Ursula Renner: "Die Zauberschrift der Bilder". Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg 2000.

Textausschnitt

 

 

 

                                                                                                                           Ich bin ein Dichter, weil ich bildlich erlebe.

                                                                                                                                                       Hugo von Hofmannsthal

 

                                                                                                             poetische Sprache ... Bilder von Bildern von Bildern

                                                                                                                                                                      Fritz Mauthner

 

                                                                           Die >schöpferische< Phantasie kann ja über­haupt nichts erfinden, sondern

                                                                                                               nur einander fremde Bestandteile zusammensetzen.

                                                                                                                                                                   Sigmund Freud[1]

 

 

 

                                                              I Einleitung

 

“Es ist töricht zu denken, daß ein Dichter je aus seinem Beruf, Worte zu machen, herausgehen könnte”, stellt Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) in einem seiner frühen Aufsätze unumwunden klar. Mögliche Einwände nimmt er gleich selbst vorweg: gerade in Goethes Farbenlehre gehe es darum, “die geheimnisvolle Sprache aufzuschließen, in der die Natur zu bekannten, zu unbekannten, zu verkannten Sinnen redet.” Für Hofmannsthal hat insbesondere die Poesie die Aufgabe, eine solche Semiotik der Sinne zu stiften. “‘Fühlen ist Kunst, nicht Natur, und die Lehrerin in dieser Kunst ist vor allem die Poesie‘”, zitiert er Alfred Freiherr von Berger (RA I 233). Soweit wäre Hofmannsthal Epigone einer klassisch-romantischen Tradition, sähe er sich nicht mit dem Problem konfrontiert, daß das Worte-Machen hoch belastet ist. Die zu Redeordnungen verkommene Sprache kann Erlebnisse und Gefühle weder mehr generieren noch auch kommunizieren. In dieser Falle steckt Hofmannsthal, wenn er die ,schweigenden Künste‘ für einen poetischen Diskurs der Unbegrifflichkeit zu nutzen sucht. Sie begründet den Konnex von Sprachskepsis und Intermedialität in seinem Werk. Nicht erst mit dem legendären Chandos-Brief, wie die Forschung zumeist behauptet, sondern bereits seit seinen frühesten Publikationen Anfang der neunziger Jahre fragt Hofmannsthal, was der (Begriffs-)Sprache - für Nietzsche die "Begräbnisstätte der Anschauung"[2] – entgegengesetzt werden kann, wenn Psychisches, das Suchprogramm des 19. Jahrhunderts,[3] kommuniziert werden soll. Eine Antwort findet er im nonverbalen Zeichensystem der bildenden Kunst. Wie die bedeutungsimprägnierten und deutungsoffenen Träume können auch die materiellen Bilder Zeugnis ablegen von den "subjektiven Wahrheiten"  der Seele.[4] Nicht daß sie vermeintlich mimetisch abbilden, ist ihr Vorzug, sondern daß sie etwas von der Tiefendimension des Lebens an die Oberfläche bringen. Bilder, weil Medien, "transponieren" das "Leben" und machen anschaulich, "was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert." (RA III 400)[5] Sie vermitteln und reduzieren diese Komplexität zugleich indem sie eine Gestalt bilden. Plinius' Bildtheorie hatte es bündig formuliert: "Die Frage über den Ursprung der Malerei ist ungeklärt [...], alle jedoch sagen, man habe den Schatten eines Menschen mit Linien nachgezogen."[6]

Biographisch, soviel sollte einleitend wenigstens erwähnt werden, gehört Hofmannsthal zu jenen Autoren der Jahrhundertwende, für die bildende Kunst selbstverständlicher Teil ihrer Umwelt und Erziehung war. So überrascht es nicht, daß der junge Autor sich anfangs neben literarischen Besprechungen auch mit Kunst- und Ausstellungskritiken zu Wort meldet. Und zwar nicht als Experte[7] oder Multiplikator akademischer Urteile, wie sie das 19. Jahrhundert seit der massenhaften Einrichtung von Museen und öffentlichen Ausstellungsstätten ausgebildet hatte, sondern als Agent einer neuen Wahrnehmung von Kunst. Hofmannsthal sucht ästhetische Erfahrung  nicht an die Wissensdiskurse seiner Zeit anzuschließen, sondern sie für eine Kommunikation über sinnliches Erleben fruchtbar zu machen. Es geht ihm einerseits um eine Opsis, die neue Dinge sehen will, wie in den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, andererseits und vor allem aber um ein Schauen, das Dinge neu sieht - und darin den Menschen etwas von sich selbst begreifen läßt.[8]

,Erleben‘ setzt – anders als das Lernen - einen konkreten Umgang mit den Gegenständen voraus. Da dieser im Falle Hofmannsthals über Erbe und Besitz zustande gekommen ist, ergibt sich ein Zwiespalt, den eine autobiographische Notiz aus dem Jahre 1904 dokumentiert:

 

"Aufeinanderfolgende Generationen. - Die zärtliche Liebe meines väterlichen Großvaters zu seinen kleinen Besitztümern: den Bildern, die er auf dem Mailänder Markt zusammengekauft hatte, chinesischen Vasen, alten Stoffen, Schnitzereien, dem ganzen Inhalt des Glaskastens. Er war der Erwerber dieses ganzen Gewebes von Gefühlen, Begierden, Zärtlichkeiten, Behaglichkeiten. Mein Vater erbte dieses Ganze und trug es in sich noch verschönert durch die Erinnerung an seinen Vater. Er ging abends in der Wohnung auf und ab, hob die Lampe zu dem und jenem Bild, ließ die tiefen Farbentöne aufleuchten, den alten geschnitzten Rahmen flimmern; stand in der Tür und sah auf den Glaskasten hin, durch dessen gebogene Scheiben von Marienglas die kleinen Dinge aus Porzellan und Email, die Ketten und Dosen ihre Reflexe warfen. In mir ist dies alles auch, zum zweitenmal vererbt: ich kann zuweilen die Dinge mit dieser Zärtlichkeit ansehen: die Blattpflanzen im Stiegenhaus [...] und darüber die Töne der gedunkelten alten Familienporträts in ihren verjährten Rahmen; die kleine Meißner Teekanne auf dem Gesims des alten bemalten Ofens; die Stiche an den Wänden; die Reihen der Bücher nebeneinander in ihren verschiedenen Einbänden; ich kann mir manchmal wünschen, sie zu vermehren, ein Zimmer einzurichten mit Empiremöbeln, viel Porzellan und guten Stichen, oder die in der Familie verstreuten alten Bilder zurückzukaufen, und vieles dergleichen in meiner Hand zu vereinigen: aber...". (RA III 457f.)[9]

 

An den Besitz von Kunst sind für den Erben unterschiedliche, komplex verschränkte  Erfahrungsmodi geknüpft: der des Übernehmens, des Sammelns und Vermehrens; der der Sensibilisierung und des Genießens, aber auch der Substitution von Gefühlen. So bricht Hofmannsthals Genealogie am Ende geradezu ein: Das "aber..." weist auf eine Ambivalenz, die mit dem Besitzen von Kunstwerken - lustvoll genossene Fülle und historische Bürde - verbunden ist. Der Leerstelle des Abbruchs (rhetorisch eine wirkungsvolle Aposiopese) könnte als unterdrückter Einwand jene frühe "Empfindung" eingeschrieben sein, "als hätten uns unsere Väter [...] und Großväter [...] uns, den Spätgeborenen, nur zwei Dinge hinterlassen: hübsche Möbel und überfeine Nerven", wobei die "Poesie der Möbel [...] als das Vergangene, das Spiel dieser Nerven als das Gegenwärtige" erscheint (RA I 174).

Die bildende Kunst ist für Hofmannsthal das Medium, in dem er, mehr noch als im eigenen der Literatur, Bedingungen der Kreativität, der kulturellen Transformation mentaler Bilder und der Semiose bedenkt. Sie ist zugleich - womöglich wegen der zitierten Ambivalenz - ein Lebensthema Hofmannsthals, das Freundschaften und Beziehungen, etwa zu dem Maler und späteren Schwager Hans Schlesinger, zu Richard Beer-Hofmann und Hermann Bahr, später zu Sammlern wie Harry Graf Kessler, Eberhard von Bodenhausen, Alfred Walter Heymel, Julius Meier-Graefe oder zu dem Rodauner Nachbarn Benno Geiger, bestimmt. Die ”Möbelträume” und ”Möbelpoesie” in seinem Tagebuch sind nicht nur Phantasien eines in ästhetisch anspruchsvollem Ambiente großgewordenen Einzelkindes, sondern ebenso Zeugnisse eines hochsensiblen Augenmenschen, dessen libido videndi ergreift, was ihn umgibt. So ist die Hingabe, mit der Hofmannsthal das seit seiner Hochzeit bewohnte Rodauner Fuchsschlössl einrichtet,[10] mehr als nur die Dekoration eines architektonischen Schmuckstücks aus dem 18. Jahrhundert. Sie ist ein symbolischer Akt der Selbstverortung. In einem Brief von 1901 bittet er seinen Schwager Hans Schlesinger von Venedig aus,

 

"in dem lieben kleinen Haus mit allem frei und ohne andere Rücksicht als Deinen Geschmack umzugehen. - Wenn mein Zimmer etwas leer aussieht, so ist mir das ein gar nicht unsympathischer Gedanke. Es deutet eine doch noch in den Anfängen stehende Existenz an, und allmählich sollen sich die Wände füllen, so wie die Büchergestelle, und wie auch mein Dasein unter den Menschen erst allmählich Fülle für das Auge der Menschen gewinnen muß. / Von Büsten ist folgendes zur Verfügung und hoffentlich heute schon hinausgeschafft [von Wien nach Rodaun. U.R.]: die 2 Messerschmidtköpfe, nach meinem Gefühl doch ins Stiegenhaus gehörig, der polychrome Donatello und der Kopf des Schlafgottes mit dem Flügel: wenn Du den ein bißl anstreichen würdest, das hab' ich mir immer gewünscht, etwa den Flügel mit einem schönen Blau und sonst das Gesicht mit leisen Farben. In meinem Zimmer wäre vielleicht recht schön, wenn man den Rodin und den Lorbeerbaum unterbringen könnte und vielleicht hinter jedem an die Wand ein kleines Stück Stoff von märchenhaft schöner Farbe. Wenn Du die Mantegna-Kopie einstweilen hier läßt, hätte ich sie auch im jetzigen Zustand sehr gern in meinem Zimmer." (B I 334f.)

 

Von der Literatur einmal abgesehen, erfährt kein anderes Medium diese Aufmerksamkeit, keines wird bei Hofmannsthal so häufig erwähnt wie die bildende Kunst.[11] Zeugnisse dafür sind seine frühen Aufsätze und Rezensionen, selbstredend die Ausstellungsbesprechungen[12] und seine Einleitungen zur Tänze-Mappe des Weimarer Malers Ludwig von Hofmann (1905) und zu den Handzeichnungen aus der Sammlung Benno Geiger (1920), sein Vortrag im Hause des Grafen Lanckoronski (1902), die Reiseprosa,  viele  Briefpassagen und Tagebuchnotizen. [13]

Aber nicht die Biographie eines Autors als Kunstliebhaber und -sammler steht hier zur Diskussion, sondern die Funktion von bildender Kunst in seinen Texten. Schon der zeitgenössischen Kritik fielen die intermedialen Grenzgänge von Hofmannsthals Dichtung auf:

 

"‘daß Poesie und Malerei einander neigen‘ [...] Das liebt auch Hofmannsthal. Daher schreibt er über die Idylle >>Nach einem antiken Vasenbild, Schauplatz im Böcklinschen Stil<<. / Daher weckt er gern Assoziationen bildlicher Erinnerungen [...] Daher die Angabe: Zur Zeit der großen Maler. / Daher, erweiterten Sinnes, die artistische Freude, bestimmten Kunststil im Gewand der Werke durchzuführen und damit mancher­lei Bildungs-Resonanz zu wecken. Daher Prologe; die Etiketten: Moralität, Zwischenspiel; die Bezeichnung: dramatis personae.

Auch in manchen Requisiten glaube ich ähnliches zu sehn. In Madonna Dianora scheint das äußere Motiv der Balkonscene, des Ammengespräches, der Strickleiter bewußt shakespeareähnlich gewählt, um dadurch die Illusion des Renaissancespiels durch mitklingende Begleitvorstellungen zu verstärken".[14]

 

Auch Hofmannsthals Universitätslehrer, der spätere Hamburger Dramaturg Alfred Freiherr von Berger, betont diese Tendenz zur medialen Transgression. Hofmannsthal habe die "durch sprachliche Künste von Malern geerntete neue Schönheit auch in die von der poetischen Phantasie entworfenen Bilder hinübergezaubert".[15] Schon Poppenberg hatte beobachtet, was dann die Literaturtheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts systematisiert hat; daß nämlich Bild-Text-Bezüge auf verschiedenen Ebenen und durch unterschiedliche Strategien hergestellt werden können: durch Titel oder Untertitel etwa, durch Bühnenanweisungen, Anspielungen, Rhetorik und Stil oder das Spiel mit Gattungsmustern.[16]

Uneinig waren sich die Zeitgenossen, ob ein solcher pictorial turn in der Literatur als  avantgardistisch gutgeheißen oder als dekadent abgelehnt werden sollte. In welche Widersprüche man sich dabei verstrickte, zeigen die lobenden Worte des Literatur- und Kunstkritikers Hermann Ubell. In seinem Feuilleton über die Blätter für die Kunst rühmt er George und Hofmannsthal als die einzigen Dichter, die das Maßstäbe setzende Niveau der modernen bildenden Kunst erreicht hätten, und dennoch diskreditiert er ihr Verfahren als dekadent, weil sie sich an Bildern orientierten:

 

“Es könnte nun vieles über das unleugbar starke decadente Element in diesen Dichtungen gesagt werden. Zum Beispiel über die mannigfache Anlehnung an die Werke der verwandten Künste, vor allem der modernen Malerei. Wie viele Seiten im Werke Georges und Hofmannsthals verdanken solchen Anregungen ihren Ursprung; einer solchen Neigung die bereits künstlerisch präparierte Natur zu betrachten und nachzubilden [...]. Sie ist ein rechtes Charakteristikum der Decadence [...].

