, da er noch als Rector in der Barbyschen Schule arbeitete, die ersten Proben davon in seinem in Erfurt gedruckten sogenannten erleichterten Lesebüchlein dargeleget, darinnen gezeiget wird, wie man einem das Lesen ohne lautes Aussprechen der stummen Buchstaben und ohne Buchstabiren leicht und bald beybringen könne. [Erfurt um 1722] [...] Nachher hat einer, dessen Name mir nicht bekannt geworden, ein Büchlein (...) herausgegeben, welches er nennt, Nachsinners Lesekunst [...] Imgleichen hat Herr Pastor Christian Wilhelm Bäsecke in Burg einige Bogen ohne Titel und Anweisung vermuthlich zu eben dem Zweck drucken lassen.“ (ebd. S. 302) Nach Hecker bezeugt auch die Praxis die Vorteile der „Ventzkyschen Methode“, welche er im Detail vorstellt: Im „königlichen großen Potsdamschen Waisenhause hat man ganzer zwölf Jahre nach einander das Lesen den meisten Kindern auf diese Art beygebracht [...]. Im Jahre 1737 wurde sie, nicht weil die BuchstabirLesemethode leichter, besser oder vortheilhafter wäre, sondern aus andern Nebenursachen wieder abgeschaffet.“ (ebd. 306) Nun würde man gerne etwas über diese „Nebenursachen“, die sich vermutlich in Form von Personen konkretisieren lassen, wissen... Die Debatte zeigt zumindest soviel, daß die frühen Reformvorschläge erst am Ende des Jahrhunderts greifen und daß Anton Reisers Lesesozialisation zwischen den Stühlen verläuft.

    [60] Johann Heyse: Theoretisch-praktische deutsche Grammatik oder Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen Sprache : zunächst zum Gebrauch für Lehrer und zum Selbstunterricht. 3. verb. Aufl. Hannover 1822, S. 81.

    [61] Nach der zeitgenössischen Definition Grasers ist Lesen „das Vernehmen der Rede eines andern in schriftlicher Sprache“. Graser (Anm. 47), S. 74.

    [62] So heißt es z.B. „Diese Lieder [der Mme Guyon] gab ihm nun sein Vater, da er ihn reif genug zu dieser Lektüre hielt, in die Hände, und ließ sie ihn zum Teil auswendig lernen.“ (I 46) Vgl. dagegen die ganz andere Methode Julies in der Nouvelle Héloise, wenn sie ihrem Sohn Geschichten erzählt und die Neugier des Kindes, das Ende von abgebrochenen Geschichten kennen zu wollen, benutzt, um den Wunsch nach selbsttätigem Lesen zu motivieren. Auswendiglernen verwirft sie und vertraut etwa bei Gebeten, die sie selbst regelmäßig spricht auf das Lernen durch Vorle(b/s)en, d.h. der aufforderungslosen Imitation (Jean-Jacques Rousseau: Julie oder die Nouvelle Héloïse (frz.1761). München 1988, S. 610ff.). Dasselbe pädagogisch kalkulierte Spiel propagiert auch Basedow (Johann Bernhard Basedow: Kleines Buch für Eltern und Lehrer aller Stände. Erstes Stück. Zur Elementarischen Bibliothek gehörig. Leipzig 1771); vgl. Bosse (Anm. 47), S. 177.

    [63] Vgl. dazu Georg Franck (Anm. 38), S. 18. Bei Reisers ,Wunschrolle des Clavigo ist später derselbe Mechanismus am Werk.

    [64] Wieckenberg vermutet, daß Gottfried Arnolds Vitae Patrum Oder Das Leben Der Altväter und anderer Gottseeligen Personen (1700) gemeint sind: „Die Schriften Arnolds, eines der großen Gegner des orthodoxen Luthertums, ja des ganzen verfaßten Kirchentums, hatten einen mächtigen Einfluß auf alle separatistischen Bewegungen. Arnolds besondere Ver­ehrung galt den großen Einsiedlermönchen des Orients.“ Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Leipzig 1987, S. 418. – Auch Moritz’ Vater berichtet von dem Wunsch nach imitatio: „wenn ich damals [nach dem Tod seiner ersten Frau. U.R.] das Leben der Altväter in der Wüste zu lesen gehabt hätte, so würde ich denselben alles nachgemacht haben.“ ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ (Anm. 43), Bd. 8 Teil 2, S. 146.