Im engsten Zusammenhang mit dieser Neigung ist die zumal bei Hofmannsthal bis zum Raffinement entwickelte Fähigkeit, die Natur und das Leben durch die Augen eines großen Malers anzusehen und in dessen Stile zu gestalten; [...]. Wie manches Bild von Böcklin, wie manches Klingerblatt läßt sich aus der Dichtung Hofmannsthals loslösen!"[17]

 

Für Ubell ist die bildende Kunst das Medium der Avantgarde. Wo die Literatur sich dem antinaturalistischen Gestus der zeitgenössischen Maler - Böcklin, Stuck, Klinger und Ludwig von Hofmann - annähert, ist sie à jour. Zugleich wird sie aus dem Kanon des Seriösen - Stichwort ”decadent” -  ausgeschlossen. Ubell, könnte man sagen, demonstriert hier auf’s Schönste das Doppel aus Bildbegeisterung und –verwerfung welche die Theorie dem pictural turn (s.u.) zugesprochen hat.

Auch Hofmannsthals eigenes Urteil über (bildende) Kunst oszilliert zwischen Affirmation und Kritik, je nachdem, ob er das Medium selbst, die öffentliche Diskussion, die literarische Kommunikation oder die Funktion der Kunst für den einzelnen oder die Gesellschaft insgesamt bedenkt. Dies muß eine Analyse seiner Aussagen immer mit berücksichtigen. Die Tatsache, daß Kunstwerke eine 'doppelte Existenz' führen - "als unmittelbare Objekte, die in der 'realen' Welt das sind, was sie sind (Leinwände, Laute, Texte), und als Kunstobjekte, die zur alternativen Welt der Fiktion gehören"[18] – führt dazu, daß Hofmannsthal sich häufig zu widersprechen scheint. Ästhetischen Theorien gegenüber ist er mißtrauisch. Sie erscheinen ihm weder die Gegenstände der Kunst (”Fiktion”) noch auch und vor allem das damit verbundene menschliche Tun, insbesondere den schöpferischen Akt, angemessen zu erfassen. So bekennt er in seinem berühmten Vortrag von 1906, Der Dichter und diese Zeit, daß ihm "völlig die Mittel und ebenso sehr die Absicht" fehlen würden, "in irgendwelcher Weise Philosophie der Kunst zu treiben". Er hege, heißt es dort weiter,  eine "heimliche und bestimmte Hoffnung", daß Kunst sich auch für seine Zuhörer eher aus einem "chaotischen Gemenge von verworrenen, komplexen und inkommensurablen inneren Erlebnissen" zusammensetzen möge als aus  "festen Begriffen" (RA I 54). Angesichts des Reichtums und der Dynamik innerer Erlebnisse erscheint ihm die theoretische, historische oder formal-deskriptive Bemächtigung von Kunst im Kondensat der Begriffe ein Geschäft mediokrer Geister.[19] Hofmannsthals Vortrag attackiert jenen Historismus, gegen den er, Nietzsche folgend,[20] von Anfang an zu Felde gezogen war: "Die sogenannte historische Betrachtungsweise nun gar auf die Gegenwart anwenden zu wollen, ist eine besondere Anmaßung der von den Vordergründen überwältigten Köpfe, die sich selbst ad absurdum führt". (RA I 214) Dem entspricht, daß er auch dem sich herausbildenden kunsthistorischen Diskurs skeptisch gegenübersteht.[21] Das historische Bildungswissen wird als starre, die Phantasie hemmende Vor-Schrift verworfen, weil sie eigenes Erleben behindert und auch keine Sprache zur Verfügung stellt, die innere Erfahrungen kommunizieren könnte.[22]

So bewegt sich Hofmannsthal Urteil über 'Nutzen und Nachteil der Kunst für das Leben' im Radius von Ambivalenzen. Dies ist insofern signifikant, weil es mit der Wahrnehmungskrise um 1900 korreliert. Das historische Gedächtnis "als bürgerliche Bildung stiftende Kraft” wird problematisiert und auf neue Weise reflektiert:

 

”als Form der Organisierung des Überlieferten und des Umgangs mit kulturellem Wissen als Macht, als Möglichkeit der Strukturierung der Welt im naturwissenschaftlichen wie im künstlerischen Bereich, als Nutzung der Archive der Überlieferung - aber zugleich auch als Ballast, dessen Preisgabe allererst Spontaneität und Neuschöpfung erlaubt [...]."[23]

 

So beschäftigen den Dichter die textuelle Konstruktion von Bildlichkeit,[24] wie er umgekehrt Bilder auf ihre Übersetzungsleistungen hin befragt, ihre Fähigkeit etwa, Geschichten zu erzählen.

Die Suche nach einem Diskurs der Unbegrifflichkeit und einer ”Semiotik der Sinne”[25] läßt sich kultur- und mediengeschichtlich begründen; sie schließt geistesgeschichtlich zum einen an eine nietzscheanisch geprägte Sprach- und Bildungskritik an, zum anderen an Konzepte des Symbolismus, der die Künste synästhetisch zu vernetzen und den Spielraum des Sagbaren artistisch auszuweiten strebte. "Man sucht heute in der Malerei Erlebnisse / Formsinn ist lebendiger geworden / symbolistisches Verhältnis der Poesie zu den Elementen der bildenden Kunst (zur Landschaft)", heißt eine nachgelassene Notiz Hofmannsthals.[26] Sie läßt erkennen, daß es ihm nicht um ekphrasis im engeren Sinne geht - selbst dort nicht, wo er Verse zu Lebenden Bilder beisteuert, jenes um 1900 schon anachronistische Gesellschaftsspiel, in dem konkrete Bilder, zumeist Gemälde, nachgestellt werden und deren Kenntnis überhaupt das Spiel erst ermöglicht (Zu lebenden Bildern; GD 65-68; s.a. Abb. 4, 5 und 74)[27]. Wo Hofmannthal Referenten nennt (s. das Kap. Bilder), handelt es sich zumeist um eine Art Refiguration, um ein kreatives Spiel mit dem kulturellen Bilderrepertoire,[28] oder, wie es die Nachlaß-Notiz formuliert, um die Übernahme von ”Elementen” der bildenden Kunst. Was das im einzelnen heißt, wird dieses Buch an Beispielen illustrieren. Gefragt wird nach Form und Funktion der Bild-Text-Bezüge[29] in Hofmannsthals Dichtung und Poetologie. Marginal im Wortsinn und dennoch aussagekräftig ist seine Randnotiz zum Melusine-Gedicht - "Stuck? nicht?"[30] -, mit der er selbst der Affinität zwischen Text und Bild, hier zu der Malerei Franz Stucks, nachspürt.

 

Welche zeitgenössischen Programme stehen außer dem von Hofmannsthal durchaus nicht unkritisch rezipierten Symbolismus für ein solches intermedial orientiertes Anliegen zur Verfügung? Historismus und Naturalismus sind am Ende des Jahrhunderts als unglaubwürdig-rhetorisch, als naiv mimetisch oder als Handlanger der Wissenschaften in Mißkredit geraten. Gleichwohl stellen auch l´art pour l'art oder Ästhetizismus keine überzeugenden Alternativen für Hofmannsthal dar, weil er das Machen wie das Wahrnehmen von Kunst immer zugleich als soziale Aufgabe begreift. Die selbstsüchtigen (Sprech-)Handlungen eines ästhetischen Fundamentalismus verhindern die gesuchte kommunikative Öffnung und führen in eine - auf der Fiktionsebene zumeist tödlich endende - Außenseiterposition. Dafür stehen Claudio im Tor und Tod und der Kaufmannssohn im Märchen der 672. Nacht, Das Märchen von der verschleierten Frau und Das Bergwerk zu Falun, dies bestätigt dem Leser Hofmannsthal der Kultroman des Dorian Gray wie die tragische Gestalt seines Erfinders Oscar Wilde (Sebastian Melmoth). Als leibhafte Gefahr wird dies sowohl bei dem - trotz allem bewunderten - Zeitgenossen Stefan George wie auch bei Gabriele d'Annunzio kritisiert. Denn, so das Credo, im gesellschaftlichen System isoliert eine ausschließlich ästhetisch orientierte Lebenspraxis, im psychischen zieht sie den Verlust von unmittelbaren Empfindungen nach sich, auf der formalen Ebene reduziert sie Kunst zu steriler Künstlichkeit. Ein ästhetizistisches Verhalten, das als Versuchsanordnung viele Texte Hofmannsthals grundiert, bietet keinen Ausweg aus der Krise des Ich, der Wahrnehmung und der  Kommunikation, sondern verschärft sie.[31]

Bis in die jüngste Forschung hat sich die Meinung fortgeschrieben, Hofmannsthal sei ein Vertreter des Ästhetizismus, der nach der autobiographisch begründeten Zäsur des Chandos-Briefes von 1902 den Programmen des Ästhetizismus den Rücken kehre, seine lyrische Produktion beende und sich mit seinem dramatischen Werk dem Sozialen zuwende. So ist für Gerhard Plumpe der Brief des Lord Chandos "ein Dokument der 'Krise' und der Überwindung des Ästhetizismus zugunsten einer neuen Variante 'realistischer' Literatur, die Orientierungsleistungen für die Gesellschaft zurückgewinnen will."[32] Die vielfältigen intermedialen Tendenzen in Hofmannsthals Werk deutet Plumpe als Indiz für dieses neue 'realistische' Programm: "Man wird es kaum einen Zufall nennen, daß Hofmannsthal seine spätere Arbeit in so hohem Maße mit sprachtranszendenten Medien wie Pantomime, Ballett und vor allem der musikalischen Komposition verband [...]. Eine in dieser Weise mehrdimensionale Kunst, die dem Ziel verpflichtet war, 'in ein ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein zu treten', wie es der Chandos-Brief formulierte, hat das ästhetizistische Paradigma verlassen."[33] Gleichgültig, ob man die 'Mehrdimensionalität' von Hofmannsthals Kunst als ästhetizistisch oder antiästhetizistisch begreift, in jedem Falle muß ein solcher Schematismus korrigiert, zumindest differenziert werden.[34]

Bereits 1891, im Deckmantel einer Rezension über Bourgets Physiologie der modernen Liebe, erklärt Hofmannsthal bündig: "keine Verständigung möglich zwischen Menschen, kein Gespräch, kein Zusammenhang zwischen heute und gestern: Worte lügen, Gefühle lügen, auch das Selbstbewußtsein lügt". (RA I 95) Diese frühe Kritik wird radikalisiert im legendären Brief von 1902. Im historischen Kostüm spielt er die Konsequenzen der zehn Jahre zuvor diagnostizierten Krise durch und läßt sie in den vielzitierten Worten gipfeln: "Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen." (E 465) Wie der Gebrauch der Sprache beschaffen sein muß, um Dinge wirklich zu ergreifen und Erfahrungen spürbar zu machen, und welche Möglichkeiten (literarische) Kommunikation hat, Gefühlen und inneren Bildern Ausdruck zu verleihen,[35] ist jenes große Thema, das Hofmannsthal zu einem der wichtigsten Repräsentanten einer ebenso sprachskeptischen wie sprachbesessenen klassischen Moderne macht. "Sprechen ist ein ungeheurer Kompromiß, für jedermann - nur wird dies selten bewußt, weil es das allgemeine Verständigungsmittel darstellt", heißt es in einer Tagebuchnotiz aus dem Jahre 1909 (RA III 502). Eine solche kritische Position lenkt beinahe zwangsläufig und nicht erst seit dem Chandos-Brief die Aufmerksamkeit auf nichtsprachliche Zeichenbezüge. Sie weckt - nach Hofmannsthal - jene geradezu "verzweifelte Liebe zu allen Künsten [...], die schweigend ausgeübt werden":

 

"Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Welt verschluckt.

Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Traditi­on, die Lügen der Ämter, die Lügen der einzelnen, die Lügen der Wis­senschaften, alles das sitzt wie Myriaden tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Wir sind im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. Es ist beinahe niemand mehr imstande, sich Rechenschaft zu geben, was er versteht und was er nicht versteht, zu sagen was er spürt und was er nicht spürt. So ist eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die schweigend ausgeübt werden [...]".[36]  

 

 

Anders als die lähmenden Vor-Schriften von Philologie, Geschichtswissenschaft und Philosophie, denen der Historismus des 19. Jahrhunderts hörig war, anders als die Determinationslehre der Biologie und die positivistische Welterklärungshybris, die die Naturalisten beeindruckte, anders als die Analyse psychophysischer Wahrnehmungsakte, welche die von den Naturwissenschaftlern aufgeklärten Impressionisten umzusetzen suchten, sind nach Hofmannsthals Konzeption einzig die Künste (und im besonderen die nonverbalen) geeignet, das kostbare kulturelle Potential sinnlicher Erfahrung zu stiften oder zu bezeugen. Wahrnehmungen und Gefühle lassen sich im System der Begriffssprache weder festhalten noch kommunizieren, sie lassen sich auch nicht einfach, wie es noch die von protokollierenden 'Registrierapparaten' träumenden Naturalisten glaubten, beschreiben.[37] Mehr noch, die Wahrnehmungen und Gefühle selbst drohen durch Gerede erstickt zu werden. An die Stelle der "Wahrheit" sind nach Hofmannsthal die "komplexen Lügen der Zeit" getreten - das, was wir heute die subjektlosen Redeordnungen, die Diskurse nennen würden. Sie breiten sich aus im gleichsam prätechnischen Massenmedium des “Hörensagens”. D.h. Hofmannsthal betreibt nicht konkrete Medienkrititk, wie etwa Karl Kraus mit seiner  Presseschelte, sondern attackiert viel allgemeiner und grundsätzlicher den ,Redesmog‘ und seine verheerenden Folgen, der eine kreative Semiotisierung der Welt verhindert. Beklagt wird vor allem zweierlei: 1. die Destruktion von (psychischer) 'Ganzheit' [38]  und 2. der Verlust einer Brücke zwischen dem psychischen System des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens und dem sozialen System der Gesellschaft; einer vermittelnden Instanz, die Menschen miteinander in Beziehung treten läßt und die eine interaktive Kommunikation stiftet, welche die Isolation des einzelnen aufheben oder zumindest begrenzen könnte.

Mit einem ähnlichen Notruf hatte schon Friedrich Nietzsche das ausgehende 19. Jahrhundert gewarnt. Er entdeckte die "ungeheuerliche Krankheit" seiner Zeit darin, daß die Sprache "nun gerade Das [!] nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mitteilen [...]".[39] In einer solchen Krisensituation, so formuliert es dann Hofmannsthals Mitterwurzer-Essay, wächst den 'schweigend ausgeübten Künsten' ihre besondere Anziehungskraft und Aufgabe  zu. Dichtung, unhintergehbar an Sprache gebunden, kann auf dieses Bedürfnis antworten, indem sie sich auf die Suche nach einem erweiterten ästhetischen Code für die Sinne begibt[40] und dem Sprechen im Raum des Fiktiven neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet. "[D]as höchst Zeitgemäße: das Analogon zu den kontemporanen Zweifeln an der Sprache (Brief), corrolar hierzu die Bemühungen um Ballett und Pantomime" (RA III 510) - mit diesen Worten benennt Hofmannsthal selbst im Rückblick diese kulturhistorisch signifikante Schnittstelle eines pictorial turn, die sein Werk bezeugt (s.u.).

Brisanterweise formuliert der Mitterwurzer-Essay bei aller Affirmation der schweigenden Künste sonst einzig gegen das Bildmedium Vorbehalte. Obwohl 'schweigend' kann es als einziges nämlich auch verlogenes Gerede produzieren: "Die Malerei schweigt zwar auch, aber man kann durch eine Hintertüre auch aus ihr einen Augiasstall des begrifflichen Denkens machen". (RA I 479) Das heißt, auch Bilder können instrumentalisieren und instrumentalisiert werden und sich an den Diskursen, der Lenkung des Blicks und der Wahrnehmung beteiligen.[41] Andererseits können bildliche Darstellungen (pictures), indem sie innere Bilder (images) gestalten, Innen- und Außenwelt, Produktions- und Rezeptionsprozeß verbinden. Die 'schweigende Kunst' der Bilder kann also nach Hofmannsthals Ideologie den diagnostizierten Kommunikationsverfall vorantreiben, sie kann aber auch eine Brücke zu den isolierten inneren Bildern bauen. Gerade die beobachtete Macht des Bildlichen belegt die Bedeutung dieses Mediums um 1900.

Nach Thomas Mitchell ist dieses Zugleich von Affirmation und Kritik ein Symptom dessen, was er - analog zum Begriff des lingustic turn[42]- den pictorial turn nennt. Er ist nicht auf das ausgehende 20. Jahrhundert beschränkt, sondern kann kulturgeschichtlich an verschiedenen Stellen ausgemacht werden:

 

”So wie ich den ,Pictorial Turn‘ interpretiere, geht es um den Moment, in dem eine Gesellschaft um ihr Bilderrepertoire zu fürchten beginnt. Visuelle Repräsentationen, sogar verbale ,Figuren‘ und ,Bilder‘, können nicht mehr als gegeben betrachtet werden, sondern werfen plötzlich Probleme auf, die sich nicht ignorieren lassen. Als Symptome eines ,Pictorial Turn‘ können mithin sämtliche ikonoklastischen Bewegungen gelten, aber auch alle Anstrengungen, sich einmal mehr der Überlegenheit von Sprache und Diskurs gegenüber dem Visuellen zu versichern. Ein weiteres Symptom zeigt sich in den Versuchen, die Bildmedien mittels Gesetzen und Verboten einzuschränken. Diese negativen, angstbesetzten Reaktionen entstehen oft in direktem Wechselspiel mit einer gewissen ,Euphorie des Sichtbaren‘, einer utopistischen Spekulationswut über die erlösende und umwälzende Macht der Bilder.” [43]

 

Hofmannsthal versucht, die traditionelle Opposition von rhetorisch-argumentativer Rationalität und imaginativer Schau, die er selbst ja vielfach reproduziert, zu überwinden im Credo einer ganzheitliches Erleben stiftenden Erfahrung mit bildender Kunst. Ein solches Unternehmen, das die Trennung von Produktion und Rezeption aufzulösen sucht,  ist nun so neu nicht. Schon das ausgehende 18. Jahrhundert Herders und Goethes trat mit vergleichbaren Postulaten einer Verlebendigung der Kunst durch schöpferische Teilnahme des Betrachters, Lesers oder Zuhörers auf den Plan. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird dieses Konzept jedoch auf  neue Weise aktiviert. Im Zeichen der Pluralisierung wissenschaftlich-akademischer Diskurse, einer Expansion der Medien[44] und eines die Selbstgewißheit des Subjekts irritierenden Polyperspektivismus oder, mit den Worten von Hofmannsthals scharfsinniger Fin-de-siècle-Diagnostik, im Gefühl, aus dem 19. Jahrhundert nichts geerbt zu haben "als ein sentimentales Gedächtnis, einen gelähmten Willen und die unheimliche Gabe der Selbstverdopplung" (RA I 174f.), werden Koordinaten gesucht, die (Selbst-)Erfahrung ermöglichen und Handlungsimpulse verstärken:

 

"Eine furchtbar gesteigerte Dialektik, gewohnt bauchrednerisch jeden Standpunkt im All einzunehmen, hat uns enteignet in uns selbst: in schwankendem Ungefähr verzittert unser Selbstgefühl... Durch die Vergröberung der Worte entsteht Vergröberung des Weltbildes. Im Bereich des Gesagten herrscht unendliche Anarchie."[45]

 

Eine derartige Selbst-Enteigung unter der "Anarchie" der Diskurse generiert, wie alle Krisensituationen, das Bedürfnis nach erhöhter semiotischer Aktivität. Wenn der Akt der menschlichen Kommunikation, den der (Wort-)Künstler zu leisten hat, für Hofmannsthal darin besteht, das Kaleidoskop der ästhetischen Zeichen in Bewegung zu halten, dann werden in dem Maße, in dem die “Anarchie”, d.h. ein allgemeiner Zerfall, der energetischen Kräfte, der Sprache, der Zeichen droht, die nonverbalen Medien, aber auch die Poesie, insofern sie neue Bilder findet, zum Hoffnungsträger einer neuen, d.h. Ganzheit stiftenden Form künstlerischer Kommunikation.[46]

Die Frage, wer in der Lage ist, die zentrifugalen Kräfte, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, wieder zu bündeln, beantwortet programmatisch der Kunstkritiker Hermann Helferich im 1. Jahrgang der "Freien Bühne" (1890), wenn er die Diskursmacht den Künstlern, nicht aber mehr den Gelehrten überlassen will:

 

"Es giebt Ideenbringer, Ideenverständige und Gelehrte. Ideenbringer sind genial; Ideenverständige können viele sein vom Weltmann bis zum Zeitungsschreiber, und es ist ihr eigentlicher Beruf, zwischen der Tête und der Avantgarde den Verkehr zu führen, weil ohne sie die Gelehrten mit noch mehr Verspätung kämen [...] [D]a ich den Sport der Wissenschaft liebe und meine Bücher, so möchte ich Gelehrte nicht entbehren. Nur denke ich, ist es eine Profession [...] der ich den ersten Rang [...] in meiner Werthschätzung den Gedanken gegenüber, auf die es ankommt - nicht einräume - nimmermehr."[47]

 

Nach Hofmannsthal verleiht der Künstler den vielfältigen Phänomenen des Lebens Form und Gestalt. Er  ”vergröbert” es weder noch zersetzt er es. Als Transformator wächst ihm eine Schlüsselrolle zu.

 

"Die lebendigen Künstler gehen durch das dämmernde sinnlose Leben, und was sie berühren, leuchtet und lebt.

Gleichviel, ob sie mit neuen Worten Heimlichkeiten der Seele in Formeln fassen, oder ob sie das dumpfe Wogen in uns durch Harmonien heiligen, oder ob sie in verhallenden Worten und flüchtigen Gebärden das Unbewußte in uns zur Erkenntniss heben und in dionysische Schönheit tauchen." (RA I 478)[48]

 

Hofmannsthals Gedanken über den 'lebendigen Künstler' verweisen auf zwei mythische Figurationen, die der Text komplex ineinander verschachtelt: die des Bildhauers Pygmalion, dessen Statue lebendig wird, und die des König Midas, der alles Lebendige in starres Gold verwandelt; das Wasser glänzt wundervoll, aber man geht daran zugrunde. Während der Künstler, der durch neue Worte die "Heimlichkeiten der Seele" zutage fördert und ”Harmonie” stiftet, leicht als Pygmalion erkennbar ist, erscheint die Midas-Figuration abgewandelt: Midas bringt zum Leuchten, was er berührt, aber er macht nicht lebendig, sondern läßt erstarren. Indem hier zwei Mythenzitate chiastisch verknüpft und invertiert werden, inszeniert der Text ein leichtfüßiges Exempel seiner eigenen Botschaft künstlerischer Verlebendigung – und dokumentiert darin die Selbstreferentialität der Kunst wie, auf der semantisch-ideologischen Ebene, eine ethisch fundierte Künstlerkonzeption. Hofmannsthal hat diese spannungsvolle Doppelexistenz des Künstlers nicht nur im Mythenparadigma von Pygmalion und Midas, also metaphorisch, wiederholt thematisiert, sondern auch rhetorisch in der Figur des Paradoxons: "So ist der Dichter im Bewußtsein seiner Kunst unlösbar verfangen. Sie ist sein sicheres Mittel, das Leben von sich abzuhalten, sein sicheres Mittel, sich dem Leben zu verbinden" (Über ein Buch von Alfred Berger [1896], RA I 232). Nicht nur die Kunst, auch das Verhältnis des Künstlers zum Leben besitzt für Hofmannsthal also unaufhebbar die Signatur der Ambivalenz. Möglicherweise manifestieren sie sich nicht zuletzt darin, daß die zitierte Passage ihre mythologischen Referenten – Pygmalion und Midas - nicht namentlich mehr nennt, sondern gleichsam nur noch ihre zur Minimalfigur kondensierten Extrakte antinomisch gegeneinandersetzt: sie dann aufruft und durchstreicht zugleich.

Die alte Frage nach dem Verhältnis von Kunst/Künstler und Leben[49] spielen Hofmannsthals Texte und Notizen im Erkenntnismodell der Ethik (Betrachten vs. Handeln), der Wahrnehmungspsychologie (Mittelbarkeit vs. Unmittelbarkeit des Erlebens) und des Sozialen (Isolation vs. Beziehung) durch. Daß diese Dichotomie von Kunst und Leben darüber hinaus im Paradigma einer Sprachkrise - genauer, einer Sprachgebrauchs- und Kommunikationskrise - verhandelt wird und an eine Medienreflexion gekoppelt wird, ist ihr Novum und macht sie historisch signifikant. Im Unterschied zu den Avantgardisten des 20. Jahrhunderts mit ihrem großen Ahnherrn Mallarmé reagiert Hofmannsthal formal, und im Rahmen seiner ‘Ganzheits-Ideologie‘ konsequent, nicht mit Sprachzertrümmerung, sondern im poetischen Zeichenspiel einer sinnlich wirksamen Sprache, die innere Bilder freizusetzen und Erlebnisse zu stiften sucht.

Biographisch ist für den jungen Hofmannsthal der ideale Repräsentant einer glücklich aufgelösten Diskrepanz von Kunst und Leben sein Universitätslehrer Alfred von Berger, der lebt, was er lehrt. Er besitzt die Fähigkeit, Kunst zu erleben, dieses Erleben zu kommunizieren und die Kunst des Erlebens im Zuhörer auszubilden oder zu reaktivieren:

 

"Die Tausende von Menschen, welche [...] Berger einmal oder mehrere Male reden gehört haben, werden sich, als zum gemeinsamen Kern ihrer vielerlei vagen Eindrücke, am ehesten zu der einfachen Formel verstehen: 'Hier wurde von diesem Menschen über Kunst geredet, als von einem, der dabei etwas erlebt haben muß.'

Es ist nun wirklich nicht jedermanns Sache, eine solche Beziehung zur Dichtkunst oder zu einer anderen Kunst zu haben, die man als ein Erlebnis bezeichnen kann; von den wenigen aber, die diesen Zauberkreis überschritten haben, ist es nicht eines jeden Sache, wieder herauszutreten und vor den Leuten davon zu reden. Vielmehr pflegt fast jedes Erlebnis den Mund dessen, den es aus seinem Bann wieder auswirft, mit einer tiefen erstarrenden Einsicht, die jenseits aller Worte ist, so zu verstopfen wie mit einer Handvoll Erde. Daher haftet den Reden jener wenigen, welche das zu verraten imstande sind, was sie dort erhorcht haben, wo ihre eigene Natur sich unbelauscht wähnte und sich ihren tiefen dumpfen Trieben hingeben wollte, etwas Unheimlich-Widernatürliches an, eine eingeborene tiefe Scham verletzend, und eben darum anlockend und verführerisch." (RA I 230f.)