    [65] Vgl. Jeanne Marie Bouvière de la Motte Guyon: Poésies et cantiques spirituels [...]. 1704 u.ö. (mehrfach ins Dt. übersetzt), und dies.: L’Ame amante de son Dieu (dt. u.d.T.: Die ihren Gott liebende Seele: vorgestellet in den Sinn-Bildern des Hermanni Hugonis über seine pia Desideria; Mit Versen die auf das innere Christentum zählen. Nach der zu Regenspurg in Teutsch ausgekommenen Übersetzung des französischen in Lieder gebracht. Schaffhausen, J.G. Seiler 1728). Fleischbein hatte übersetzt [anonym]: Poetischer Versuch einiger geistlicher Gesänge aus der Madame Guion Cantiques Spirituels ausgezogen, paraphrasirt und in teutsche Oden gebracht. Gedruckt im Jahre 1744. Fünf Fortsetzungen dazu erschienen zwischen 1745-1764. Vgl. dazu Anm. 40.

    [66] Die quietistischen Schriften Mme Guyons wenden sich an den einfachen Menschen, der im Gebet denselben Status (,état) erreichen kann wie jeder andere: „Es geht also darum, das Beten zu erlernen, [...] das Prinzen, Könige, Prälaten, Priester, Beamte, Soldaten, Kinder, Handwerker, Arbeiter, Hausfrauen und Kranke ausüben können.“ Jeanne-Marie Guyon: Kurzer und sehr leichter Weg zum Inneren Gebet. In: Emmanuel Jungclaussen: Suche Gott in dir. Der Weg des inneren Schweigens nach einer vergessenen Meisterin Jeanne-Marie Guyon. Freiburg/Basel/Wien 1986, S.47-120, 52f. Guyon schließt ihren Leitfaden mit den Worten: „Wie blind sind die meisten Menschen! Sie halten so viel auf ihren Geist und Verstand. Doch du, mein Gott, hast deine Geheimnisse ,den Großen und Klugen verborgen, den Kleinen aber offenbart (Mt 11,25)“. (ebd. S. 120) Man kann vermuten, daß Reisers Vater seinen Sohn zunächst so unterrichtet hat, wie es die Anweisungen für die, die nicht lesen können von Mme Guyon vorsehen: „Zuerst müssen sie eine Grundwahrheit lernen, nämlich, daß das Reich Gottes in ihnen ist und daß sie es da suchen müssen (Luk 17,21) [...]. Man lasse die Sinneskräfte sich nicht nach außen ausbreiten, sondern halte sie so gut wie möglich gefangen und unterworfen. / Alle sollen das Vaterunser in ihrer Muttersprache sprechen, weil sie dann eher verstehen, was sie sagen, und daran denken, daß Gott, der in ihnen ist, wirklich ihr Vater sein will. Wenn sie soweit sind, mögen sie ihn um das bitten, was sie brauchen. Nachdem sie das Wort ,Vater ausgesprochen haben, sollten sie einige Augenblicke in großer Ehrfurcht schweigend verharren in der Erwartung, daß der himmlische Vater ihnen seinen Willen zu erkennen gebe. – / Ein andermal kann der Christ sich als beschmutztes, durch sein häufiges Fallen geschwächtes Kind betrachten, das von sich aus weder die Kraft hat, sich aufrecht zu halten, noch rein zu werden. Dann biete er sich demütig und beschämt seinem Vater dar, füge zuweilen ein Wort der Liebe und der Reue ein und verbleibe im Schweigen. / Wenn er dann im Vaterunser fortfährt, bitte er diesen König der Herrlichkeit, in ihm zu herrschen. Er überlasse sich ihm, damit Gott an ihm handle und übertrage ihm somit die Rechte, die ein Mensch über sich selbst hat.“ Ebd., S. 58.