 

Was Hofmannsthal an Berger fasziniert, ist das freie Zusammenspiel von gerichteter Aufmerksamkeit, Erleben und sprachlicher Kommunikation - sein Verfügen über das kulturelle Archiv nach Maßgabe individueller Bedeutsamkeit. Kunst ist für Berger nicht nur ein deutungsoffenes Medium, das den Betrachter Erfahrungen machen läßt, sie beflügelt auch seine Rede, die wiederum die Zuhörer beflügelt. So gesehen ist er der ideale Hermeneut, ein ,Augenzeuge‘ und daher glaubwürdiger Mittler zwischen Kunstwerk und Publikum. Dies verschafft ihm das Charisma jener ”wenigen”, die einen ”Zauberkreis überschritten” und am Sakralen partizipiert haben, darüber aber nicht verstummen, sondern ihr Erleben kommunizieren können. Hier ist Rede nicht “verstopft”,[50] sondern fließt auf eine selbstverständliche, naturhafte Weise; ein solches  Sprechen ist erfüllt und erfüllend, d.h. emphatisch-empathisch, aber nicht rhetorisch-manipulativ. Eingeschrieben ist dieser Hommage an Berger somit ein altes romantisch-hieratisches und ein modernes Konzept von Kommunikation über Kunst. Es opponiert gegen die subjektfernen Wissenskonstruktionen, die das Sehen und den Betrachter verwalten und instrumentalisieren. Es stellt die sinnliche, körpergebundene individuelle Erfahrung dagegen, die nicht ästhetizistisch privatisiert werden soll, sondern deren intersubjektive Vermittlung gerade Aufgabe und Ziel des Künstlers oder Interpreten ist. Man könnte es ein Animations-Programm nennen alternativ zur institutionellen Lern-Disziplinierung des 19. Jahrhunderts:[51]

 

"Diese Sprache der Gebildeten und Halbgebildeten, ob gesprochen oder geschrieben, sie ist etwas Fremdes. Sie kräuselt die Oberfläche, aber sie weckt nicht, was in der Tiefe schlummert. Es ist zuviel von der Algebra in dieser Sprache, jeder Buchstabe bedeckt wieder eine Ziffer, die Ziffer ist die Verkürzung für eine Wirklichkeit, all dies deutet von fern auf etwas hin, auch auf Macht, auf Macht sogar, an der man irgendwelchen Anteil hat; aber dies alles ist zu indirekt, die Verknüpfungen sind zu unsinnlich, dies hebt den Geist nicht wirklich auf, trägt ihn nicht irgendwo hin." (Der Ersatz für die Träume, 1921; RA II 143)

 

Anders als die Bildungsdiskurse und die arbiträren Codes der Wissenschaftssprache, deren Machtmechanismen Hofmannsthal durchschaut, gestaltet und inszeniert die schöpferische Phantasie innere und äußere Wahrnehmungen. Sie läßt den Zuhörer/Betrachter an einem lebendigen semiotischen Spiel teilhaben, das ihn ”irgendwo hin[trägt]”, d.h. im Wortsinne bewegt und ergreift. Zeuge eines solchen lebendigen Verhaltens zur Kunst zu werden, macht Bergers Rede für den Zuhörer so verführerisch: Sie belehrt nicht, sie stimuliert.

Wie sehr es Hofmannsthal im Doppel von Produktion und Rezeption um eine solche schöpferische Tätigkeit der künstlerischen Zeichenbildung und -lektüre geht, illustriert eine nachgelassene Notiz. Sie reflektiert den Zusammenhang von Bild und Zeichen, der historisch über die etymologische Verbindung von Zeigen und Zeichen erwiesen ist:[52]

   

"Alles durch künstl.[erische] Interpretation verklären: das Zucken der erlöschenden Lampe (Maeterlinck)[53] die Rubens- und Poussin- und Böcklinwolken; praeraphaelitische Bäume; Sommer­nachtstraumstimmung; fiebernde Teiche der Bérenice;[54] Bauern von Turgenew; Kate-Greenaway-Kinder" (HvH-Nachlaß/FDH, HVII 9.18).

 

Der Künstler (re-)codiert den chaotischen – wenngleich kulturell immer schon markierten[55] -Raum des Lebens und  ermöglicht dadurch ,lebendige‘ Kommunikation, eine dynamische Semiose. Der ästhetische Code ordnet, gestaltet und füllt die Wahrnehmungen des Betrachters mit Sinn,[56] ja schafft erst eigentlich 'Realität'; so jedenfalls Hofmannsthal, beinahe wörtlich die zitierte Notiz aufgreifend, in seinem Aufsatz über Eleonora Duse von 1892:

 

"[...] manche Wolken, schwere goldengeballte, haben ihre Seele von Poussin, und manche, rosigrunde, von Rubens, und andere, prometheische, blauschwarze, düstere, von Böcklin. Und es gibt Regungen unserer Seelen, die Schumann geschaffen hat; und es gibt Gedanken, die ohne Hamlet uns nie geworden wären; und viele unserer Wünsche haben die Farben aus einem vergessenen Bild oder den Duft von einem verwehten Lied." (RA I 478)

 

Die Beobachtung, daß unsere Wahrnehmungen medial vermittelt sind - ein spätestens seit Baudelaire offensiv in die ästhetische Debatte eingebrachtes Thema[57] - generiert nicht nur die moderne Frage nach dem gelenkten Blick, sondern aktualisiert  auch das alte Problem von Nachahmung und Originalität: "Wer sind wir und was haben wir von andern? von den Lebenden? von den Todten?"[58] Wie ist der Epigonalität zu entkommen, wenn es eine originäre Wahrnehmung nicht gibt?[59] Hofmannsthals Antwort darauf ist das Postulat einer "reproduzierenden Phantasie" (RA I 195), die kulturelles Gedächtnis und semiotische Eigenaktivität amagalmiert. Sie kann den ausgehöhlten "Zyklopenbau" der Vergangenheit wieder bewohnbar machen, d.h. sich das traditum im  actus tradendi aneignen und kommunikativ machen. In Notizen zu den nicht weiter ausgeführten Dialogen über die Kunst (1893), in dem Abschnitt "Böcklins Mythologie", stellt sich Hofmannsthal diesem ihn anhaltend beschäftigenden Grundproblem. Selbstkritisch diagnostiziert er:

 

"Eklektizismus und Originalität in uns gemischt. Unsere Kunst eine nachschaffende. Wir wohnen in verlassenen Zyklopenbauten, die wir ausgehöhlt haben: Maeterlinck-Shakespeare, Witzblätter (Gil Blas): byzantinisch-hieratische Kokotte; Don-Juan-Pantomime; schon das Mysterienhafte im Faust so eine Spielerei: Puppenspiele des Maurice Bouchor, Tobias  Böcklins Mythologie."[60]

 

Aus dieser Spannung, welche das Originalitätsdenken des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hatte, bildet sich am Ende des 19. ein neues Interesse für die Sprach- und Zeichenspiele der Kunst heraus, die als "Maskeraden" durchschaut, aber gerade deshalb neu semantisiert  werden sollen. Wenn Hofmannsthal die "ausgehöhlten Zyklopenbauten" der Tradition wieder mit Leben erfüllen will,[61] so reformuliert er damit die romantische Aufgabe, schon Gebildetes wieder zu bilden, was für den Wortkünstler nur heißen kann, im unhintergehbaren Medium der Sprache neue Möglichkeiten zu erkunden. Die Bildmedien werden dabei als Zeichenspender entdeckt, die der sprachlichen Repräsentation, der Textoberfläche, zu einem freieren Spiel der Signifikanten verhelfen können, d.h. zu einer Metaphorik, die etwas von der sinnlichen Erfahrung des Schauens und der visuellen Lust  vermittelt.[62] Daß seine Texte dabei an der Metaphysik einer pictorialen ”Präsenz” – nichts anderes meint Hofmannsthals Diktum von der ”Zauberschrift der Bilder” (RA I 526) - festhalten, ist in der Literaturwissenschaft zumeist als restaurativ abgetan worden. Man könnte es aber durchaus auch anders verstehen - als einen Widerstandsgestus gegen den überreizten und instrumentalisierten Blick des  19. Jahrhunderts und, darauf werde ich zurückkommen, als eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Phänomen von ,Tiefe und Oberfläche‘ in der Wahrnehmungs- und Leseprozedur.

Versuchen wir zum Abschluß der Einleitung das Thema des Buches in einen größeren kulturgeschichtlichen Rahmen einzuordnen und einen kurzen Blick auf einige seiner methodischen Prämissen  zu werfen.  

„Sehen“ wird im 19. Jahrhundert zum vorherrschenden Mittel der Erkenntnis. Als Paradigma der Wissensproduktion und als Instrument einer vermeintlich potenten Beobachterperspektive, welche die Totale in den Blick nimmt (Panorama), produziert es dabei seine Gegenbewegung schon mit. Denn das Erkenntnismodell der experimentellen Beobachtung, der analytischen Scharfsicht und des panoramatischen Blicks gewährleistet gerade keine selbstmächtige Gesamtsicht auf die Wirklichkeit und einen festen Betrachterstandpunkt,[63] sondern produziert, dies die Diagnose von zwei so unterschiedlichen Wissenschaftlern wie Ernst Mach und Sigmund Freud, fragmentarisierte Teile und ein dissoziiertes Ich. Das von Nietzsche in Umlauf gesetzte Theorem eines Polyperspektivismus behauptet das Ende einer allgemeingültigen Wahrheit. Diese Auflösungstendenzen – des Ichs, der Wahrnehmung, der festen Bedeutungen und der Zeichen[64] - reflektieren, so lassen sich die einleitenden Überlegungen zusammenfassen, Hofmannsthals Texte und stellen ihnen im selben Paradigma  des Sehens Alternativen entgegen: als Schauen von Bildlich-Gestaltetem, das Erlebnisse stiftet (auf der Ebene der Produktion), und als Gestalten von Geschautem, das Erlebnisse kommuniziert (auf der Ebene der Rezeption).[65]

Gegen die Monopolisierung und Überreizung des Sehsinnes durch die expandierenden (Bild- wie Text-)Medien und einen durch die Wissensproduktion gelenkten Blick, führen sie das Orientierungssystem der bildenden Kunst ins Feld. Auch deren kulturelles Bilderrepertoire stiftet allerdings Sichtweisen, die die vermeintlich individuellen Wahrnehmungen ikonisch präfigurieren. Dies hat, wie das vorliegende Buch zeigen wird, Hofmannsthal erkannt und skeptisch bedacht. Anders als bei den instrumentalisierten  Formen des Sehens in den Wissensdiskursen ist es ihm aber ein symbolisches System, das die Semiose in Bewegung setzt.

Mit ihrem Interesse für mediale Grenzerweiterungen antworten Hofmannsthals Texte auf einen historischen Modernisierungsschub, den sie gleichzeitig bezeugen: der exponentiale Anstieg der Bildreproduktionen um 1900 ist Bedingung ihrer Möglichkeit und zugleich - ideologisch – Anlaß für ihre Abwehr, insofern sie gerade am Erlebnis der Kunst als auratischem Geschehen festhalten und einer kreativen Refiguration das Wort reden. Geistesgeschichtlich stehen seine Texte zugleich in einem seit der Romantik über den französischen Symbolismus[66] bis zur Jahrhundertwende sich fortschreibenden Prozeß ästhetischer Selbstreflexion. Nachdem auch die 'metaphysische Zentralperspektive' verlassen ist, müssen zwangsläufig die kulturellen Werte neu bestimmt werden. Die Frage nach dem Archiv der Tradition als Besitz und Ballast wird virulent und in einer nietzscheanischen Historismus-, Philister-, und Sprachschelte (als Kritik am Gebrauch der 'großen Worte') offensiv bloßgelegt. Als quasi-religiöse Alternative tut sich der dynamische, oszillierende Binnenraum der Seele auf, Produktionsstätte des Traums und der Bilder.[67] Die Wortkunst sucht dem in einem Diskurs der Unbegrifflichkeit und einer Semiotik der Sinne Rechnung zu tragen. Konfrontiert wird sie dabei mit der bitteren Erkenntnis, daß die subjektiven (künstlerischen) Wahrnehmungen - und ihre ästhetische Repräsentation - immer schon durch kulturelle Muster codiert und präfiguriert sind - womit die Frage nach Erbe und Tradition hartnäckig im Spiel bleibt. Hofmannsthals frühes spannungsvolles Fazit lautet deshalb,[68] daß man "von vielfältiger Vergangenheit nicht loszudenken [...] aber ebensowenig in eine bestimmte Vergangenheit hineinzu­denken" sei (RA I 220).[69] Mit der Hinwendung zur unerschöpflichen Bildproduktionsstätte der Seele, in die die talking cure der analysierten Patienten um 1900 via Sprache Einblick gewährt und deren Mechanismen Freuds Psychoanalyse systematisiert, theoretisch fundiert und öffentlich verfügbar macht, eröffnet sich aber ein weites Feld der Semiose, das dem symbolistischen Erneuerungsprogram eingeschrieben wird. "Ich weiß keine Art von Kunst zu rechtfertigen als diese: die sich aus der Tiefe her der Oberfläche - des Lebens [-] bemächtigt", schreibt Hofmannsthal 1897 (RA III 420). Dies tun bildliche Darstellungen in besonderem Maße, weil sie dem geheimnisvoll-magischen Tiefenraum der individuellen Seele ebenso wie den kollektiven Phantasien ganzer Kulturen Ausdruck verleihen können. Als Wiederkehr innerer Bilder in kultureller Transformation entwirft die ästhetische Zeichensprache der bildenden Kunst nach Hofmannsthal eine Psychologie und eine Anthropologie an der Wissenschaft vorbei. Sie vermittelt zwischen Innen und Außen, zwischen dem, wie wir heute sagen, 'psychischen System' (dem Denken, Wahrnehmen, Herstellen von Sinn) und dem 'sozialen System' gesellschaftlicher Kommunikation. [70]

Das musée imaginaire,[71] das die literarischen Texte Hofmannsthals errichten, folgt einem Verfahren des Aufrufens, Sichtbarmachens und Verknüpfens, und zwar nach Maßgabe seiner individuellen Speicherung und Verarbeitung.