    [67] Auch bei Mme Guyon gibt es – konfliktträchtige – Lesevorschriften. Zum „inneren Gebet“ führen zwei Wege, die „Betrachtung“ und das „betrachtende Lesen“: „Betrachtendes Lesen ist nichts anderes, als sich einige entscheidende Wahrheiten vorzunehmen, sei es, um sie zu bedenken, oder um sie praktisch zu vollziehen [...]. Das geht folgendermaßen: / Ihr nehmt euch eure Wahrheit vor, jene, die ihr wählen wollt, und lest dazu ein, zwei oder drei Zeilen, um sie zu verarbeiten und zu verkosten. Bemüht euch, ihren Saft aufzunehmen, und verweilt an der Stelle, die ihr lest, so lange, wie ihr Geschmack daran findet, und geht ja nicht eher weiter, als bis diese Stelle für euch nichts mehr hergibt. / Danach könnt ihr euch wieder ein solches Stück vornehmen und dasselbst tun, aber lest nie mehr als eine halbe Seite auf einmal. / Es ist nicht so sehr die Menge der Lektüre, die Nutzen bringt, als vielmehr die Art des Lesens. [...] Das Viellesen ist mehr Sache der Schulweisheit und nicht der Mystik. [...] ich bin sicher, wenn man es auf diese Art macht, wird man sich nach und nach durch das Lesen an das Beten gewöhnen und gut dafür vorbereitet sein.“ Guyon: Kurzer und sehr leichter Weg zum inneren Gebet, zit. nach Jungclaussen (Anm. 66), S. 54.

    [68] Wenn alle individuellen Wünsche und Phantasien ,abgetötet sind, entsteht ein Leerraum für das göttliche Wort. Dies nun wird, nach dem Sündenfall des Verlusts des göttlichen (Spiegel-)Bildes im Inneren des Menschen, zum Medium der Offenbarung: „Gott schuf alle Dinge für den Menschen; aber den Menschen schuf er für sich. Gott schuf ihn nach seinem Ebenbilde, d.h. er zeichnete in ihm sein Bild ab, nämlich seinen Sohn, das Wort, und drückte ihm seinen Geist ein [....]. Dies war dann der Endzweck der Schöpfung, daß Gott in allen Menschen Ebenbilder seines Wortes machen wollte, in welchen die Gottheit ausgedrückt war und welche dieselbe darstellen könnten, gleichwie ein reines Spiegelglas den Gegenstand darstellt, den man davor setzt. / Da aber der Mensch durch die Sünde dies schöne Bild verdorben hat, so war der Endzweck der Erlösung, daß Gott, der nicht leiden konnte, daß diese Menschen, in welchen einmal dies Bild eingegraben war, sollten verlorengehen, sein Wort sandte, um dieses Bild wiederherzustellen; denn allein dieses Gott-Wort konnte sich selbst wieder abzeichnen [...]. Je mehr dies Wort in einem Menschenleben seinen Ausdruck finden kann, desto mehr ist eine solche Seele heilig“. Auszug aus einer „geistlichen Rede“ Guyons; zit. nach Jungclaussen (Anm. 66), S. 34f.

    [69] Der behütete, pietistisch erzogene Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) nimmt sich mangels Spielkameraden Jesus zum Gesprächspartner: „So bin ich viele Jahre kinderhaft mit ihm [Jesus. U.R.] umgegangen, habe stundenweise mit ihm geredt, wie ein freund mit dem andern [...]. In dem Gespräch nur mit Ihm war ich selig.“ 3.9.1758, Büdingsche Sammlung I, zit. nach Loch (Anm. 4), S. 156.

    [70] Der Pietismus beargwöhnt Spiele; sie gehören zu den „Adiaphora“, den Mitteldingen, von denen (wie bei Musik und Tanz) nicht ganz klar ist, ob sie Gott gefällig sind.

    [71] Die Lebensgeschichte vom Jesuskind galt im Umfeld des Pietismus als bestmögliches Vorbild für die Jugend, vgl. etwa: Das Holdselige und über alles Liebenswürdige JEsus=kind in Seiner blühenden Jugend, den lieben Kindern nicht allein als das allervollkommenste Exempel und Vorbild, Dem sie nachfolgen sollen, sondern auch als die allerreichste Quelle, Daraus sie zur wirklichen Nachfolge nehmen können Gnade um Gnade, angewiesen und gepriesen von Tobias Eisler. Zum andernmal gedruckt 1737. Die Aufforderung zur Imitatio Christi wendet Reiser in eine spielerische performance. Zum Exempel s. Cornelia Niekus Moore: Gottseliges Bezeugen und frommer Lebenswandel. Das Exempelbuch als pietistische Kinderlektüre. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung (Anm. 4), S. 131-142, 134f.

    [72] Deshalb greift der pauschale, in der Forschung vielfach vorgetragene, von Wolfgang Martens zuletzt noch einmal wiederholte Befund über Reisers Lesesozialisation zu kurz: „All das besagt: Umgang mit Dichtung führt zu Realitätsverlust und Selbstverlust“. Martens (Anm. 26), S. 104.