 

"Es ist dies [...] eines von den Geheimnissen, aus denen sich die Form unserer Zeit zusammensetzt: daß in ihr alles zugleich da ist und nicht da ist. Sie ist voll von Dingen, die lebendig scheinen und tot sind, und voll von solchen, die für tot gelten und höchst lebendig sind. Von ihren Phänomenen scheinen mir fast immer die außer dem Spiele, welche nach der allgemeinen Annahme im Spiele wären, und die, welche verleugnet werden, höchst gegenwärtig und wirksam. Diese Zeit ist bis zur Krankheit voll unrealisierter Möglichkeiten und zugleich ist sie starrend voll von Dingen, die nur um ihres Lebensgehaltes willen zu bestehen scheinen und die doch nicht Leben in sich tragen. Es ist das Wesen dieser Zeit, daß nichts, was wirkliche Gewalt hat über die Menschen, sich me­taphorisch nach außen ausspricht, sondern alles ins Innere ge­nommen ist [...]. Keine eleusinischen Weihen und keine sieben Sakramente helfen uns empor: in uns selber müssen wir uns in höheren Stand erheben, wo uns dies und jenes zu tun nicht mehr möglich, ja auch dies und je­nes zu wissen nicht mehr möglich: dafür aber dies und jenes sichtbar, verknüpfbar, möglich, ja greifbar, was allen anderen verborgen.  Dies alles geht lautlos vor sich und so wie zwi­schen den Dingen." (Der Dichter und diese Zeit; RA I 57)

 

Es geht dem Dichter in seiner Rolle als öffentliche Person und Vermittler um das (Wieder-)Gewinnen von energetischen Kräften, die den Dissoziationsprozessen entgegenwirken und Ganzheit herzustellen versprechen. Die Magie der bildlichen Darstellungen vermag für ihn die "auseinanderfliegenden Atome" zu binden, "Insel[n]" zu schaffen, "auf der die Phantasie wohnen kann" (RA I 64). Hier entstünde nach Hofmannsthal der Freiraum, einen Blick auszubilden, den die eigenen Wünsche und Erfahrungen konstruiert hätten. Es wäre ein kreativer Akt, mit dem jede Zeit ihr eigenes Geschichtsprogramm schreiben könnte:

 

"Daß eine Zeit den Raffael über alle Meister stellt, ihn fast für eine Gottheit ansieht, eine andere ihn tief unter Michelangelo, Lionardo, Rembrandt, ja unter Velasquez stellt - und daß beide recht haben, nur sich selber auszudrücken, das vermag der Geist in schöpferischem Zustand sich aufzulösen." (RA III 499)

 

Die Metapher des musée imaginaire erscheint brauchbar, den Fundus von Hofmannsthals Bild-Referenzen zu bezeichnen. Sie steht für das Moment des Speicherns und Bewahrens tradierter Bildfiktionen, den Aspekt der Rezeption, mit ihrem - subjektiv und zugleich historisch bedingten, unbewußten oder bewußten - Akt des Selektierens von materiellen Bildern aus der kulturellen Tradition. Zugleich bezeichnet sie den Aspekt der Produktion, der Bildfindung oder -konstruktion durch die Imagination. In seinem dritten Kapitel über den Salon von 1859 - jenem berühmten Dokument der Wende von der Romantik zur Moderne - nennt Baudelaire die Imagination die "Königin der Fähigkeiten". Sie regiert fortan alle Argumente für eine 'Umwertung der Werte' :

 

"Die Einbildungskraft hat den Menschen die sittliche Bedeutung der Farbe, des Umrisses, der Klänge und Düfte gelehrt. Sie hat, am Anfang der Welt, die Analogie und die Metapher geschaffen. Sie zerlegt die ganze Schöpfung, und mit den angehäuften Materialien, die sie nach Regeln anordnet, deren Ursprung in den tiefsten Tiefen der Seele zu suchen ist, schafft sie eine neue Welt, ruft sie die Empfindung des Neuen hervor."[72]

 

Die Imagination verbindet, wie keine menschliche Eigenschaft sonst, Produktion und Rezeption, weshalb Hofmannsthal, als er über den Dichter und diese Zeit spricht, seine Zuhörer eindringlich ermahnt, sich daran zu erinnern,: "An dies Gewebe aus den Erinnerungsbildern der subtilsten Erlebnisse, an dies in Ihnen appelliere ich, an dies Unausgewickelte und an keinen geklärten Begriff, keine abgezogene Formel" (RA I 55). Das imaginäre Museum sammelt, was in einer von Kommunikationsverlust und Dissoziation bedrohten Zeit mentale und psychische Energien freisetzt. Es ist ein Gegenentwurf zur musealen "Rumpelkammer mit totem Tand", die Claudio im Tor und Tod bewohnt und vor der er sich - faustisch - ekelt. Es ist ein im Reich der Phantasie zusammen­getragenes und im Textraum installiertes Organ für die "Erlebnisse des Sehens", das Hofmannsthal zunehmend in den Dienst einer "Cultur des Auges" (BW Kessler 329) stellt, von der er sich gesellschaftspolitische Konsequenzen erhofft.[73]

In welcher Beziehung Bilder und Texte zueinander stehen, wurde in der Tradition der ästhetischen Theorie sowohl über einen Modus der Analogie bestimmt (und seit Simonides’ Rede von der Malerei als 'stummer Poesie' und der Poesie als 'stummer Malerei' gebetsmühlenartig wiederholt) als auch der Differenz (bahnbrechend Lessings Laokoon, der mit dem Horazschen ut pictura poesis-Diktum aufräumt). Für Roland Bar­thes ist "jede bedeutungsvolle Einheit oder Synthese", sei sie verbaler oder visueller Art, eine "Schrift". Beide Medien sind danach "textuelle" Konstruktionen,[74] die Deutung provozieren oder denen, umgekehrt, Bedeutung zugeschrieben wird, Zeichenordnungen somit. Für Hofmannsthal besteht das Faszinosum darin, daß das Bild zwar eine ähnliche Wirkung ausüben kann wie die Sprache, daß die "bedeutungsvolle Einheit" der bildenden Kunst mit ihrer "Zauberschrift" aber anders kommuniziert als die mit Schriftzeichen operierende Wortsprache. Er bestimmt die beiden Medien also sowohl über einen Modus der Analogie als auch einer konstitutiven Differenz, welche er in der poetischen Sprache produktiv zu machen sucht. Movens ist das skizzierte Anliegen, die Ikonizität der Imagination, die durch keine verbale Transkription eingeholt werden kann, gleichwohl an die Oberfläche der Sprache zu bringen und zu kommunizieren. 

Zwangsläufig entwickeln Hofmannsthals Texte so eine Poetik der Intermedialität. Historisch findet er sie bei einer Reihe von Künstlern - von 'Dichtermalern' wie Dante bis hin zu 'Malerdichtern' wie den Präraphaeliten. Intermedialität ist deshalb bei ihm häufig eine spezifische Form von Intertextualität. Quellen, argumentativer Zusammenhang und die Form, in der bildende Kunst in seinem poetischen Diskurs erscheint, müssen deshalb genau analysiert werden. Da die Befunde auch historisch situiert werden sollten, laufen die Überlegungen dieses Buches beständig in zwei Richtungen: 1. eine vertikale, die sich für die Funktion von Bildern (pictures) für Sprachtexte interessiert, und 2. eine horizontale, die nach der Genese eines solchen (Medien-)Diskurses in der Zeit um 1900 und nach dessen Ideologie fragt.

Studien zur Wahrnehmungsgeschichte allgemein und um die Jahrhundertwende im besonderen sind inzwischen Legion. Soweit ich sehe, verstehen sie sich zumeist kulturhistorisch oder anthropologisch als Bausteine zu einer Phänomenologie oder Geschichte der Sinne oder der Medien und der Technik.[75] Eine umfassende Intermedialitätstheorie, bei der es um medienspezifische Verfahren der Darstellung und der Zeichenfunktionen in Bildern und Texten gehen müßte, fehlt, soweit ich sehe, bislang noch, obwohl das Thema breit diskutiert wird. [76] Es ist nicht der Anspruch dieses Buches, eine solche hier zu konstruieren. Gearbeitet wird vornehmlich mit dem, was Hofmannsthals Texte zu diesem Thema beitragen, und sie werden diskutiert im Kontext dessen, was für die kulturgeschichtliche Situation der Jahrhundertwende aussagekräftig erscheint. Als praktikabel hat sich dabei erwiesen, einige Axiome der Intertextualitätstheorie[77] auf Prozeduren von Intermedialität zu übertragen. Wenn es "ein unschuldiges Auge"[78] ebensowenig gibt wie einen "unschuldigen Text", so muß das auch für den intermedialen Dialog gelten, womit die alte Frage der "wechselseitigen Erhellung der Künste"[79] neu zu fassen wäre.

Der Begriff der Intertextualität bezeichnet, vereinfacht formuliert, zunächst ganz allgemein die implizite oder explizite Referenz von Texten auf Texte. Er beruht auf der Annahme, daß literarische Texte in einem Universum von Texten stehen[80] und permanent deren Zeichenspiel fortschreiben. Gegenüber dem traditionellen Literaturverständnis, welches die Einheit, Einzigartigkeit und Totalität des Kunstwerkes behauptet und welches auch Walzels Diktum von der "wechselseitigen Erhellung der Künste" zugrundeliegt, versteht die neuere Literaturtheorie Texte als kulturelle Zeichenordnungen, die durch Intertexte mitkonstituiert werden.  'Visuelle Intertexte'  wären danach Bildreferenten, die auf verschiedenen Ebenen des Textes aufgerufen werden, wobei immer die Differenz bestehen bleibt, daß die visuelle Erfahrung (wie auch die visuelle Fähigkeit zu lesen) nicht in einem Textmodell aufgeht, sondern eine eigene mentale Prozedur ist. Eben darauf gründet auch Hofmannsthals Rede vom ”Erlebnis des Sehens”.

Mit dem Begriff 'Bild' bezeichne ich im wesentlichen das, was Thomas W. Mitchell, im Deutschen terminologisch etwas mißverständlich, im Rahmen seiner Theorie aber plausibel, "graphische" Bilder nennt,[81] nämlich bildliche Darstellungen wie etwa Gemälde, Zeichnungen oder Plastiken. Um "optische", "perzeptuelle", "geistige" und "sprachliche" Bilder geht es nur, insofern sie sich auf "graphische Bilder" beziehen und diese als markierte oder rekonstruierbare Anspielung im Text zu erkennen sind. Gefragt wird, wie und über welche konkreten (auch als konkret simulierten) bildlichen Darstellungen Hofmannsthal redet und welche Funktion sie für seine Texte haben. Die Bildreferenz kann im Dienst verschiedener literarischer Strategien stehen - vom Bildzitat[82] über die Assoziation bis hin zur Simulation eines konkreten Referenten. Das verbindende Element von Hofmannsthals komplexen und heterogenen Strategien besteht darin, daß sie immer rückgebunden werden an das literarische Sprachspiel in der Semiosphäre von Produktion, Produkt (Text/Bild) und Rezeption. Immer und unhintergehbar, darüber ist sich der schreibende Künstler im klaren, bleibt es für ihn an den Sprechakt gebunden. So notiert sich Hofmannsthal auf dem Vorsatzblatt seines Exemplars von Rudolf Pannwitz' Der Volksschullehrer und die Deutsche Sprache (Berlin 1907) das Wort Friedrich Hebbels: "Der ganze Mensch in seinem Verhältnis zur Welt, ja wenn der Ausdruck gestattet ist, zu sich selbst, beruht auf der Sprache." (FDH/HvH-Bibl.) In der symbolischen Ordnung der bildenden Kunst wird dieses Verhältnis nonverbal repräsentiert, in der 'lebendigen' poetischen Adaption rezipiert und transformiert zugleich. So bezeugen Hofmannsthals Texte das, was die neuere Kulturtheorie als pictorial turn bezeichnet hat, ein kritisches historisch signifikantes Stadium von Sprachflut und Sprachkritik wie gleichzeitig von Bilderflut und Bildkritik.

Das vorliegende Buch versucht nicht mehr und nicht weniger, als auf Hofmannsthals komplexe, bestechend  einfach formulierte Frage: "Beeinflussung: Wie bildende Kunst auf meine Poesie wirkt" (RA III 380) zu antworten und Frage und Antwort kulturhistorisch zu reflektieren.

 


[1] Hugo von Hofmannsthal: RA III 382 - Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1: Zur Sprache und zur Psychologie (1901). Frankfurt a.M. 1982, S. 129 (die Ausgabe  von 1901 befindet sich noch in  Hofmannsthals Bibliothek, FDH/HvH Bibl.) - Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17). In: Ders.: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich u.a. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1975, S. 180. Zu Siglen und Abkürzungen s. Literaturverzeichnis.

[2] Friedrich Nietzsche: KSA I 886

[3] Vgl. Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich. München 1997.

[4] Hofmannsthal kritisiert den schottischen Schriftsteller Oliphant, daß er nicht schreibe, "um Stimmungen seiner Seele in fein abgetönte und bezeichnende Worte zu kleiden, nicht um subjektive Wahrheiten in prächtigen bunten Bildern zu offenbaren", sondern weil er "nützen, lehren, unmittelbar wirken" wolle (RA I 131). Damit verstößt er gegen das Symbolismus-Programm: "Le but essentiel de notre art est d'objectiver le subjectif (l'extériosation de l'Idée) au lieu de subjectiver l'objectif (la nature vue à travers un tempérament) [also Zolas Naturalismus. U.R.]." Gustave Kahn im Evénement vom 28.9.1886; zitiert nach [Paul Adam]: Symbolistes et Décadents. Hg. von Michael Pakenham. Exeter 1989, S. 6.

[5] "Daher", so Hofmannsthal in zeittypischer antinaturalistischer Polemik weiter, ist "der photographierte Dialog so falsch wie in ein Bild eingesetzte Edelsteine." (Ebd.)

[6] C. Plinius Secundus d.Ä.: Naturkunde. Lat.-dt. Buch XXXV. Farben, Malerei, Plastik. Hg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. 2.überarb. Aufl. Darmstadt 1997, S. 23.

[7] In einem späteren Brief an seine zukünftige Frau stellt Hofmannsthal sein eigenes - sichereres - 'Laien'urteil gegen das des 'Experten' Hermann Bahr: "Der Bahr hat das Feuilleton über die Medicin vom Klimt noch nicht geschrieben. Wenn ich den Bahr über Malerei reden hör, denk ich mir immer, entweder muß er keine Augen im Kopf haben oder ich, ich glaube eher daß er keine hat, erstens ist mir dieser Glaube angenehmer und dann gefallen mir doch die alten Meister so unaussprechlich gut, und gewisse andre Sachen, wie Manet oder Degas, während er glaub ich keinen so ganz unmittelbaren, überzeugenden Eindruck von irgendetwas hat, sonst könnte er auch nicht unter seinen Einrichtungssachen manches so unglaublich ordinär-häßliche aushalten." (Frühjahr 1901; Deutsches Literaturarchiv Marbach, zukünftig DLA).

[8] Rilke wird diesen Blick auf die Phänome das ”Neue Sehen” nennen, was er bei Cézanne und van Gogh bereits umgesetzt fand.

[9] Vgl. dazu die Inventar-Listen unter dem Stichwort "Antiquitäten etc.", die Hofmannsthal nach dem Tod des Vaters über den Ankauf und Verkauf von Kunstwerken anlegt, darunter als teuerste Posten zwei Bilder von Daffinger und die - gefälschten - Sonnenblumen von van Gogh (FDH/HvH-Nachlaß; Abb. 2a und 2b).

[10] Das Maria-Theresien-Schlössl in der Ketzergasse 471 im heuti­gen 23. Wiener Bezirk wurde um 1724 vom Fürsten Trautson erbaut und später von Maria Theresia für ihre Erzieherin Gräfin Caroli­ne Fuchs-Molladt gekauft.

[11] Mit Hofmannsthals Rezeption bildender Kunst hat sich am bisher eingehendsten Carlpeter Braeggers Dissertation Das Visuelle und das Plastische. Hugo von Hofmannsthal und die bildende Kunst, Bern/München 1979 beschäftigt (dort auch ausführliche Bibliographie). Braegger hat in einer Reihe von Artikeln und Aufsätzen dieses Thema weiter verfolgt (vgl. zuletzt ders.: Dem Nichts ein Gesicht geben. Hofmannsthal und die künstlerische Avantgarde. In: HJb 3, 1995, S. 319-362). In Waltraud Wiethölters Habilitationsschrift Hofmannsthal oder Die Geometrie des Subjekts geht es gemäß dem Untertitel Psychostrukturelle und ikonographische Studien zum Prosawerk (Tübingen 1990) vornehmlich um Strukturanalogien.

[12] Die Malerei in Wien (1893), Internationale Kunst-Ausstellung (1894), Über moderne englische Malerei (1894), Ausstellung der Münchener >Sezession< (1894), Theodor von Hörmann (1895). Rezensionen: Bierbaums Stuck-Monographie, Richard Muthers Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert (1893); alle in RA I.

[13] Auch als Leser oder kollegialer Berater (etwa Hermanns Bahrs bei seinen ständigen literarisch-dramatischen Ausstattungsproblemen) interessiert sich Hofmannsthal für Interieur und optisch wirksame Präsentation. Vgl. dazu den weitgehend noch unpublizierten Briefwechsel Hofmannsthals mit Hermann Bahr in der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Wien .

[14] Felix Poppenberg: Hugo von Hofmannsthal. In: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 10, 1899, S. 64-77. Das sich von Baudelaire (vgl. u. S. 235f., Anm. 107) fortschreibende Eingangszitat - recte: "daß Poesie und Malerei sich gegeneinander neigen" - stammt aus Hofmannsthals Aufsatz Francis Vielé-Griffins Gedichte (1895) und bezieht sich dort auf Swinburne und seine Nachahmer (RA I 204). Auch Richard M. Meyer, in der ersten umfassenden Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, sieht diese Affinität: "Hofmannsthal erscheinen die Dinge als Basreliefs, wie in der sehr schönen Idylle, oder als Gemälde, wie in seinem berauschend schönen Tod des Tizian. Seine Phantasie ist von den bildenden Künsten stärker [als die Georges. U.R.] geschult, vielleicht auch etwas gebunden. Er reflektiert auch mehr, greift bewußt zum Symbol und schafft sein Schönstes, wo ein tief andeutender Sinn seiner Dichtung gleichsam die dritte Dimension verleiht. Stefan George hätte die Ballade des äußeren Lebens nicht dichten können, die das Märchenspiel des alltäglichen Lebens so tiefsinnig zu einem Fries spielender Putten stilisierter Ornamente formt." Ders.: Die deutsche Litteratur des Neunzehnten Jahrhunderts. Berlin 1900 (Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung. III). S. 926.

 

[15] Alfred Freiherr von Berger: Hugo von Hofmannsthal. In: Ders.: Buch der Heimat. Bd. 2. Berlin o.J. S. 287-305, 295. Was diesem als Gewinn erschien, war dem Naturalisten Ludwig Fulda ein Dorn im Auge: "Wenn Lessing heute wiederkäme [...], würde er sich genöthigt sehen, einen neuen Laokoon zu schreiben oder gleich mehrere. Denn es ist wirklich so, als wenn dies klassische Beispiel ästhetischer Grenzbestimmung in unserer Literatur gar nicht vorhanden wäre. Die Machtbezirke der einzelnen Künste sind wiederum in ein unentwirrbares Durcheinander gerathen und ein verwegenes Häuflein kritischer Insurgenten unternimmt straflos seine thatenfrohen Raubzüge von dem einen reichsunmittelbaren Gebiet ins andere." Ders.: Moral und Kunst. In: Freie Bühne für modernes Leben 1, 1890, S. 5-9, 5.

[16] Die neuere Literaturtheorie hat solche, nach Gérard Genette 'transtextuelle' Verfahren inzwischen systematisiert.  Ders.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a.M. 1993, S. 9-17; vgl. unten S. 47f., Anm. 80.

[17] Hermann Ubell: Die Blätter für die Kunst. In: Die Zeit 19, 1899, S. 122-124, 124 (zit. nach Das junge Wien. Hg. von Gotthart Wunberg. Bd. II. Tübingen 1976, S. 998f.). Die Korrespondenz Hofmannsthals mit Ubell ist bedauerlicherweise  verstreut und nur noch lückenhaft erhalten.

[18] Elena Esposito: Code und Form. In: Systemtheorie Literatur. Hg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. München 1996, S.56-81, 66.

[19] Vgl. dazu Nietzsches prägnante Begriffskritik in seiner 1903 veröffentlichten Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne: "jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d.h. strenggenommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. [...] Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff [...]". (entstanden 1873; KSA I 880f.)

[20] Die Behauptung von Jens Malte Fischer, in der österreichischen Literatur der Jahrhundert­wen­de habe es nur eine abgeschwächte Nietzsche-Rezeption gegeben, widerlegt meine Arbeit vielfach (ders.: Fin de siècle. Kommentar zu einer Epoche. München 1978, S. 39). S. auch Aldo Venturelli: Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien. In: Nietzsche-Studien 1984, S. 448-480, hier 468, der ebenfalls Fischer widerspricht und, auf der Grundlage von William J. McGrath: Dionysian Art and Populist Politics in Austria. New Haven/London 1974, selbst weitere Argumente bringt.

[21] Unter dem Stichwort "Synchronismus" spürt Hofmannsthal beispielsweise den sich überlappenden Phänomenen und vielschichtigen symbolischen Bezügen in der bildenden Kunst nach. Dabei geht es ihm wie meist weniger um historiographische als vielmehr um strukturelle und kulturanthropologische Fragen. (HvH-Nachlaß, FDH).

[22] Nur wenige Jahre später wird mit der gleichen Stoßrichtung Benedetto Croce die Kunstkritik von dem theoretischen und philosophischen Argumentationszwang freisprechen. Ders.: Grundriß der Ästhetik. Leipzig 1913, S. 84.

[23] Gerhard Neumann: Wahrnehmungswandel um 1900. Harry Graf Kessler als Diarist. In: Harry Graf Kessler: Ein Wegbereiter der Moderne. Hg. von Gerhard Neumann und Günter Schnitzler. Freiburg 1997 (Reihe Litterae. 37), S. 47-108, 49f.

[24] Über Swinburne heißt es beispielsweise: "seine Gedichte oft wie gestellte Bilder / Beschreibung eines Triumphes (Makart Carl V) oder eines allegorischen Bildes" (HvH-Nachlaß E V A 145.4); "der psychologische Vorgang ist in eine Allegorie übersetzt, in eine so plastische, so malbare, so stilisierte Allegorie, daß sie aussieht wie ein wirkliches Gemälde des fünfzehnten Jahrhunderts." (RA I 147)

[25] So die glückliche Wendung von Gerhard Neumann: ”Kunst des Nicht-lesens”. Hofmannsthals Ästhetik des Flüchtigen. In: HJb 4, 1996, S. 227-260.

[26] Diese Notiz aus dem Nachlaß (H VII 17.5b) steht im Kontext von Richard Muthers Geschichte der Malerei. - Vgl. auch Stefan Georges Begründung für die Rückkehr ins symbolistische Paris 1892: "vorläufig aber lockt mich Paris. Ich gedeihe nicht unter [...] jenen zeitungsschreibern ohne jedes musikalische oder malerische interesse. Dort aber leben dichter, die wahre künstler zugleich sind." Zit. nach H.-J. Seekamp u.a.: Stefan George. Leben und Werk. Eine Zeittafel. Amsterdam 1972, S. 25.

[27] Vgl. dazu SW I 199-208 und allgemein Mara Reissberger: Zum Problem künstlerischer Selbstdarstellung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Die Lebenden Bilder. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Hg. von Herbert Zeman. Graz 1982, S.741-830.

[28] Dies gerät erst allmählich in den Blick der Forschung; für den Rosenkavalier vgl. Mary E. Gilbert: Painter and Poet: Hogarth's Marriage à la mode and Hofmannsthal's Der Rosenkavalier. In: Modern Language Review 64, 1969, S.818-827; für die Josephslegende hat G. Bärbel Schmid auf die Bedeu­tung Veroneses hingewiesen, für Leda und der Schwan auf die Correggios (dies.: Psycholo­gische Umdeutung biblischer Archetypen im Geiste des Fin de Siècle. Zur Entstehung der Josephslegende. In: HB 35/36, 1987, 105-113, und dies.: Hugo von Hofmannsthals Entwürfe zu einem "dreitheiligen Spiegel": Leda und der Schwan. In: HJb 2, 1994, S. 139-156). - Der Begriff der 'Refiguration', den Paul Ricoeur für das Verhältnis von Geschichte und Erzählung benutzt, scheint mir gut geeignet, die Form der Intermedialität in Hofmannsthals Texten zu charakterisieren. Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. III: Die erzählte Zeit. München 1991 (Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. 18/III), S. 160.

[29] Von anderen nonverbalen Medien, der Musik, dem Tanz oder der Pantomime, handelt diese Arbeit in bewußter Beschränkung auf ihr engeres Thema nicht, obwohl sich an vielen Stellen fruchtbare Bezüge hätten herstellen lassen. Auch der für mein Thema wichtige Komplex der Bühnenästhetik kann hier nur rudimentär zur Sprache kommen und soll einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben.

[30] SW II 527. Im Zusammenhang seines Alkestis-Dramas schreibt er im Februar 1894 an Elsa (Bruckmann-)Cantacuzène, daß er das Stück "gern recht lebendig machen" möchte; es solle "ungefähr so" aussehen, "wie griechische Mosaikarbeit von Stuck nachgemacht." (HvH-Nachl./FDH; vgl. SW VII Dramen 5, 205).

[31] Vgl. B I 206.

[32] Plumpe sieht im Ästhetizismus und in der Formel des l’art pour l'art, die im Kreis um Madame de Staël geprägt wurde, eine Fortschreibung der Kantschen Autonomieästhetik. Gemeinsam sei den ästhetizistischen europäischen Strömungen, daß sie eine Gegenbewegung zum Realismus darstellten. Wenn Plumpe behauptet, daß Hofmannsthal erst "seit etwa 1900" Kritik übe an der Konzeption einer literarischen Sprache, "die in ihrer Selbstreferenz verharren will und jede Bezeichnungs-, Informations- oder Verständigungsfunktion abweist", so verkennt er das kritische Potential des Frühwerks. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 138-176, 169.

[33] Plumpe: Epochen, S. 169.

[34] Von einer literaturpsychologischen Warte aus hat schon Wolfram Mauser einer solchen Zweiteilung des Werkes widersprochen; ders.: Hugo von Hofmannsthal. Konfliktbewältigung und Werkstruktur. Eine psycho-soziologische Interpretation. München 1977, S. 117ff.

[35] So auch mündlich gegenüber Hermann Bahr: "Hugo bei mir. Gespräch über die Kraftlosigkeit der Worte und das Unvermögen des Menschen, sich durch Worte einem anderen mitzuteilen" (12.3.1902; Hermann Bahr: Prophet der Moderne. Tagebücher 1888-1904. Wien, Graz, Köln 1987, S.111).

[36] Eine Monographie; 1895, in: RA I 479. Ein Pennälerbrief des sechzehnjährigen Hofmannsthal an Gustav Schwarzkopf zeigt, daß dieses Problem von Anfang an seine literarische Arbeit grundiert: "[...] hübsch von Ihnen war es gerade auch nicht, mich vor die Alternative zu stellen, entweder bewusste Schriftstellerei, also tranchons le mot, Lüge, L - ü - g - e, in einem freundschaftlichen Brief geübt zu haben, oder mein liebstes Steckenpferd fin de siecle aufzugeben. [...] H.v.H. wirklicher Zeitgenosse des endenden XIX Jahrh." (10. August [1890]; HvH-Nachlaß, FDH) - Den Zusammenhang von nietzscheanisch grundierter Sprachskepsis, wie er sich im hier zitierten Mitterwurzer-Essay äußert, und Kunstmythos sieht auch Michael Worbs: Wissenschaft und Literatur im Fin de siècle. In: Sprache im technischen Zeitalter 68, 1978, S. 302-316, 311-313.

[37] Nach der Jahrhundertwende wird Hofmannsthal einen Dichter-Mythos formulieren, der diesem Züge einer 'magischen Festplatte' verleiht: eines unendlichen Speichers,  in dem die Dinge der Welt so konvertiert werden, daß sie harmonisieren, d.h. ihre dissoziative Energie verlieren: "Er [der Dichter. U.R.] kann ja an keinem noch so unscheinbaren Ding vorüber: [...] die Myriaden solcher Tatsachen aus allen Ordnungen der Dinge sind für ihn immer irgendwie da. [...] Er darf nichts von sich ablehnen. Er ist der Ort, an dem die Kräfte der Zeit einander auszugleichen verlangen. [...] Es ist nicht, daß er unaufhörlich an alle Dinge der Welt dächte. Aber sie denken an ihn. [...] Seine Schmerzen sind innere Konstellationen, Konfigurationen der Dinge, die er nicht die Kraft hat, zu entziffern. Sein unaufhörliches Tun ist ein Suchen von Harmonien [...] In seinen höchsten Stunden braucht er nur zusammenzustellen, und was er nebeneinanderstellt wird harmonisch." (RA I 72) Diesem Tun steht der "photographierte Dialog" gegenüber, der "so falsch [ist] wie in ein Bild eingesetzte Edelsteine." (RA III 400)

[38] Vgl. dazu die entsprechenden Texte von Bourget und Nietzsche (s.u. S. 40, Anm. 64).