    [73] Peter Lauremberg: Acerra philologica. Das ist: Sieben Hundert Auserlesene nützliche lustige und denckwürdige Historien und Diskursen aus den berühmtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammen getragen; Darinn zu finden Die meisten Gedichte der Poeten von Göttern und Göttinnen: Die führnehmsten Geschichte der alten Römer und Griechen: Etliche gebräuchliche Sprichwörter: Unterschiedliche natürliche Dinge: Allen Liebhabern der Historien zur Ergetzung: Insbesonderheit der studirenden Jugend zu mercklicher Übung und Wissenschafft beförderlich. Mit Churfürstl Sächs. Privelegio. Franckfurt und Leipzig. 1694. Von diesem Jugendklassiker erschienen seit seinem Erstdruck 1633 zahlreiche Nachdrucke und Varianten.

    [74] François de Salignac de la Mothe Fénelon: Die Abenteuer des Telemach. Aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Rückert. Mit einem Nachwort hrsg. v. Volker Kapp. Stuttgart 1984.

    [75] Ebd., S. 68-70.

    [76] Und es fällt auch nicht besonders schwer, Telemachs Geschichte von der Befreiung aus dem mehr angst- als lustvoll erlebten Reich der Venus und die Sehnsucht nach einem souveränen Beschützer als eine homoerotische Männerphantasie zu lesen.

    [77] „Und um uns ward’s Elysium“ ist der Schlußvers von Klopstocks 1753 entstandener, 1762 erstmals publizierter Rosenband-Ode.

    [78] Um dem vorzubeugen, stellt Moritz in seiner Götterlehre prinzipiell klar, daß die „mythologischen Dichtungen [...] als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden [müssen]. Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhang der wirklichen Dinge herausgehoben.“ Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. Bremen o.J., S. 7. Vgl. dazu auch das Bücherwelt-Zitat (Anm. 31).

    [79] Vgl. Aleida Assmann: Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele. In: Lili 15, 1985, S. 95-110, 100.

    [80] Der höfisch-historische Barockroman von Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen Die Asiatische Banise, Oder Das blutig-doch muthige Pegu/ Dessen hohe Reichs-Sonne bey geendigtem letztern Jahr-Hundert an dem Xemindo erbärmlichst unter- an dem Balacin aber erfreilichst wieder auffgehet (...) alles in Historischer/ und mit dem Mantel einer annehmlichen Helden und Liebes-Geschichten bedeckten Wahrheit beruhende (...). Leipzig 1689 (Vollständiger Text nach der Ausgabe von 1707 unter Berücksichtigung des Erstdrucks von 1689. Mit einem Nachwort von Wolfgang Pfeiffer-Belli. München 1965) wurde bis 1764 fünfzehnmal wiederaufgelegt. Zur Rezeption vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Teil 1. Tübingen 1988 (Hermaea. 55), S. 25-73. Es scheint, als wenn das Auslaufmodell des höfisch-heroischen Romans mit diesem auf theatralische Effekte setzenden Text noch einmal triumphiert.

    [81] Zum Vorschlag, die kindliche Lesesozialisation nach psychischen Funktionen, in die Typen des „symbiotisierenden“ und des „ödipalisierten Lesens“, zu unterteilen s. Rüdiger Steinlein: Die domestizierte Phantasie. Studien zur Kinderliteratur, Kinderlektüre und Literaturpädagogik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1987; zusammenfassend Eggert und Garbe (Anm.26), Stuttgart und Weimar 1995, S. 97-100.

    [82] Dies ist auch die Grundlage von Reisers Theatromanie, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann: „Sein höchstes Glück aber war nun einmal der Schauplatz; denn das war der einzige Ort wo sein ungenügsamer Wunsch, alle Szenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befriedigt werden konnte. / Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre, die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. [...] / Es war also kein echter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Szenen des Lebens in sich, als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.“ (I 336)

    [83] Denn auch sie verbindet narzißtische Inszenierung und sozia­les Rollenspiel, was bedeutet, daß auch die von den Müttern gestifteten „verbotenen Bücher“ – wie könnte es anders sein – eine väterliche Ordnung repräsentieren und reproduzieren. – Johann Gottfried Schnabel, der Schüler in den Franckeschen Stiftungen war, hat nicht zuletzt auch das theologisch-religiöse Konzept des frühen hallischen Pietismus in seinen Roman übernommen. Vgl. Juliane Jacobi: Der Blick auf das Kind. Zur Entstehung der Pädagogik in den Schulen des Halleschen Waisenhauses. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung (Anm. 4), S. 47-60, 52.