[39] Unzeitgemäße Betrachtung IV; KSA I 455. - Am Jahrhundertende wird in dieses Klagelied zum Chorgesang aller kritischen Geister: "Wir leben heute im Zeitalter des Schlagwortes. Vielleicht noch nie ist es so sehr Brauch gewesen, complicierte Erscheinungen mit einem Wort abzuthun, hinter dem häufig nicht einmal ein concreter Begriff steckt, als gerade heute. Durch diese Schlagwortmanie wird die Discussion ungemein gestört, manchmal geradezu unmöglich gemacht. Man versteht sich garnicht mehr, man will sich nicht verstehen. Man wirft ein sauber blank poliertes Schlagwort dem Gegner gleich einem Schild entgegen, daran sich dieser das Schwert schartig schlagen mag, und gefällt sich selbst in solch nutz- und ergebnislosen Scheingefechten. So bedauerlich diese Erscheinung sein mag, so erklärlich ist sie. Das Gebiet des allgemeinen Wissens hat heute so ungeheure Dimensionen angenommen, seine einzelnen Zweige haben sich dabei so unendlich zerfasert und spezialisiert, der ganze gegliederte Organismus des geistigen Lebens der Gesellschaft ist ein derartig complicierter, für die individuelle Intelligenz nicht entwirrbarer Knäuel geworden, daß man es dieser Einzelintelligenz nicht allzusehr verübeln darf, wenn sie in ihrer Hilflosigkeit Mittel sucht und Wege einschlägt, diesen gordischen Knoten zu lösen." Heinrich Ströbel: Litteratur-Psychiatrie. In: Freie Bühne 4, 1893, S. 421-428, 421.

[40] Während es mir vornehmlich um die Frage nach dem Transfer der ästhetischen Codes zu tun ist, fokussiert Ethel Matala de Mazza: Dichtung als Schau-Spiel. Zur Poetologie des jungen Hugo von Hofmannsthal. Frankfurt a.M. 1995 (Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland. 23), die aus den beschriebenen Phänomenen resultierende neue Erfahrung des Körpers, der, vermittelt über die bildende Kunst, als Quelle des Schöpferischen aufgewertet wird: "Es ist der Blick auf die imaginäre Welt der bildenden Kunst, der an die Stelle der in ihrem Nachsprechen von bereits Gesagtem [...] längst selbstreferentiell gewordenen symbolischen Ordnung der Begriffskultur tritt und dabei aus dem sinnlichen Erleben des Schauens eine dem eigenen Körper innewohnende schöpferische Potenz freisetzt" (S. 15). - Nicht zufällig steht das von Hofmannsthal rezensierte Buch von Eugen Guglia: Friedrich Mitterwurzer. Wien 1896, im Dienste eines neuen Schauspieler-Codes, der den Zeichencharakter der Körpersprache aufwertet. So lautet das übergeordnete Motto des Buches "Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein", das Motto des Hauptteiles: "'I fatti, sempre i fatti! I fatti non sono nulla, non significano nulla. C'è qualche cosa al mondo...che vale assai più.' (Gabriele D'Annunzio)" (Titelblatt und S.1).

[41] Vgl. hierzu Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden/Basel 1996, und die neuere Literatur zum Thema ‘Blick‘, die Barbara Duden und Ivan Illich  diskutieren; dies.: Die skopische Vergangenheit Europas und die Ethik der Opsis. Plädoyer für eine Geschichte des Blickes und des Blickens. In: Historische Anthropologie 3, 1995, S. 203-221; vgl. schließlich den von Christian Kravagna herausgegebenen Band Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur (Berlin 1997).

[42] Der Begriff wurde populär durch den von Richard Rorty herausgegebenen Band The Lingusitic Turn. Recent Essays in Philosophical Method (Chicago/London 1967). Er geht auf einen Aufsatz Gustav Bergmanns aus dem Jahre 1953 zurück.

[43] Was wollen Bilder? W. J. Thomas Mitchell im Gespräch mit Georg Schöllhammer. In: Springerin. Hefte für Gegenwartskunst 4, Heft 2: Bildbegriffe – Bildproduktion, Wien 1998, S. 18-21, 18.  Vgl. auch W.J.T. Mitchell: The Picorial Turn. In: Privileg Blick, S. 15-40, und Mitchells grundlegenden Band Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago/London 1994. Nach Mitchells Picture Theory ist die Positionierung von Bildern in einem “complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality“ (S. 16) Merkmal eines pictorial turn.

[44] "[U]nsere Zeit [ist] die Zeit der wissenschaftlichen Handbücher, der Reallexika und der unzählbaren Zeitschriften", schreibt Hofmannsthal in seinem Vortrag Der Dichter und diese Zeit: "Ich sehe beinahe als die Geste unserer Zeit den Menschen mit dem Buch in der Hand, wie der kniende Mensch mit gefalteten Händen die Geste einer anderen Zeit war. [...] Ich rede von denen, die je nach der verschiedenen Stufe ihrer Kenntnisse ganz verschiedene Bücher lesen, ohne bestimmten Plan, unaufhörlich wechselnd, selten in einem Buch lang ausruhend, getrieben von einer unausgesetzten, nie recht gestillten Sehnsucht. [...] Es ist der Mann der Wissenschaft, der diese Sehnsucht zu stillen vermag, oder für neunzig auf hundert von ihnen der Journalist. [...] es sind seichte, für den Moment beruhigende Aufschlüsse, es sind Zusammenstellungen realer Fakten, es sind faßliche und zum Schein neue 'Wahrheiten', es ist die rohe Materie des Daseins." (RA I 61f.)

[45] Hofmannsthal 1906, zit. nach Rudolf Hirsch: Ein Brief des Lord Chandos. In: Ders.: Beiträge zum Verständnis Hugo von Hofmannsthals. Frankfurt a.M. 1995, S. 50. - Diese Klagen sind schon in den frühen Tagebuchnotizen notorisch: "Im Cafféehaus den ersten Theil von Ferdinand Lassalles Tagebuch gelesen. Er war damals ungefähr so alt wie ich jetzt. Aber welche Ouvertüre zu einem thätigen Leben in diesen Blättern; welche naive Lust am Beobachten einzelner Menschen und seiner selbst, welche frische Eitelkeit gegen die blasse, zerfaserte Reflexion in den Tagebüchern Amiels oder der Baschkirtsew oder in meinem eigenen. Ich beneide ihn eigentlich." (25.4.1891; H VII 17.71 R) 

[46] Vgl. dazu Paul Bourgets vielzitierten Baudelaire-Aufsatz in der Psychologie contemporaine (Paris 1883; zuerst in der Nouvelle Revue, Nov. 1881, S. 412f.): “Das Individuum ist die Zelle der Gesellschaft. [...] Wird die Energie der Zellen unabhängig, ordnen die Organismen, die den Gesamtorganismus bilden, ihre Energie der Gesamtenergie ebenfalls nicht mehr unter, und die entstehende Anarchie führt zur Dekadenz des Ganzen.” (Herv. U.R.)  

[47] Hermann Helferich: Die Ideen und die Gelehrten. In: Freie Bühne für modernes Leben 1, 1890, S. 385-390, 390.

[48] Für Desiderio etwa im Tod des Tizian ist Tizian "der Dinge Bändiger" (SW III 47), d.h. derjenige, der dem Chaos apollinisch Form gibt.

[49] Thema wie Problem finden sich schon bei Goethe; mit derselben Midasreferenz wie bei Hofmannsthal etwa im hundertsten Venetianischen Epigramm, ebenso in den Römischen Elegien.

[50] Noch Hofmannsthals Chandos-Brief setzt die Metapher des “Verstopfens” gegen das Ideal frei fließender Kommunikation: “Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen, belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann [...]” (E 462).

[51] Vgl. das immer noch zu wenig beachtete, gleichsam soziopsychologische Mikrogramm dazu, Hofmannsthals Age of Innocence (E 19-29).

[52] Im Deutschen haben Zeichen und Zeigen eine gemeinsame Wurzel, lat. signum meint etwas Visuelles, und griech. séma bedeutet 'sehen', 'schauen'.

[53] Anspielung auf Maeterlincks Einakter L'Intruse von 1890, in dem der Tod sich im Zeichen der ausgehenden Lampe ankündigt; in. ders.: Drei Alltagsdramen. Deutsch von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. 2. Aufl. Leipzig 1904, S. 22. Zu Hofmannsthal und Maeterlinck s.u. S. 60, Anm. 12.

[54] Maurice Barrès: Le jardin de Berénice (1891).

[55] Nach Umberto Eco gibt es ”kein vorhergehendes Wissen [...], das nicht schon in semantische Felder von kulturellen Einheiten und folglich in Wertsysteme strukturiert wäre”. Ders.: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M. 1977, S. 168.

[56] Vgl. dazu RA III 400; s.o. S. 12, Anm. 5.

[57] Vgl. dazu einen der Grundtexte zur ästhetischen Moderne, Baudelaires Le peintre de la vie moderne von 1863 (in: Charles Baudelaire: Sämtliche Werke in acht Bänden. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zsarb. mit Wolfgang Drost. München/Wien 1989. Bd. V 213ff.). – Der Begriff der ‘Moderne’, wie er im vorliegenden Buch benutzt wird, ist zum einen Selbstzitat der zeitgenössischen Künstler, die sich von Realismus und Historismus abzugrenzen suchen, zum anderen die Kurzformel für einen Befund, der sich als Krise der Wahrnehmung, der Zeichen und des Ich im ausgehenden 19. Jahrhundert allerorten manifestiert, aber sich schon seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts formiert.

[58] SW XXXI 90; hier klingen Goethes, "den Originalen" gewidmeten Altersreflexionen nach: "Ein Quidam sagt: 'Ich bin von keiner Schule! / Kein Meister lebt, mit dem ich buhle; / Auch bin ich weit davon entfernt, / Daß ich von Toten was gelernt.' - / Das heißt, wenn ich ihn recht verstand: / Ich bin ein Narr auf eigne Hand." (HA I 318)

[59] "Das Auge verrichtet immer schon alt und weise sein Werk, es ist immer ein Auge, das von seiner eigenen Vergangenheit [...] beherrscht wird. [...] Es wählt aus, weist ab, organisiert, unterscheidet, assoziiert, klassifiziert, analysiert, konstruiert [...]. Nichts wird bloß oder entblößt gesehen." Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Systemtheorie. Frankfurt a.M. 1973, S. 19. Zeichentheoretisch gesprochen heißt das, daß nichts ohne Code wahrgenommen werden kann, mindestens aber ist Wahrnehmung ikonischer Natur. Vgl. dazu jetzt Umberto Eco: Kant und das Schnabeltier (ital. 1997). München/Wien 2000, S. 386.

[60] RA III 360. Octave Mirbeau feierte Maeterlinck anläßlich seiner Princesse Maleine im Figaro als “belgischen Shakespeare” (24.8.1890); vgl. Arthur Symons: The Symbolist Movement (1899). London 1908, S. 190 und Otto Brahm: La Princesse Maleine. In: Freie Bühne 2, 1891, S. 383-386, 384. Maeterlink selbst: “Quand j’ai écrit La Princesse Maleine, je m’étais dit: ’Je vais tâcher de faire une pièce à la faςon de Shakespeare, pour un théâtre de Marionettes.’ » Zit. nach Huret: Enquête sur l’évolution littéraire, S. 158.- Der französische Dichter Maurice Bouchor (1855-1929) verwandelte seine Übertragungen aus dem Altfranzösischen, Englischen (Shakespeare) u.a. häufig in Puppenspiele; Puppen wollte auch Maeterlinck als Darsteller, und Hofmannsthal spielt in seinen frühen Stücken ebenfalls mit dieser Idee.

[61] Das Epigonalitätsproblem metaphorisiert Hofmannsthal noch einmal ähnlich: "Wir wohnen in ausgehöhlten starren Kunstformen wie die Borkenkäfer in der Rinde." (HvH-Nachlaß/FDH,  HVB 10.95)Auf die Ebene der Warenwelt übertragen stellt Benjamin fest, "daß im neunzehnten Jahrhundert die Zahl der 'ausgehöhlten' Dinge in vorher unbekanntem Maß und Tempo zunimmt, da der technische Fortschritt immer neue Gebrauchsgegenstände außer Kurs setzt." Adorno hatte Benjamin gegenüber behauptet: "Indem an Dingen ihr Gebrauchswert abstirbt, werden die entfremdeten ausgehöhlt und ziehen als Chiffren Bedeutungen herbei. Ihrer bemächtigt sich die Subjektivität, indem sie Intentionen von Wunsch und Angst in sie einlegt. Dadurch daß die abgeschiednen Dinge als Bilder der subjektiven Intentionen einstehen, präsentieren diese sich als urvergangne und ewige." Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Frankfurt a.M. 1983, S. 582.

[62] Vgl. dazu Hofmannsthals  Essay Bildlicher Ausdruck (1897, in: RA I 234).

[63] Hans-Georg Soeffner faßt das komplexe Phänomen des panoramatischen Blicks – den man als Metapher für den über das ,Sehen‘ gestifteten Gestus der Selbstermächtigung im 19. Jahrhundert  bezeichnen könnte - so zusammen: Bei der Allsicht des Panoramas ”entsteht ein merkwürdiger [...] Effekt: Der Betrachter sieht sich weder dem Bild gegenüber, noch ist er wirklich, wie das Panorama suggeriert, ,mitten darin‘. Er verliert seinen ,festen Standort‘ nicht nur dadurch, daß er sich um die eigene Achse drehen muß, sondern auch dadurch, daß er die ihm dargebotene Bildwelt weder von außen noch von innen heraus wahrnimmt: Die Bildwelt umhüllt ihn, ohne daß er in ihr eine Position einnähme.” Ders.: Sich verlieren im Rundblick – Die ”Panoramakunst” als Vorstufe zum medialen Panoramamosaik der Gegenwart. Mskrpt. zur Tagung Audiovisualität vor und nach Gutenberg im Kunsthistorischen Museum Wien; Nov. 1998, S. 4 (erscheint im Skira-Verlag).

[64] Bourget spricht in seinem Baudelaire-Aufsatz in der Psychologie contemporaine (zuerst in der Nouvelle Revue, Nov. 1881)  von einem “Stil der Dekadenz [...], wo die Einheit des Buches sich auflöst, um der Unabhängikeit der Seite Platz zu machen, wo die Seite sich auflöst, um der Unabhängikeit des Satzes Platz zu machen, und der Satz, um der Unabhängigkeit des Wortes Platz zu machen” (S. 412f.) – eine Reihe, die, analog zu Machs Atomisierung des Ich,  zwangsläufig bei der Atomisierung der Zeichen ankommen muß. Nietzsches Echo darauf findet sich im Fall Wagner: “Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. [...] jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, `Freiheit des Individuums` [....] Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.” Nietzsche: Der Fall Wagner (1888). KSA VI 27. Hofmannsthal seinerseits greift diese Zeitkritik in seinen frühen Essays auf.

[65] Dieser Zusammenhang wird jetzt erstmals grundlegend von Jonathan Crary: Suspension of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture. Cambridge/London 1999, analysiert (vgl. bes. das Kapitel Reinventing Synthesis). Dieser Band war mir bedauerlicherweise erst während der Drucklegung meiner Arbeit zugänglich.

[66] Vgl. Baudelaires späten Delacroix-Nachruf,  in dem er es als ”Kennzeichen des geistigen Zustandes” seiner  Zeit ansieht, ”daß die Künste danach trachten, wenn sie einander schon nicht ergänzen, sich doch zumindest gegenseitig neue Kräfte verleihen." (Ders.: Sämtliche Werke VII 271). Der literaturwissenschaftliche Begriff des Symbolismus ist schillernd. Zum einen wird er aus den zeitgenössischen Programmen konstruiert, wie dem Symbolistischen Manifest von Moréas (1886), der sich im Gefolge Verlaines und Mallarmés gegen falsche Emotionalität ebenso wendet wie gegen naturalistische Abbildungstheoreme. Zum anderen bezeichnet er die literarischen Texte um die gemeinhin als Hauptvertreter kanonisierten Dichter Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud, Verlaine; schließlich  bezeichnet er die gesamte antinaturalistische Moderne, für die beispielsweise in Wien Hermann Bahr seit seiner Parisreise 1889 eintrat (vgl. seinen programmatischen Text Symbolisten von 1891). Bernhard Böschenstein, der diese Typologie des Symbolismus erstellt hat, lehnt insbesondere letztere, weite Bestimmung für Hofmannsthal ab, weil sie beinahe für die gesamte Kunst des Fin de siècle gelte und Differenzen nicht profiliere, sondern verwische: "Denn nun rücken die unterschiedlichsten Privatmythologien, die idealisierenden Erotologien wie auch die stilisierende Reproduktion aus den ästhetischen Musées imaginaires, dem antiken, dem gotischen, dem renaissancehaften, aber auch dem fernöstlichen, zu einer bald mehr surrealen, magisch-phantastischen, bald mehr abstrahierend-ornamentalen Aussage zusammen. Unter diesem Gesichtswinkel wäre der größte Teil von Hofmannsthals Frühwerk symbolistisch, aber der so verstandene Terminus vermag Hofmannsthals individuelle Brechung dieser Thematik nicht einzufangen." Nach Böschenstein ist seine Rezeption des französischen Symbolismus durch die Georges gefiltert (was Hofmannsthals Ambivalenz dem Symbolismus gegenüber erklären würde). Bernhard Böschenstein: Hofmannsthal, George und die französischen Symbolisten. In: Ders.: Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich. Frankfurt a.M. 1977, S. 224-246, 225. - Nach Thomas A. Kovach: Hofmannsthal and Symbolism. Art and Life in the Work of a Modern Poet. Frankfurt/Bern/ New York 1985, hält Hofmannsthal durchgängig an der symbolistischen Ästhetik fest. Für Paul Hoffmann (Symbolismus. München 1987), firmiert der Symbolismus als europäischer Epochenbegriff zwischen Naturalismus und Expressionismus. Hoffmann verschweigt nicht die Differenzen zwischen deutschem und französischem Symbolismus (etwa das Erbe der Romantik und die Bedeutung Nietzsches in der deutschsprachigen Literatur), akzentuiert aber vor allem den Aspekt der kreativen Umsetzung des französischen Symbolismus in der deutschsprachigen Literatur Rilkes und Hofmannsthals. Gerhard Plumpes systemtheoretischer Entwurf zu den Epochen moderner Literatur verhandelt den Begriff nicht, sondern subsumiert alle gegenrealistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff des Ästhetizismus (vgl. o. S. 27, Anm. 32).

[67] Vgl. dazu Friedrich Nietzsches Ausgangsthese in der Geburt der Tragödie: "Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst" (KSA I 26).

[68] Anders als Dirk Niefanger: Produktiver Historis­mus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Tübingen 1993 (Studien zur deutschen Litera­tur. 128), der das Spannungsverhältnis des Fin de siècle zum Historismus eineb­net, interessieren mich (vor dem Hintergrund von Nietzsches Polarisierung im Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben) die antihistoristischen Neuansätze der Wiener Moderne im Signum von Symbolismus und Jugendstil. Gerade die produktive Rezeption bildender Kunst in der Literatur um 1900 zeigt das Bemühen um Auswege aus den positivistisch-historistischen Festschreibungen des 19. Jahrhunderts. - Zur Begriffsklärung s. auch Dieter Groh: Kompensa­tions­modell - Historismusbegriff - Fla­neurtypus. In: Art social und art industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus. Hg. von Helmut Pfeiffer u.a. München 1987, S. 48-52, und die Aufsätze zu Historismus und Ästhetizismus, ebd., S. 17-104.

[69]In diesem Sinne wird er noch 1917 zustimmend in Otto Grautoffs Poussin-Monographie einen Satz anstreichen, der auch sein eigenes poetisches Verfahren charakterisiert: "Aus den alten theoretischen Erörterungen über antike Maler und ihre Schaffensart konnte Poussin immer nur den Geist der eignen Zeit heraushören und wenn er nach des Plinius Angaben dem Aristides von Theben im Darstellen menschlicher Gefühle, seelischer Regungen nacheifern wollte, so gab er doch das Gefühl des Barock und nicht das des Aristides, Timachos oder Polygnot." Otto Grautoff: Nicolas Poussin. Sein Werk und sein Leben. 2 Bde. Leipzig 1914. Bd. 1, S. 362.

[70] Mit ähnlichem Erkenntnisinteresse, aber im naturwissenschaftlichen Paradigma, versuchen eine Reihe von Wissenschaftlern um 1900 diese Trennung einzureißen; vgl. etwa  Sigmund Exners Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen  (I. Theil. Leipzig/Wien 1894). Wegweisend war Helmholtz‘ Frage, wie die Beziehung zwischen internen Vorgängen und Vorgängen in der Außenwelt zu fassen und wie das Außen im Inneren repräsentiert sei, in seinem Handbuch der Physiologischen Optik (1867); s. dazu unten S. 68f., Anm. 25.

[71]Der Begriff in Anspielung auf André Malraux: Das imaginäre Museum (frz. Le musée imagin­aire; 1947). Mit einem Nachwort von Ernesto Grassi. Frankfurt/New York 1987. Vgl. dazu auch Helmut Pfeiffer: Ästhetisches Bewußtsein und imaginäres Museum. Funktionen der Kunst und Wandel des Gesellschaftsbegriffs. In: Art social und art industriel, S. 78-103.

[72] Baudelaire: Sämtliche Werke V, S. 141. - Vgl. auch Karlheinz Barck: Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsge­schich­te zwischen Aufklärung und Moderne. Stuttgart/Weimar 1993 und Dietmar Kamper: Imagination. Reinbek 1994.

[73] Das Erlebnis des Sehens lautet der ursprüngliche Titel von Hofmannsthals Briefen des Zurückge­kehr­ten (1907). Von der "Kultur des Auges", die "Differenzen einübt", spricht Julius Meier-Graefe in seinem für Hofmannsthal wichtigen Buch Impressionisten (München/Leipzig 1907), und so auch Hofmannsthal gegenüber Harry Graf Kessler (BW Kessler 329f). Hofmannsthals Engagement für die Marées-Gesellschaft und seine Unterstützung von Meier-Graefes Projekten steht im Zeichen einer solchen Kultur des Auges. Vgl. dazu den BW Meier-Graefe.

[74] Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M. 1964, S. 87. - So auch, aber relativiert, aus der Perspektive kunstwissenschaftlicher Semiotik Felix Thürlemann: Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft. Köln 1990, S. 7-17. Thürlemann sieht gerade in dieser semiotischen Prämisse eine Chance, methodologisch ein Fundament für die Geisteswissenschaften insgesamt errichten zu können (vgl. S. 14). "Als Text wird jedes in sich geschlossene bedeutungstragende Ganze (Äu­ße­rung) bezeichnet. Je nach Art der semiotischen Substanz kann etwa von einem sprachlichen, bildnerischen oder architekton­i­schen 'Text' gesprochen werden. Die Bestimmung des 'Textes' als autonomer Größe schließt bedeutungstragende Bezüge zu anderen 'Texten' nicht aus. Solche intertextuellen Bezüge setzen vielmehr semiotische Autonomie der dialogisierenden Partner voraus." (S. 189f.)

[75] Vgl. – um nur einige Beispiele zu nennen – die im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten von Jürgen Manthey, Hartmut Böhme, Ralf Konersmann, Wolfgang Schivelbusch, Christoph Asendorf, Heinz Brüggemann, Alain Corbin,  Jonathan Crary, Thomas W. Mitchell, Barbara Maria Stafford und, mit einer Diskussion wichtiger Literatur zum Thema ‘Blick‘, den Aufsatz von  Barbara Duden und Ivan Illich.    

[76] Zum Begriff und zur aktuellen Diskussion s. die entsprechenden Titel im Literaturverzeichnis.

[77] Die Bestimmung des Begriffs "Intertextualität" variiert bei seinen Haupttheoretikern Kristeva, Barthes, Genette und Riffaterre erheblich. Sie teilen jedoch die Auffassung, daß ebenso wie Zeichen nicht notwendig auf einen Referenten in der Wirklichkeit, sondern auf andere Zeichen verweisen, auch Texte, intendiert oder nicht intendiert, beständig auf andere Texte verweisen. Intertextualität generiert somit Bedeutungen und ist ebenso Teil einer unendlichen Semiose wie die Zeichen selbst. - Eine knappe literaturwissenschaftliche Einführung zum Begriff der "Intertextualität" gibt Shamma Schahadat: Intertextualität: Lektüre - Text - Intertext. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hg. von Miltos Pechlivanos u.a. Stuttgart/Weimar 1995, S. 366-377; Überblicke über die Intertextualitätsforschung geben u.a. die Arbeiten von Manfred Pfister, Thais E. Morgan, Renate Lachmann und der von Heinrich F. Plett herausgegebene Band Intertextuality.

[78] Goodman: Sprachen der Kunst. S.19, der sich dabei auf Ernst Gombrich (Art and Illusion. New York 1960, S. 297f.) beruft.

[79] Oskar Walzel: Die wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Deutung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917.

[80] Gérard Genette hat am bisher umfassendsten die verschiedenen transtextuellen Beziehungen systematisiert. Er unterteilt das, was den Text "in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt", in fünf Typen des Text-Text-Bezugs: 1. Intertextualität (d.i. u.a. Zitat, Plagiat, Anspielung, die erst mit Kenntnis des anderen Textes erkannt wird); 2. Paratextualität ( d.i. der Rahmen eines Textes wie Titel, Unter- oder Zwischentitel, Vor- oder Nachworte, Hinweise an den Leser, Motti, Illustrationen, Waschzettel u.a.); 3. Metatextualität (impliziter Kommentar zu einem anderen Text); 4. Hypertextualität (die Ableitung oder Transformation eines Textes aus einem anderen, ohne die der Text gar nicht entstanden sein könnte); 5. Architextualität (d.s. unausgesprochene oder im Paratext ausgesprochene Zugehörigkeiten von Texten zu Gattungen, die die Rezeption steuern). Ders.: Palimpseste, S. 9-17. Die Verfahren der Intermedialität berührt Genette nur am Rande. Sie ließen sich in sein Modell durchaus integrieren, wobei der medienkonstitutiven Differenz Rechnung getragen werden müßte. - In Hofmannsthals Texten werden Bilder (als visueller ästhetischer Code) sowohl auf der Ebene der Intertextualität (z.B. in den Kunstaufsätzen), des Paratextes (z.B. in dem Untertitel der Idylle - nach einem antiken Vasenbild), der Metatextualität (Sommerreise) und der Architextualität (z.B. die Verse zu lebenden Bildern) aufgerufen. - Ich werde im folgenden für alle diese Verfahren den Begriff der (visuellen) Intertextualität (nicht den der "Transtextualität" Genettes) bzw. der Intermedialität verwenden, weil sie sich als literaturwissenschaftliche Termini inzwischen etabliert haben. Es wird aber deutlich werden, welche der von Genette unterschiedenen Ebenen jeweils in den Bild-Text-Beziehungen zum Tragen kommen.

[81] Vgl. das Schema bei W. J. Thomas Mitchell: Was ist ein Bild? In: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik. Hg. von Volker Bohn. Frankfurt 1990, S. 17-68, 20:

 

 

BILD

Ähnlichkeit

Ebenbild

 

 

 

GRAPHISCH

Gemälde

Zeichnungen, etc.

Statuen

Pläne

OPTISCH

Spiegel

Projektionen

PERZEPTUELL

Sinnesdaten

"Formen"

Erscheinungen

GEISTIG

Träume

Erinnerungen

Ideen

Vorstellungsbilder

(Phantasmata)

SPRACHLICH

Metaphern

Beschreibungen

 

[82] Vgl. dazu Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991.