    [84] Später werden die Gefahren klar: Die Lektüren stiften zwar Vorbilder und mobilisieren Energien, andererseits droht die auktoriale Selbstauslöschung im Plagiat („vor dem Plagiat hatte er die entsetzlichste Scheu“; I 269).

    [85] Daß seine ,literate Kompetenz von den Eltern bestätigt wird, läßt eine Kindheitserinnerung von Moritz’ Bruder vermuten. Der wollte zunächst „Laufer vor einer Kutsche“, dann Kuhhirte und schließlich Schulmeister werden: „Diese Idee, ein Schulmeister zu werden, verdrängte also die Idee, ein Kuhhirte zu werden, und das umso stärker, da sie sowohl bei seinen Eltern, als auch bei seinem Lehrer den größten Beifall erhielt.“ ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ (Anm. 43), Bd. VIII, S. 168.

    [86] Eremitisch-apostolische Weltenthobenheit (Paulus, Antonius) und der wie „Abrahams Schoß“ bergende Schutzraum der Bibliothek bilden ein Gegenmodell zu Reisers Familie wie auch zu Fleischbeins „kleiner Republik“. Tischer, diese große Gestalt, kommuniziert, obwohl abgesondert, zugewandt und warm: „Das Alter hatte ihn nicht danieder gebückt, er war ein langer Mann, und sein Ansehn war groß und majestätisch. Die schneeweißen Locken zierten seine Schläfe, und aus seinen Augen blickte eine unnennbare sanfte Freundlichkeit hervor.“ (I 64)

    [87] Als möglichen Grund vermutet Reiser, daß der Schreibmeister „einige Nachlässigkeit in Antons Schreib- und Rechenbuche [hatte] passieren lassen, worüber sein Vater aufgebracht war“ (I 66); ein anderer wäre Reisers geplante Lehre bei Lobenstein in Braunschweig (I 70).

    [88] „Er griff also zu einem Mittel, sich den Abschied aus dieser Schule leichter zu machen, das man einem Knaben in seinem Alter kaum hätte zutrauen sollen. Anstatt, daß er sich bemühete, weiter heraufzukommen, tat er das Gegenteil, und er sagte entweder mit Fleiß nicht, was er doch wußte, oder er legte es auf andre Weise darauf an, täglich eine Stufe herunterzukommen, welches sich der Konrektor und seine Mitschüler nicht erklären konnten [...] / Anton allein wußte die Ursache davon und trug seinen geheimen Kummer mit nach Hause und in die Schule.“ (I 65)

    [89] Vgl. Graser (Anm. 47), S. 72.

    [90] Zur ,Sprechmusik dieser mechanischen Übungen s. Bosse (Anm. 47), S. 181. – Heyse bemüht im entsprechenden Abschnitt seiner Grammatik („Von den Buch­sta­ben und deren richtiger Aussprache“) vielfach die Metaphorik der Musik, um auf die notwendige Schulung der „Sprachwerkzeuge“ und des Gehörs hinzuweisen. Er beruft sich dabei auf einen ungenannten „große[n] Kenner“, der angesichts des großen „Wohllauts“ der deutschen Sprache bedauere, „,wie unverantwortlich man in den allermeisten Schulen dagegen sündigt. – Die Hauptsache ist; daß der Lehrer selbst gut und schön spreche; daß die Kinder Mund und Ohr an eine reine Sprache gewöhnen; daß jeder Fehler gegen die gute Aussprache sogleich verbessert, und daß unter den Kindern selbst ein Wetteifer im reinen und richtigen Sprechen erregt werde.“ Über Vorbild, Konditionierung, Kontrolle und Konkurrenz soll die neu entdeckte Artikulation in den Unterricht eingeführt werden. Die Begründung bringt allerdings den ideologischen Impetus zum Vorschein: „Gewöhnlich wird in deutschen Sprachlehren dieses Capitel von der richtigen Aussprache der Buchstaben übergangen, weil man dasselbe für geborne Deutsche nicht für nöthig erachtet. Daher mag es gekommen seyn, daß mancher Deutsche seine Muttersprache, ungeachtet eines darin enthaltenen wissenschaftlichen Unterrichts, unreiner und schlechter ausspricht, als der darin unterrichtete Fremde.“ Heyse (Anm. 60), S. 77-106, 77.